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Der Soldat
Der Soldat trat gerade aus dem Offizierszelt in die dampfende Nacht heraus. Am sehr frühen Morgen hatte doch noch geschneit und was sich vom Schnee gehalten hatte, war nun als bräunlicher Matsch in einigen Ecken zusammengekrochen. Dementsprechend musste er seine Fäuste, in denen er jeweils eine der kostbaren Zigaretten hielt, in seinen Manteltaschen verbergen. Geduckt und mit anhaltendem Missmut lief er durch die Gräben zurück zu seinem Zug. Als er aber um die letzte Biegung der sich windenden und hastig ausgehobenen Schneise kam, erhellte sich seine Laune. In den Augen seiner vier engen Kameraden sah er jenes äußerst seltene Funkeln, welches nur beobachtet werden konnte, wenn sie über die Heimat, über Frauen oder über beides zugleich sprachen. Sie kamen alle aus demselben Wehlau, das unweit von Königsberg liegt und den weißen Hirsch mit goldenem Schaufeln im Wappen trägt. Vor dem Krieg hatten sie sich nicht oder nur flüchtig gekannt, in der Fremde jedoch schnell zusammengefunden. Lauert war der älteste. Er hatte bereits eine Lehre beim Metzger in der Ziegelgasse abgeschlossen und behauptete, dass er bereits mehrmals kurz vorm Obergefreiten gestanden hätte, aber jedes Mal etwas ganz unmöglich Vorherzusehendes dazwischengekommen sei. Neben ihn kniete Lüttewitz, dessen Vater einmal eine recht einflussreiche Stelle im Reichseisenbahnamt innehatte, aber diese wegen der Veruntreuung einiger Gelder verloren hatte. Wäre der junge Lüttewitz einige Jahre früher geboren, hätte er sicher im Heer von dem besagten Einfluss profitieren können. Schließlich waren da noch die Gebrüder Scholz, die scheinbar noch mehr als alle anderen darauf erpicht waren, den Krieg möglichst unbeschädigt zu überstehen um anschließend den immer besser laufenden Holzhandel der Familie zu übernehmen. Sie waren beide wahrlich keine Patrioten.
Wie dem auch sei, hatten sie alle nun das Funkeln und den sehnsüchtig ins Leere gerichteten Blick, was ihnen eine ungewöhnliche Ähnlichkeit verlieh.
Als er näher kam bestätigte sich seine Vermutung, wonach sie über eine Frau sprachen. Er bekam noch mit, wie Lüttewitz einen euphorischen Monolog über ihren Rumpf beendete und dann verstummte als er den Rückkehrer erblickte. Alle warteten nämlich auf die Zigaretten, die vom Offizier Pulach erbettelt werden sollten.
Der Soldat kniete sich in die Mitte des kleinen Kreises und brach den Tabak auf einen mehr oder weniger sauberen Holzscheit und begann dann, ihn in möglichst gleich große Anteile zu zerlegen. Da jegliches Feuer vom Lagerkommandanten, der in seiner sauberen und erleuchteten Hütte saß und bestimmt nicht auf Feuer verzichtete, verboten worden war, musste der Tabak gekaut werden.
Aus dieser bedächtigen Stimmung heraus wagte der Soldat das Gespräch wiederaufzunehmen: „Über wen habt ihr geredet?“
Die alten Geschichten über die braven Liebchen die in der Heimat geduldig warteten, vermochten bei Weitem nicht mehr das Funkeln hervorzubringen, sofern sie überhaupt je dazu in der Lage gewesen waren.
„Sie ist die Schönste der Schönen.“, begann Lauert. „Sie ist groß und berühmt und steht selbstlos für das Vaterland ein.“
Soweit wurde es von vielen Frauen behauptet.
„Du musst sie auch kennen.“, sagte Lauert, „ich selber habe sie einmal in Danzig gesehen. Sie ist noch prächtiger als es alle behaupten. Man muss Sie selbst gesehen haben.“
Er wiederholte den letzten Satz noch einige Male, scheinbar um sich selbst die Wahrhaftigkeit einer unglaubwürdigen Erinnerung zu bestätigen und verfiel dann vollends in diese Erinnerung, mit dem Rücken auf dem feuchten Erdboden und den Augen zum sternlosen Himmel, aber mit einem Anflug von Glück auf seinem gezeichneten Gesicht. Dies hatte im Anbetracht der vorherrschenden Situation schon Einiges zu bedeuten.
Während der Soldat den Träumenden so betrachtete, meinte er noch etwas anderes als das Funkeln zu sehen. Es war so, als mischte sich dem eine merkwürdige Art von Stolz bei. Als wäre dieses Wesen, an das alle dachten, so vollkommen, dass man stolz darauf sein könnte, dass das selbsteigene Vaterland es hervorgebracht hatte.
„Diese Beschreibung wird ihr nicht gerecht.“, wandte der braune Scholz (sein Bruder war blond) merklich aufgebracht ein: „Sie ist mehr als nur äußerlich makellos. Sie ist edel und erhaben. Ihr Anblick saugt einem die Luft aus den Lungen. Die Menschen jubeln, wenn sie erscheint und unseren Feinden zwingt sie Ehrfurcht ab. Man sagt auch, die Franzosen nennen sie „die Entsetzliche“.“
Der Soldat hatte schon von unfassbar schönen Frauen gehört. Er hatte auch schon Photographien in Illustrierten gesehen. Aber die Worte über ihren Mut und Tatdrang beeindruckten ihn.
„Sie macht den Verlorenen in den Gräbern Mut.“, raunte der Bruder nach kurzer Stille andächtig: „Sie kommt bis an die Front und hebt selbst in der verzweifeltsten Lage die Moral. Ich kannte einen der mit ihr in Dänemark war. Nachdem er sie gesehen hatte, sagte er, dass er nie wieder am siegreichen Ausgang dieser Unternehmung gezweifelt hätte.“
Und Lüttewitz fügte mehr zu sich selbst als zu den anderen hinzu: „Amalie, die einzig wahre Freundin des gemeinen Soldaten.“
Mit diesem letzten Satz war es beim Soldaten geschehen. Er wusste, dass er sie selber gesehen haben musste.
Er wusste auch, dass er wie alle hier sterben würde, aber vorher würde er sie gesehen haben. Das war es, was er sich selbst in dieser kalten Frühlingsnacht im Stillen schwor.
Nach Flandern verbrachte der Soldat einige Monate mit Wundbrand und fieberhaften Wahn im Feldlazarett. Auch hierher verfolgte ihn der verheißungsvolle Name, aber in seiner Verfassung konnte er nicht sagen, ob die aufgeschnappte Gesprächsfetzen der Wirklichkeit oder seiner reghaften Fantasie entsprangen. So meinte er beispielsweise gehört zu haben, dass Amalie in Frankreich angekommen wäre, und dass dadurch die beflügelten Männer vielleicht doch noch das Unausweichliche zu verhindern vermochten. Einmal glaubte er auch zu vernehmen, wie die großgewachsene Schwester für alle guten Deutschen, aber insbesondere für Amalie, betete.
Ab dem Tag, von dem er glaubte, dass an ihm Amalie wieder in seinen Kopf gekommen sei, verbesserte sich seine Lage zusehends. Nach nur einigen Wochen, war er, zwar noch in Körper und Geist gebrechlich, in der Lage mit nur einem Stock zu gehen.
An einem schwülen Augusttag, an dem es wohl einen größeren Durchbruch gegeben hatte, und die gesamte Zeltstadt hektisch zusammengepackt wurde, entschied sich der Soldat, dass sein Schwur vor Gott und sich selbst nun wichtiger geworden war, als dieses verlorene Unterfangen. Also machte er sich im anhaltenden Tumult auf und schleppte sich abseits der großen Straßen bis über die Grenze.
Hier begegnete ihm entgegen seinen Erwartungen nicht das Standesgericht.
Vornehmlich weil jeder mehr mit sich selbst und seinen Habseligkeiten, als mit einem kranken und verliebten Soldaten beschäftigt war.
In den großen Lettern einer ausgehängten Zeitung las er, dass sie im Norden war und im Angesicht der Lage Deutschland für immer verlassen werden müsse.
Auf langen Umwegen, aber mit dem Ziel stetig vor Augen, schaffte er es schließlich mit letzter Kraft und entgegen aller Widrigkeiten doch bis nach Hamburg. In der Nacht, alleine auf auf der Promenade, beschloss er sich auf einer Kiste Gummi arabicum auszuruhen.
Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen seine senfgasgeschädigten Lider aufschlagen ließen, sah er sie, die SMS Anna Amalie. Im ersten Augenblick war er verwirrt. Doch dann verstand er. Er verspürte Übermannung. Filigran wie poliertes Silber lag sie dort, und erweckte doch zugleich einen unzerstörbaren, Ehrfurcht erbietenden Eindruck. Die Rohre aus ihren Türmen durchschnitten den Himmel über ihm. Das Geräusch ihrer Kessel erfüllte sein Herz. Die Scham über sich selbst ließ ihn ihren Anblick nicht für längere Zeit ertragen. Doch er war nicht enttäuscht. Kein Wesen aus Fleisch und Blut hätte seinen Erwartungen standgehalten. Glücklich schaute er ihr auf ihrer letzten Fahrt nach Scapa Flow hinterher.