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Der Sohn des Weihnachtsmannes
Paul schlug die Augen auf. Er hörte das unheimliche Klirren, das ihn auch aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war kalt in seinem Zimmer, alle Argumente sprachen dafür, im warmen Bett liegen zu bleiben. Die Luft stach eiskalt in sein Gesicht und sein Atem verpuffte zu hellem weißen Dampf. Am liebsten hätte er sich jetzt einfach wieder in die Decke eingemummelt und wäre sofort wieder eingeschlafen, wäre da nicht die Neugierde gewesen. Neugierde ist eines der Gefühle, die einen Zehnjährigen schon einmal dazu bringen können, gegen die geradezu erdrückende Kälte anzukämpfen und aus dem Bett zu schlüpfen. Und da Paul unbedingt erfahren wollte, was das Geräusch im Erdgeschoss verursacht hatte, schlug er die Decke zurück und stellte sich leise auf den rauen Holzfußboden.
Er glaubt nicht an den Weihnachtsmann. Natürlich nicht, wieso sollte er auch? Jungen in seinem Alter werden deswegen ausgelacht. Mit fünf Jahren ist das etwas Anderes. Da kann man träumen was man will und an alles glauben. Doch nicht mit zehn Jahren! Ich bin mir sicher, er glaubt nicht mehr daran. Ob er gewachsen ist? Hat er immer noch so kurze Haare? Und schläft er immer noch mit dem großen Teddybären im Arm? Ich erinnere mich noch, wie ich den für ihn aussuchte. Es war ein besonderes Geschenk. Allein für ihn. Aber er glaubt nicht an den Weihnachtsmann.
Schritt für Schritt näherte Paul sich seiner Zimmertür, vorsichtig auftretend, damit der Boden nicht knackste. Keinen Fehltritt durfte er sich erlauben, keinen Laut von sich geben. Die Türklinke drückte er völlig lautlos herunter und öffnete die Tür – dankbar, erst vor Kurzem die Scharniere geölt zu haben. Er ließ sie offen stehen und wandte sich nach links. Der Korridor war nicht sehr lang, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als er Fuß vor Fuß setzte, sein Gewicht perfekt verlagerte und darauf achtete die schwachen Stellen des Fußbodens zu verfehlen. Irgendwann gelangte er an die Treppe. Paul wusste, jetzt kam der schwierigste Teil.
Ich habe ihn nie vergessen. Immer haben meine Gedanken ihn begleitet, auch wenn ich ihn nicht oft sehen kann. Nein, überhaupt nicht oft. Ich finde es viel zu selten, am liebsten würde ich jeden Tag in seinem Leben miterleben. Doch das ist leider unmöglich. Ich habe einmal versucht mir vorzustellen, wie es wäre, ein ganz normaler Vater mit einer ganz normalen Arbeit zu sein. Ich habe es nicht geschafft. Und er glaubt nicht mal an den Weihnachtsmann!
Paul hielt sich krampfhaft an dem Geländer fest, am liebsten würde er sein gesamtes Gewicht auf seine Hände stützen, nur damit er so wenig Druck wie möglich auf die Treppe ausübte. Das Holz war in einem schlechten Zustand und es würde jeden Augenblick laut aufschreien, würde er sich zu schwer machen. Warum konnte er nicht fliegen? Er hat sich das oft gewünscht. Aber welcher Wunsch dieser Art geht schon in Erfüllung?
Sie hat mich geliebt, genauso wie ich sie geliebt habe. Ich liebe sie immer noch. Aber was soll ich tun? Natürlich hätte ich sie auf der Stelle heiraten können, das wollte ich auch. Doch als erwachsener Mann muss man den Tatsachen ins Auge blicken. Und die Tatsache ist, dass es für eine Beziehung dieser Art keine Zukunft gibt. Für sie vielleicht, aber bei mir ist das Unmöglich. Ich habe eine große Bürde zu tragen und kann sie nicht einfach so hinschmeißen. Ich darf mich nicht von Gefühlsschwankungen leiten lassen. Tradition ist das Wort, welches sich wie ein blutroter Faden durch mein Leben zieht. Tradition und Ehre. Keine Frau kann dieses Band zerreißen. Auch nicht mit einem Sohn.
Geschafft! Paul blieb eine Weile am Fuße der Treppe stehen, um zu Atem zu kommen. Das aufwändige Hinabsteigen hatte ihn viel Kraft gekostet und er musste sich fast krampfhaft zurückhalten, um nicht zu laut die Luft einzusaugen. Sein Atem ging stoßweise, doch nach ein paar Minuten hatte er sich soweit gefasst, dass er seinen Weg fortsetzen konnte. Es war nicht mehr weit, gleich war er da!
Fast liebevoll streiche ich über den Stoff des Sofas, zufrieden mein Werk betrachtend. Das mit der Vase tut mir leid, da war ich gerade in Gedanken versunken. Ich werde ihr nächstes Jahr eine Neue schenken. Ich weiß nicht, ob ich sie mit Absicht umgestoßen habe, nur, damit er vielleicht aufwacht. Aber ich höre nichts, sein Schlaf ist wohl zu tief. Morgen wird der Raum hell erleuchtet sein, ich würde so manches dafür geben, dabei zu sein. Das würde ich jedes Jahr. Und jedes Jahr weiß ich, dass dieser Wunsch unerfüllbar ist. Seit zehn Jahren weiß ich das. Zehn Jahre sind eine lange Zeit. Und ich sehe ihn nur einmal im Jahr. Das ist verdammt selten. Traurig betrachte ich den Baum, lasse mich von meinen Vorstellungen von einer glücklichen Familie mitreißen.
Paul stand vor der Wohnzimmertür. Von dort kam das Geräusch, dessen war er sich sicher. Er könnte die Tür aufreißen und würde sofort wissen, was die Ursache für das Geräusch gewesen war. Doch was wäre, wenn die Geschichte stimmte? Natürlich, als Zehnjähriger hatte er nicht mehr daran zu glauben, doch insgeheim fände er die Vorstellung gar nicht so schlimm. Sie gefiel ihm sogar sehr gut. Warum sollte man kleinen Kindern ihre Träume zerstören, indem man die Existenz des märchengleichen Mannes mit fleißigen Eltern austauschte? Der Vater seines besten Freundes hatte ihm die angebliche Realität erklärt, doch seine Mutter äußerte sich nicht zu diesem Thema. Ihr Verhalten machte ihm Hoffnung. Hoffnung darauf, seinen größten Traum als Realität sehen zu können.
Er würde mich auslachen. Er, ein Junge, der nicht an den Weihnachtsmann glaubt. Ha, er würde mich niemals ernst nehmen und ich könnte das nicht ertragen. Was soll ich tun? Er ist doch schon zehn Jahre alt! Ich sollte mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Vor allem, weil er nicht aufgewacht ist. Am besten wäre es, wenn ich jetzt einfach so verschwinden würde, wie ich es bis jetzt jedes Jahr getan habe. Es ist schwer, das weiß ich. Ich werde ihn nie vergessen.
Paul schlich die Treppe so leise wie möglich wieder hinauf. Die Zimmertür stand noch immer offen, er schloss sie leise und legte sich ins Bett. Die Decke war eiskalt, er rollte sich wie ein Igel ein und schloss die Augen. Er hatte die Tür nicht geöffnet. Ihm war klar geworden, dass er einen Traum hatte. Einen Traum, den er in den letzten Jahren versuchte zu verdrängen. Heute hätte er dessen Wahrheit beweisen können. Doch er hatte es nicht gemacht, denn dann wäre es kein Traum mehr, sondern nackte Realität. Und zwischen der kalten Realität und dem weichen, schönen Traum zu entscheiden fiel ihm leicht. Mit einer Vorstellung zu leben war viel schöner. Vielleicht wäre er ja enttäuscht gewesen. Vielleicht wäre sein Traum einer Seifenblase gleich zerplatzt. Doch das war nicht geschehen, er hatte beschlossen den Traum zu bewahren. Den Traum vom Weihnachtsmann.
Ich stehe vor dem kleinen Bett, sehe den kleinen Jungen liebevoll an. Er sieht aus wie ein kleiner Engel, ist sehr gewachsen. Den Teddy hält er fest umschlungen. Ich könnte ihn wecken, könnte ihn fest in die Arme drücken und ihm so vieles erzählen! Doch ich lasse es. Warum sollte ich meinen Traum zerstören? Bestimmt glaubt er nicht an den Weihnachtsmann. Oder doch? Ich weiß es nicht. Aber ich werde es immer hoffen.
Ich drücke ein letztes Mal den Bettpfosten, dann drehe ich mich um.
„Frohe Weihnachten, Sohn“ flüstere ich und verlasse das Haus.