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Der Sog der Straße
Am Ende der Straße
Die Stille bereitete mir ein grässliches Unwohlsein, als ich mich tief in Gedanken versenkte. Es waren schon 8, vielleicht 10 Tage her, seitdem ich die letzte Spur von der Menschheit gesehen hatte. Ich stand auf irgendeiner düstern Straße in irgendeiner trüben Stadt, die mir überaus unbekannt war. Die Menschen waren nirgendwo zu sehen, ich hatte aber ein eindringliches Gefühl, dass ich nicht alleine auf der Straße stand. Nicht nur die Stille der Nacht, sondern auch die Feststellung und eigentliche Tatsache, dass ich nach der Apokalypse ein sehr beschwerliches Leben führte, lasteten schwer auf mir. Ich war praktisch Wanderer ohne Wanderlust.
Die Straßenlampen umsäumten die Straßen—so wie zuvor—und die Ampeln schalteten immer noch an und aus, als sollte das einen Zweck dienen; als wäre nichts passiert. Die tristen Straßen vermittelten nicht so stark ein Gefühl wie die unbelebten Bürgersteigen, die keinen einzigen Zeichen zeigten, dass Lebewesen—Menschen und Tiere zugleich—überhaupt einst darauf hin und her liefen. Nur die unbewohnten Häuser und die vertraute Straßenbeleuchtungen ließen sich über die Existenz von der Menschheit wissen. Außerdem war ich völlig allein. Ich dachte jedenfalls, ich wäre allein.
Als ich scheinbar begleitet durch die dunkle Straße weiterlief, bemerkte ich die krummen Leitlinien auf dem Asphalt, die ich aber wegen der Dunkelheit kaum zu betrachten bekam. Ich schaute mich herum, vom Asphalt, über die Häuser, bis zu den Sträuchern. Ich erfuhr Enttäuschung seitens der ehemaligen Einwohner der Welt. Zum einen ließen sie mich im Stich, zum anderen hinterließen sie krumme Leitlinien, ungepflegtes Gebüsch und viel zu wenigen Straßenlampen. Die Straßenlampen waren dermaßen weit aufgespreizt, dass ich nur gelegentlich etwas sah. Um Haltung zu bewahren, fing ich an, die Straßenlampen, die ich langsam vorbeischlenderte, abzuzählen. Ich sehnte mich nach meinem früheren Leben, nach meinem Notebook, vor dem ich den ganzen Tag lang saß und Tabellen für die Bankkunden abtippte und vor allem nach meinem meckernden Chef. Mit ihm könnte ich zumindest eine menschliche Verbindung haben.
Eins, zwei...eine Straßenlampe direkt gegenüber der anderen. Warum sie wohl nicht versetzt wurden ist mir immer noch ein Rätsel. Ich überlegte mir kurz:
Was tun? Hier ist bloß nichts zu entdecken. Was für ein Leben, das von Einsamkeit verzehrt ist! Wo führt das schließlich hin? Ich irre mich herum und zwar ohne Sinn und Zweck. Das bringt nichts. Das lohnt sich nicht...oder doch?
Meine Gedanken wurden von einem Geräusch in den unbeschnittenen Sträuchern unterbrochen. Ich hielte schlagartig und stand einige Sekunde still und bewegungslos. Ich hörte mehr als ein Weilchen aufmerksam zu, aber konnte trotz aller Mühe nichts vernehmen. Die einzigen Geräusche, die ich seit der Apokalypse vernahm, wurden alle vom Wind erzeugt. Also natürlich war ich neugierig.
Ich weiß nicht, wie viele Minuten ich verstreichen ließ, aber als ich wieder zu Bewusstsein kam, bemerkte ich Schmerzen im Bein. Ich musste einen Ort finden, wo ich mich ruhig hinlegen konnte, wovon ich auch und eine Art Nahrung ergattern könnte. Ich setzte mich langsam wieder in Bewegung, Richtung irgendwohin.
Drei, vier...die herbstliche Nacht wurde immer dunkler und ich konnte mich nicht erinnern, ob ich etwas gegessen hatte. Mein Bauch knurrte und mir wurde langsam schwindelig. Schon auf dieser Straße war ich an ein paar Kreuzungen vorbeigelaufen, doch ich verspürte aus irgendwelchem Grund den Drang, länger auf der Straße zu verbleiben. Es war als ob ein Wesen...ein Dasein...mich drängte. Wo es mich führen wollte? Na ja, das wusste ich in jenem Moment noch nicht. Wenn ich nun die Voraussicht gehabt hätte...
Fünf, sechs...es wurde mir bewusst, wie verschwenderisch und selbstsüchtig wir als Menschen gewesen waren. Zahllose Straßenlampen auf einer Straße, zum Beispiel, die ständig während der Nacht aufgeleuchtet sind, auch wenn die meisten Fahrer schon seit Stunden gemütlich in ihren Betten lagen. Die einzigen Menschen auf den Straßen mussten sich mitten in der Nacht etwas Milch vom Laden holen, der rund um die Uhr geöffnet hat, als könnten sie morgens keine Milch kaufen; als würde das ganze Milchversteck gleich am Morgen verschwinden. Au weia, wenn ich jetzt etwas Milch hätte! Auch Sojamilch wäre besser als gar nichts. Aber Milch war damals und ich musste eh nicht über gesellschaftliche Kleinigkeiten grübeln.
Sieben, acht...ich musste eine Entscheidung treffen. Soll ich dem Drang, der Anziehung, nachgeben oder mich eher abbiegen? Nach rechts gab es eine kleine Einbahnstraße ohne Lichter und nach links gab es nur ähnlich angestrichene Häuser. Nein...wäre zu schnell eine Entscheidung gewesen. Ich konnte die Anziehung nicht einfach übersehen und es war halt zu spät, zurückzukehren. Nicht etwa, dass ich irgendwohin zu gehen hatte. Weiter so, bis ans Ende der Straße, entschied ich mich.
Sobald ich die Entscheidung traf, ging ich auch unwissentlich das größte Risiko meines Lebens ein. Das wusste ich aber derzeit nicht. Ich steuerte auf das Ende der Straße zu; wusste aber nicht, was gleichzeitig auf mich zukam oder ob es überhaupt ein Ende gäbe.
Neun, zehn...noch auf dergleichen Straße und immer noch kein Ende in Sicht.
Und wenn ich das Ende finde? Was dann? Was wird nun aus mir werden?
Ich sah noch eine Abbiegung, die ich allerdings wegen der Dunkelheit und meiner Trägheit kaum bemerkte. Ich betrachtete die schwach flimmernden Sterne im Himmel, bevor ich mich ohne ersichtlichen Grund abbog und mich nach einem neuen, aber noch unbekannten Ziel, begab. Vielleicht gäbe es auf dieser Straße ein Ende.
Ich wollte zumindest abbiegen. Ich kam auf den Rand der Straße, wo die zwei Straßen zusammenliefen, und zögerte, voller Ungewissheit. Ich starrte bewegungslos im Schockzustand vor mir, fixiert auf eine entfernte Gestalt. Meine Augen waren weit aufgesperrt und kalte Schaudern überfielen mich. Ich zitterte plötzlich vor Angst. In der Ferne sah ich es—kaum, aber ausreichend. Es war lange her, seitdem ich ein Lebewesen gesehen hatte. Keinen Mensch, keine Armeisen kriechend auf dem Boden, nicht einmal ein Vogel hatte ich in meiner verlängerten einsamen Zeit gesehen. Aber jetzt...jetzt verstand ich. Ich wusste genau, warum die Menschheit (bis auf ich) spurlos verschwunden war. Ich wusste auch, warum sie mich nicht mitnahmen.
Das war eben keine Apokalypse typischer Art. Das war eine Schlachtung der Menschheit von unheimlichen Ungeheuern. Wenn ich ein paar Momente früher ins Banktresor hineingegangen wäre, die Dokumente schneller in die richtigen Ablagen eingeordnet hätte oder das Banktresorstor zügiger entriegelt hätte, wäre auch ich abgeschlachtet worden. Ich wäre nicht aus dem Tresor rausgekommen, nur um eine leere Bank zu entdecken und ich würde diese Straße vermutlich nie in meinem Leben gesehen haben. Ich überlebte den Schlacht aufgrund meiner günstigen Standort, so sollten auch andere Menschen den Schlacht überlebt haben. Ich habe sie nur bisher nicht gefunden.
Ich sammelte meine Kräfte und schaute um mich herum. Nach vorne gab’s das Geschöpf, nach links tauchte noch eins auf. Meine einzige Chance war nach rechts, meine Schritte zurückzuverfolgen. Mein einsames Leben erfüllte zwar keinen Zweck, aber ich wollte immerhin nicht sterben. Ich ging mit aller Macht an den abgezählten Straßenlampen vorbei und hatte die Möglichkeit, mich zu jemandem zu gesellen, im Auge.
Zehn, neun...ein unvertrautes Fauchen und ein zorniges Schnauben erzeugte die Kreatur.
Acht, sieben...ich entschied mich nicht zurückzublicken; bloß rennen. Sonst könnte ich gestolpert haben.
Sechs, fünf...das Fauchen wurde lauter und immer aggressiver.
Vier, drei...seinen kräftigen Atem spürte ich hinten im Nacken.
Zwei, eins...es griff mich zu und ich wurde bewusstlos.