Der Sinn des Lebens
Mit Tränen in den Augen blickte Ronja auf sein Grab. Vor genau einem halben Jahr hatte sich ihr Leben schlagartig geändert. Von heute auf morgen war alles anders gewesen.
Sie erinnerte sich noch ganz genau an den Tag, an alle Einzelheiten.
Es war der 25. März diesen Jahres gewesen, draußen war es bitterkalt. Sie und Martin hatten sich beim Frühstück gestritten. Eine Lappalie an der sie sich beide hochgeschaukelt hatten. Ronja schüttelte den Kopf, es war dumm gewesen, einfach nur dumm.
„Ach Martin“ begann sie leise zu sprechen, „es war so sinnlos gewesen. Ich meine, wen interessiert es denn, ob das Kinderzimmer eine blaue oder eine weiße Tapete hat. Dieser Streit... Ich mache mir schreckliche Vorwürfe. Du hast mich angeschrieen ich müsse auch mal an das Kind und nicht nur an mich denken. Das hat mir damals sehr weh getan. Ich wollte etwas erwidern, aber ich konnte nicht, ich war zu geschockt über das was du mir vorgeworfen hast. Und dann bist du aufgesprungen und zur Tür. Ich wollte dir nach, aber mein Stolz, mein verdammter Stolz! Den ganzen Tag über habe ich an dich gedacht, mir Sorgen gemacht als du mittags nicht wie gewohnt angerufen hast. Wieder war es mein Stolz, der mich zurückhielt. Warum bin ich denn nur so verdammt stur? Ich wünschte ich hätte einfach mal über meinen Schatten springen können. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Vielleicht hätte ich mir die Tränen erspart, die vielen schlaflosen Nächte. Du kannst dir nicht vorstellen, was in mir vorging, als ich die Tür öffnete, eigentlich dir um den Hals fallen wollte und statt dessen in die Gesichter zweier Polizisten blickte. Ich wusste sofort was sie mir sagen würden. ‚Frau Joland, es tut uns aufrichtig leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann tödlich verunglückt ist.’ Sie hatten noch kein Wort gesagt und ich wusste Bescheid. Um mich herum drehte sich alles, mein ganzes Leben lief an mir vorbei. Mein erster Gedanke galt dem Kind. Was sollte nur aus ihm werden, ohne Vater?“
Ronja schluckte. Es war bereits dunkel geworden, auf dem Friedhof war es still.
„Du seiest gegen einen Brückenpfeiler geschliddert, hättest nicht bremsen können, sagte mir einer der Polizisten. Die Fahrbahn wäre zu glatt gewesen, der Airbag habe versagt. Ich vernahm ihre Worte nur entfernt. Warum konnten sie nicht still sein? Warum hatten sie mich nicht alleine lassen können? Und warum bist du so einfach von mir gegangen? Warum hast du mich verlassen? Mich und das Kind im Stich gelassen? Irgendwann sind die Polizisten gegangen, haben mich endlich allein gelassen. Ich saß auf dem Boden vom Kinderzimmer, blickte mich um. Alles stand noch so da, wie du es am Abend vorher verlassen hattest. Die Leiter lehnte an der Wand, die Farbe, die von der Decke auf den Boden getropft war, war längst getrocknet. Ich dachte daran, wie du von der Leiter gestiegen warst und dabei auf dem Farbfleck fast ausgerutscht wärst.“
Ronja musste ein wenig schmunzeln, bei dem Gedanken.
„Nie wieder würde ich mit dir lachen können. Niemals mehr würdest du mich in die Arme nehmen und mir versichern, dass es dir gut gehe. Ich weiß nicht wie lange ich da saß, alles was ich noch weiß, ist dass irgendwann das Telefon klingelte. Ich war wie erstarrt, mein erster Gedanke galt dir. Es war sicherlich die Polizei, die mir sagen würde, es sei alles nur ein Irrtum gewesen. Aber es war nur Simon. Kaum hatte ich ihm erzählt was passiert war, hatte er aufgelegt. Und keine zehn Minuten stand er vor mir, nahm mich in den Arm.“
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Ich wollte nur noch fort von hier, erzählte Simon von unserem Streit und dass ich dir am liebsten folgen würde. Er hörte mir zu, spendete mir Trost und gab mir den einzig richtigen Rat: ‚Du musst leben, für das Kind.’ Und er hatte Recht. Unser Kind brauchte mich jetzt mehr als je zuvor. Ich durfte nicht aufgeben, ich hatte jetzt einen neuen Lebenssinn: Unser Kind, das in drei Monaten geboren werden sollte.“
Ronja legte die rote Rose auf das Grab und stand auf.
„Ich liebe dich. Ich werde dich immer lieben.“
Tränenüberströmt schloss sie die Haustür auf. Silke, das Kindermädchen, saß im Wohnzimmer und sah fern.
„Oh, Sie sind schon zurück? Geht es ihnen gut?“ erkundigte sich die 17jährige, als sie Ronja erblickte.
„Ja, es geht schon. Danke. Schläft Max?“
Silke nickte und sah Ronja nach, die leise die Tür zum Kinderzimmer öffnete und eintrat.
Vor dem kleinen Bettchen blieb sie stehen. Ihr Sohn schlief. Behutsam nahm sie ihn aus seinem Bettchen und drückte ihn vorsichtig an sich.
„Gemeinsam schaffen wir es. Zusammen sind wir stark genug. Und glaube mir, dein Vater wäre sehr stolz auf dich.“
© 25/08/2001 by Rottie