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Der Sinn der Sinnlosigkeit
Schon zum dritten Mal las er nun dieses Buch. Seite für Seite war gefüllt mit Buchstaben, Worten, Sätzen. Knapp 200 Seiten fasste das Erstwerk eines jungen Nachwuchsautors. Viele seiner Kollegen hatten es bereits gelobt und es für vielversprechend erklärt. Vielversprechend? Die pure Wut kochte in ihm. Ist er wirklich 13 Jahre zur Schule gegangen, hat er sich wirklich im Studium immer und immer wieder von Neuem beweisen müssen, um nun diesen Schund zu lesen? Das Buch war nicht vielversprechend, es war sinnlos. Schlicht und ergreifend sinnlos. Nichts, wirklich nichts ergab Sinn. Die Charaktere passten nicht zur Story, die Story zersplitterte bei näherem Betrachten in Hunderte von Mosaiksteinchen, die beim besten Willen nicht zusammen passten. Er fühlte sich provoziert. Wie konnte man es wagen, ihm so etwas vorzusetzen und wieso lobten seine Kollegen dieses sinnlose Geschreibsel? Sollte wirklich ein tieferer Sinn in diesem Buch stecken? Wie sollte er sich verhalten? Die Dead-Line für seine Rezension näherte sich. Am nächsten Tag musste er 200 Zeilen zu dem Buch geschrieben haben. Der Chefredakteur seiner Zeitung verlangte es so. Er fühlte sich unter Druck gesetzt und provoziert. Wollte man ihn loswerden? War er an seinem Arbeitsplatz nicht mehr erwünscht? Sonst wurde er doch immer gelobt. Wieso setzte man ihm nun dieses Buch vor? Es hatte doch keinen Sinn. Entnervt und frustriert las er die letzten Seiten des Buches. Die Hoffnung, diesmal auch nur einen Anhaltspunkt für einen tieferen Sinn zu finden, schwand. Noch 10 Seiten, noch 6 Seiten, noch 3 Seiten, noch 2 Seiten, die letzte Seite und trotzdem wusste er noch immer nicht, was er von diesem Buch halten sollte. Die Wut trieb ihn dazu, dieses Buch in seiner Rezension Zeile für Zeile zu zerreißen. Er fing an zu schreiben, doch sein Unterbewusstsein mahnte ihn, dass er mit seiner Kritik vollkommen falsch lag. Er löschte die eben geschriebenen Zeilen wieder. Das Buch lag vor ihm auf dem Tisch. Er beobachte es, so als ob es jeden Moment zu sprechen anfangen würde. Vielleicht würde es sich ja erklären. Er lachte bitter. Was für ein Narr er doch war. Seine Frau kam nach Hause. Er bat sie, das Buch zu lesen. Vielleicht würde sie ja einen Sinn entdecken. Fehlanzeige, auch sie wusste nicht, was sie von der Story halten sollte. Allerdings lobte sie den interessanten Sprachstil, der von einer Vielzahl von Metaphern und scheinbaren Widersprüchen lebte. Er resignierte, zweifelte an seinen Fähigkeiten. Griff wieder nach dem Buch, studierte den Einband, überflog die Seiten. Die Wahl der Wörter, die Art des Satzbaus, die Reihenfolge, in der die Buchstaben aneinander gereiht waren, ja sogar die Art und Weise, wie die Seiten bedruckt waren, provozierten ihn. Er hasste dieses Buch. Es war spät am Abend und er resignierte – zumindest für den Moment. Er ging ins Bett, hatte dringend Schlaf nötig. Doch er konnte nicht einschlafen, er kam nicht zur Ruhe. Vor seinen Augen spielte sich der Inhalt des Buchs immer und immer wieder von Neuem ab. Wovon handelte das Buch eigentlich? Unterbewusst war die Antwort vorhanden, doch er konnte sie nicht denken. Er überlegte, erinnerte sich an jede noch so kleine Textstelle. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass das Buch keine Handlung hatte. Gab es so etwas überhaupt? Konnte das Sinnlose einen tieferen Sinn haben? War dies vielleicht die wahre Kunst?