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Der Siegeszug einer Idee
Als Mike sein kleines Unternehmen gründete, hätte er sicher nicht gedacht, dass er schon wenige Jahre später Vorstandsvorsitzender des umsatzstärksten DAX-Unternehmens sein würde.
Seine Geschichte steht nicht nur exemplarisch für beispiellosen Unternehmergeist, sondern vielmehr für den Siegeszug eines ganzen Systems. Doch von Beginn an:
Mike hatte gerade seinen vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und seinen Magisterabschluss in Philosophie und Ethik geschafft, als er beschloss sich selbständig zu machen. In welcher Branche er sich ansiedeln wollte, wusste Mike noch nicht. Er war nur fest entschlossen, seine eigene Firma zu gründen. Deshalb überlegte er lange und gründlich, doch so recht wollte ihm keine redliche Beschäftigung einfallen, weshalb er seinen Plan vorerst verwarf und sich nach einem Übergangsjob umsah. Stundenlang durchblätterte er die Stellenanzeigen der Lokalzeitungen, bis er irgendwann resigniert aufgab und die Zeitung vom Tisch schmiss. Dabei segelte eine Seite genau auf seinen Schoß: Nachrufe! Plötzlich wusste Mike, was er werden wollte.
Tags darauf mietete er sich eine Zwei-Zimmer-Wohnung, die er als Büro einrichtete. Mike besuchte einen dreiwöchigen Crash-Kurs, in dem er das Handwerk der Steinbildhauerei erlernte. Er nahm an einem Wochenendseminar “Guerilla-Marketing” teil, welches sich im Nachhinein jedoch als für seine Zielgruppe völlig unpassend herausstellte. Bevor er seinen Betrieb dann endlich eröffnete, trat er, aus Gründen der Seriosität, der katholischen Kirche bei. Bei seinem Gewerbe hatte er sich auf den Entwurf und die Gestaltung von Grabsteinen spezialisiert. Das Buddeln wollte er anderen überlassen.
Die Unternehmensentwicklung ließ jedoch gerade zu Beginn sehr zu wünschen übrig, obschon das Einzugsgebiet ausreichend und die Werbeausgaben überproportional hoch waren. Auch die Zukunftsaussichten waren prächtig. Vier randvolle Pflegeheime lagen in der direkten Nachbarschaft, ein Kernkraftwerk direkt um die Ecke. Doch Bestatten war und ist, so schien es Mike, ein sehr intimer Prozess, der viel Vertrauen seitens der Betroffenen erfordert. Vertrauen, das die Angehörigen einem Vierundzwanzigjährigen nicht willens und fähig waren, entgegenzubringen. Diesen Mangel musste Mike durch kluge und strategische Vorgehensweise kompensieren. So abonnierte er alle Regionalzeitungen und legte sich die Todesanzeigen auf zweimonatige Wiedervorlage. Dann schickte er den Angehörigen seinen nagelneuen Flyer zu. Er warb mit einem umfangreichen Sortiment. Für Jung und Alt war alles dabei, sodass keine Wünsche offen bleiben mussten.
Das Unternehmen kränkelte aber noch immer, obwohl es mittlerweile wenigstens schwarze Zahlen schrieb. Mike, der schon im Gymnasium als ehrgeizig und verbissen gegolten hat, reichte das noch lange nicht. Er selektierte den Markt und untersuchte die Konkurrenz. Dabei stellte er fest, dass “Hubers Grabdenkmäler” seine Angebotsbriefe schon einen Monat nach Todestag verschickten. Die Konkurrenz schläft eben nicht. Auch nicht bei Entschlafenen, dachte Mike und beschloss seine Briefe künftig zeitiger zu versenden. Die Aufträge und der Gewinn nahmen in den kommenden Wochen zu. Und bereits nach zwei Jahren hatte Mike die Marktführerschaft in der Region inne. Aufgrund seiner innovativen Strategien war es ihm in der Vergangenheit gelungen, neue Kunden zu akquirieren. So ließ er überdimensional große Grabsteine an der Autobahn aufstellen, in Altenheimen und auf Intensivstationen sprach er die Angehörigen der Alten und Kranken direkt an. Allmählich entwickelte Mike dabei ein solches Geschick, dass die Betroffenen nicht empört über die Unverschämdheit Mikes waren, sondern ihn als eine Art seelischen Beistand betrachteten. In vielen Fällen unterschrieben sie schon einen Vertrag, obwohl der Kranke noch nicht einmal verstorben war. Ja, es soll sogar welche gegeben haben, die es nach Vertragsschluss gar nicht mehr abwarten konnten “bis der Alte endlich abkratzt.”
Öfter veranstaltete Mike “Leidensabende”, bei denen sich Angehörige von unheilbar Kranken bemitleiden und beweinen konnten, ehe sie den Marmorgrabstein “Modell Hinkelstein” aussuchten. Mike erwies sich bei der Planung solcher Veranstaltungen als cleverer, umsichtiger Manager, während er auf den Veranstaltungen selbst, als umsichtiger, pietätvoller Seelsorger auftrat. Diese Mischung machte seinen Erfolg aus.
Einige Zeit später begann er zwei weitere Steinmetze einzustellen, da er die Vielzahl der Aufträge nicht mehr alleine bewältigen konnte. Später expandierte er, kaufte die drei regionalen Bestattungsunternehmen auf. Fortan bot sein Unternehmen den “Full Service”. Er schloss Entsorgungsverträge mit Schweizer Sterbehäusern, in denen sich Menschen einmieteten oder eingemietet wurden, die Sterbehilfe erhalten wollten, um in Würde zu sterben. Mike musste immer lachen, wenn er so etwas las. Kein Mensch stirbt in Würde, dachte er dann. Würde hin oder her, die Partnerschaft mit den Sterbehäusern war für die Entwicklung des Unternehmens sehr vorteilhaft.
Mittlerweile war Mike der Chef eines Großbetriebes. Die Särge wurden industriell gefertigt, er hatte Spezialwerkzeuge anschaffen lassen, mit denen die Gräber ausgehoben wurden und sogar im Internet war sein Unternehmen durch einen elektronischen Produktkatalog vertreten, über den die Särge vorbestellt werden konnten. Es mussten nur einfache Felder wie “ungefähres Sterbedatum“, “Größe und Gewicht des Versterbenden” und personenbezogene Daten ausgefüllt werden und schon wurde der Sarg fertiggestellt und ans Lager übergegeben, von wo er, sobald er benötigt wurde, direkt an den Kunden ging. Das Geschäft mit dem Tod boomte, doch die neuesten demographischen Studien erfüllten Mike mit Sorge. Die Menschen wurden immer älter, noch dazu wurden immer weniger geboren, was sich in spätestens dreißig Jahren auf seinen Umsatz auswirken würde. Bis dahin, so dachte Mike, muss ich so viel verdient haben, dass ich mich zur Ruhe setzen kann. Mit “zur Ruhe setzen” meinte Mike allerdings nicht, bis ans Lebensende nie mehr arbeiten und ein kleines Häuschen im Grünen; viel mehr beinhaltete dieser Ausspruch für ihn den Wunsch nach maßlosem Reichtum, einem ausschweifenden und dekadenten Lebensstil. Kurzum, er wollte der reichste Mann der Erde werden.
Zehn Jahre nach Gründung ging sein Unternehmen an die Börse und schon wenige Monate später wurde es im DAX geführt. Beinahe sämtliche Konkurrenten hatte Mike aufgekauft oder anderweitig ausgeschaltet. Seine Herrschsucht nahm napoleonische Züge an - nicht, dass er Russland angreifen wollte, sondern viel mehr war er von der Begierde besessen, das weltweit einzige Bestattungsunternehmen zu führen. Fast im gesamten europäischen Raum hatte er schon die Monopolstellung, dennoch war die Umsatzentwicklung bei weitem nicht zufriedenstellend. Es starben einfach zu wenige! Die medizinische Versorgung war zu gut, wodurch die Lebenserwartung immer höher wurde.
Mike gab viel Kapital des Unternehmens frei, startete eine exzessive Werbekampagne für die Sterbehäuser in der Schweiz, die ihm mittlerweile gehörten. Er betrieb Lobbyarbeit im europäischen Parlament, um derartige Einrichtungen auch in der Europäischen Union möglich zu machen. Was ihm schlussendlich auch gelang.
Und dennoch: Der Erfolg blieb aus. Sterbehäuser wurden zwar vielerorts regelrecht aus dem Boden gestampft, aber es gab einfach zu wenige, die sich dort einmieteten. Die Menschen waren nicht willens zu sterben, was Mike sehr bedauerte.
An dieser Stelle der Entwicklung zeigte sich wieder mal Mikes erfinderischer Unternehmergeist. Wochenlang überlegend, wie man die Misere beheben könne, kam er schließlich zu dem Schluss, dass einfach nur mehr Menschen sterben müssten! Da sein Unternehmen das Monopol besaß, bedeutete der Tod automatische, neue Umsätze für ihn. Eine Überlegung, die in ihrer Schlichtheit einen Anflug von Genialität versprühte.
Die Umsetzung gestaltete sich aber als schwieriger, weshalb Mike einen Planungsausschuss gründete. Dieser sollte das Problem lösen. Was der Ausschuss, zur Freude Mikes, auch tat. Erster Punkt der zwanzigseitigen Agenda war, die Einschleusung von Pflegekräften. Diese sollten kranken Menschen gezielt Sterbemittel verabreichen. Die Aktion lief gut an, bis manche Zeitungen kurz davor waren, diesen Skandal aufzudecken. Sie berichteten äußerst kritisch über Mikes Vorgehen. Doch nachdem Mike diesen Medienhäusern die Anzeigen- und Werbeaufträge entzog, verstummte die Kritik urplötzlich und seltsamerweise wurden leitende Redakteure entlassen, was Mike dazu veranlasste, die Werbungen doch wieder zu schalten.
Punkt zwei der Agenda war eine Kooperation mit der Automobilindustrie. Diese verpflichtichtete sich, nach einer zugegeben nicht kleinen Finanzspritze, es mit den Sicherheitsvorkehrungen nicht ganz so genau zu nehmen und vielleicht auch mal eine oder zwei Radmuttern nicht ganz so fest anzuziehen. Wieder mehr Verkehrstote, titelte BILD; nach einer Ursache fragte sie aber nicht. Nach und nach erweiterte Mikes Unternehmen sein Engagement auf dem Lebensmittelsektor. Zu diesem Zweck wurden H5N1-Viren gezüchtet, die sich durch den Verzehr von Geflügel auf den Menschen übertragen sollten. Doch der Plan scheiterte. Die Vogelgrippe verbreitete sich nicht so schnell wie erhofft. Besser verlief die Infizierung von Schlachtvieh durch BSE. Nach einer anfänglichen Todeswelle und erheblichen Mehreinahmen wurden die Menschen im Bezug auf Rindfleisch leider doch etwas vorsichtiger. Die Nachfrage nach Schweinfleisch nahm dagegen stark zu. Hierauf reagierte Mike wieder sofort - ein erneutes Exempel für seinen beispiellosen Unternehmergeist. Er verpflichtete die Schlachtbetriebe zur Ausfuhr von Gammelfleisch. Die Ausfuhr von frischen Fleischprodukten verbot er strikt! Aufgrund seiner Marktmacht ein Kinderspiel. Auch das zeigte Wirkung. Mike manipulierte und intrigierte, wo es nur ging, doch der Erfolg gab ihm Recht.
Der letzte Punkt des Aktionsplanes beinhaltete schließlich den Genozid. Die einzig möglich und logische Konsequenz, wie Mike später sagte. Willkürlich ausgewählte Personen wurden verschleppt und ermordet, um anschließend beerdigt zu werden. Kritiker wurden einfach ausgeschaltet und zur Strafe lebendig begraben. Die Angehörigen wurden mit einem Sippenaufschlag von 150 Prozent auf den Rechnungsbetrag bedacht und das obwohl immer nur der billigste Sarg verwendet wurde.
Nach nur siebzehn Jahren hatte Mike sein Ziel erreicht. Sein Unternehmen war das größte der Welt. Er verkaufte alle Anteile und war fortan mit Abstand der reichste Mann der Erde. Er war der Größte! In Südafrika ließ er sich nieder, bis er von dort verschleppt, getötet und anschließend beerdigt wurde. Der europäische Markt bot nicht mehr genügend Potenzial. Sein ehemaliges Unternehmen hatte nach Afrika expandiert. China sollte folgen.