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Der Sesamfluch
Sie konnte in dieser Nacht nicht gut schlafen, wälzte sich im Bett herum und stand am Morgen müde auf. Krümel juckten auf ihrer Haut, und sie ging ins Bad, um sich zu waschen.
Im Spiegel sah sie den Türspalt und dahinter ein Stück des Flures. Sie schloss die Tür und versuchte, nicht daran zu denken, was dort letzte Nacht geschehen war.
Ihr Mann saß am Küchentisch. Sein schütteres Haar war struppig und bereits bläulich. Zerkrümeltes Backwerk lag überall verteilt. Tränen stiegen ihr in die Augen.
Seit das, was man heute den Sesamfluch nannte, bekannt geworden war, hatten sie gemeinsam der Versuchung widerstanden, obwohl es für sie weit schwieriger war als für andere. Ihr einziges Kind hatte mit gerade mal fünf Jahren ein Brötchen gegessen, und seitdem kümmerten sie sich um das, was aus ihm geworden war. Sie gingen tapfer jeden Tag die zwei Kilometer zum Bäcker. Dieser Beruf war sehr selten geworden.
Der Heimweg und das Füttern waren am schwersten, danach konnte man das Backwerk wegschließen.
Der Vater hatte den Verlust seines Sohnes nie überwunden. Seit dessen Verwandlung glaubte er, wieder mit ihm reden zu können, wenn er selbst verwandelt sei.
Traurig sah er sie an. Er wusste, was er getan hatte, und dass ihm höchstens noch zwei Tage blieben. Weinend machte sie sich auf den Weg, um Brötchen und Kuchen zu kaufen.
Blaue Haare sprossen auf seiner Glatze, seine Gesichtszüge rundeten sich. Der Mund wurde breiter, die Augen traten hervor und wanderten auf die Stirn. Es ging schneller, als sie dachte, und darüber war sie froh. Schon am Abend des nächsten Tages war es vorbei.
Er wusste nicht mehr, wer er war, doch er wusste, dass die Frau, die ihm Kekse gab, gut war. Sein Leben war leichter. Es bestand eigentlich nur daraus, zu essen und seltsame Laute von sich zu geben, und er war wieder mit seinem Sohn zusammen, auch wenn er nicht mehr wusste, wer das war und wieso er das wollte.
Einige Tage später gab auch sie auf. Sie konnte die Brötchenhälften nicht mehr länger ablehnen, die er ihr jeden Morgen hinhielt, als seien es seine Hände.