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Der See
Langsam nehme ich einen der grauen, flachen Steine vom Boden. Ich wiege ihn in meiner Hand und fahre mit dem Daumen über die raue, kalte Oberfläche. Dann hole ich aus und werfe ihn soweit ich kann. Leise taucht der Stein in das dunkle Wasser ein. Ich beobachte wie die Wellen, die er verursacht, langsam kleiner werden und schließlich ganz verebben. Nun liegt der See wieder vollkommen still da, als ob nichts geschen wäre. Wie ein schwarzer Spiegel, der das Grau des Himmels und das Grün der Bäume rings herum aufsaugt. So lange war ich nicht mehr hier. Ich schließe die Augen. Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder sein Gesicht und seine Augen, die mich anstrahlen, an dem Tag, an dem ich das letzte Mal hier war.
Ich konnte nie genug von ihm kriegen. Von seinen Haaren, die so herrlich nach Heu dufteten, von seinen blauen Augen und seinem strahlendem Lächeln, das mich immer sofort mitriss. Ich vertraute ihm, ich liebte ihn. Die Welt schien mir so unglaublich perfekt. Mir war nicht bewusst, wie zerbrechlich ein solches Glück sein konnte. Und vor allem hätte ich mir niemals träumen lassen, wer es zerstören würde. Im Nachhinein denke ich, dass ich es vielleicht hätte ahnen können. Doch ich sah alles wie durch einen Schleier. Die Welt war mein persönliches Paradies geworden und er war mein Engel.
An diesem Nachmittag lag ich in seinen Armen und wir betrachteten gemeinsam den See. Damals schien er mir nicht dunkel, sondern klar und einladend. Schließlich nahm ich seine Hand. „Komm schon“, rief ich lachend und zog ihn zum Wasser. Ich zog meine Klamotten bis auf meinen Bikini, den ich schon drunter hatte, aus und sprang in das eiskalte Wasser. Er folgte mir und wir schwammen gemeinsam durch das kühle Nass. Wir hatten den See ganz allein für uns. Zu dieser Jahreszeit war es den meisten Leuten noch zu kalt zum Schwimmen.
Schließlich wurde es auch mir zu kalt und ich kletterte aus dem See und legte mich in die Sonne. Er folgte mir, doch er legte sich nicht neben mich sondern blieb stehen und sah mich an. Verwirrt fragte ich ihn was los sei, doch er antwortete mir nicht sondern sah mich nur weiter mit diesem seltsamen Blick an. Auf einmal kniete er sich zu mir und begann mich zu küssen. Er wurde immer fordernder, presste sich immer enger an mich. Der harte Boden drückte sich in meinen Rücken. Lachend versuchte ich ihn zur Seite zu schieben, doch er ließ sich nicht bewegen. Langsam wurde ich panisch „Was machst du da?“, fragte ich. „Bitte geh von mir runter, du tust mir weh.“ Ich liebte ihn, doch dafür war ich noch nicht bereit. Nicht an diesem Tag. Nicht an diesem Ort. Mit immer mehr Kraft versuchte ich ihn wegzudrücken, doch er war wie ein Stein, der schwer auf mir lag. Mir kamen die Tränen, ich hämmerte auf ihn ein, schrie, während seine Hände begannen ihren Weg auf meinem Körper zu suchen. Sein heißer, verschwitzter Körper war überall. Seine Hände krallten sich tief in meine Haut. Zerkratzten sie. Nach einer Weile hörte ich auf mich zu wehren. Meine Stimmte versagte, meine Arme wurden schwach. Schließlich lag ich nur noch da. Wie eine leblose Puppe und wartete. Wartete darauf, dass er fertig war. Ich schloss die Augen und sang in Gedanken ein Lied. Das einzige, das mir in diesem Augenblick einfiel:
Oh when the saints
go marchin´ in,
Oh when the saints go marchin´ in,
Lord I want to be in that number
When the saint go marchin´in.
Immer wieder wiederholte ich in Gedanken die Strophen des Liedes. Versuchte die Schmerzen und die Angst zu ignorieren, bis ich spürte, wie das Gewicht von meinem Körper genommen wurde. Ich schlug die Augen auf und sah wie er sich anzog. Er sah mich an. „Das war das schönste Geschenk, das du mir machen konntest.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, während er sein Fahrrad nahm und davon fuhr.
Ich lag am Boden. Zitternd. Zerrissen. Dann stand ich auf und ging zum See. Ich wusch meinen nackten, bleichen Körper. Wusch den Dreck und den Schweiß ab. Tauchte unter.
Salziges Wasser vermischte sich mit süßem. Immer tiefer ließ ich mich sinken, während ich hoffte, dass der See auch die Erinnerungen fort waschen könnte.
Noch einmal nehme ich einen der Steine vom Boden. Ich balle meine Hand zu einer Faust. Tränen steigen in meinen Augen auf. Ob vor Wut, vor Schmerz oder vor Trauer ist mir selber nicht klar. Alle diese Gefühle ringen in mir um die Oberhand. Erneut hole ich aus und werfe den Stein in das dunkle Wasser. Wieder sinkt der Stein auf den Grund, verschwindet in den Fluten. Und während ich beobachte wie die Wasseroberfläche wieder ruhiger wird, wünsche ich mir mit dem Stein würden auch all die Bilder des Tages versinken und auf dem Grund des Sees in Vergessenheit geraten. Doch sie sinken nicht. Die Erinnerungen sind wie Blätter, die weiterhin auf dem See treiben.