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Der See im Park
Die klare Morgenluft belebte jede Faser meines vom Alter gebeugten Körpers und die morgendliche Sonne erhellte den umliegenden, grünen Park mit ihren warmen, gelben Strahlen. Die schwere Eichenbank war hart und unnachgiebig, doch für mich war sie der Sitz der Ruhe und das Haus meines Friedens. Sie war dunkel und in der Sonne schnell warm geworden. Dunkel und warm. Ich öffnete meinen Mantel und atmete tief durch.
Der vor mir liegende See glänzte und funkelte und seine glatte, klare Oberfläche spiegelte den blauen Himmel wider. Er war das Zentrum des Parks, das Zentrum der Stadt, das Zentrum aller Dinge.
Alte Erinnerungen schoben sich an die Oberfläche und formten Bilder vor meinen inneren und weitaus besseren Augen. Dort am Wasser – mit wackligen Knien stand ich dort, als ich meine Frau das erste Mal traf. Ich ging in Gedanken durch den Park. Ein flüchtiger Blick, ein ungewollter Rempler und ehe ich mich's versah, hob ich ihre Tasche auf. Als unsere Blicke sich trafen, war es wie ein Blitz in meinem Kopf, dessen Donner mein gesamtes Leben hindurch meinen Weg bestimmen sollte. Und dort am Ufer, wo die Seelilien die ruhige Wasseroberfläche liebkosen, dort bat ich sie drei Jahre später, meine Frau zu werden.
Aber das ist nun schon viele Jahre her und es ist der Lauf des Lebens, dass Menschen sterben. Sie zerfallen zu Staub und man selbst versucht, sie nicht zu vergessen; ihre Asche zu Diamanten zu pressen und das Echo ihrer Worte mit in die Ewigkeit zu nehmen.
Doch das Alter fordert seinen unbarmherzigen Tribut. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal das Bild meiner Frau in ihrer längst vergangenen Schönheit vor Augen hatte oder ihre Stimme, längst verstummt, mein Herz berührte. Ich sehe sie. Doch ist ihr Bild vom alternden Geist verrauscht – so wie mein Spiegelbild, vom Wind, der das Wasser zu kleinen Wellen formt, total verzerrt mich aus müden Augen anstarrt. Vergessen im Wasser, singt die Zeit. Ich wünschte, ich könnte ihrem traurigen Lied noch einmal lauschen.
Leise durchbrach etwas die laute Stille der schreienden Natur - ich bekam Besuch, der mich unsanft aus mir selbst riss. Meine Freunde kamen auf mich zu geschwommen. Ich kannte sie alle - jeder war ein Individuum, jeder war einzigartig und jeder mochte mich. Durch ihre quakenden Laute und ihr freudiges Auf-mich-zu-Watscheln, sah ich erst, wie hungrig sie waren. Ihre kleinen, mit Schwimmhäuten überzogenen Füße schritten unaufhörlich auf mich zu - das Zeichen, welches mir signalisierte, dass es Zeit für das Frühstück war.
Meine steife, kalte Hand glitt wie von selbst in meine prall gefüllte linke Tasche und sie ertastete die verschlossene Plastiktüte. Ich nahm sie heraus und öffnete sie langsam. Ich verteilte, die vom Vorabend übrig gebliebenen und fein zerkleinerten Brotstücke liebevoll – Erinnerungen einer längst vergangenen Zeit, die an die Nachwelt verfüttert werden. Ich blickte gen Himmel, zur Sonne meines Lebens.
Sie stand vor dem Altar in der kleinen Kapelle meines Dorfes. Strahlend hell ihr Lächeln, erleuchtete sie mein Herz. Unsere Familien verfolgten meine Schritte, als ich zu ihr ging. Der Mann neben ihr drehte sich zu mir um, verschmitzt und glücklich. Mein Trauzeuge, mein bester Freund war ein kleiner Mann mit großem Geist und lautem Lachen, dem das Leben nichts geschenkt, doch alles gegeben hatte.
Ich weinte, als er starb; weinte, als ich ihn begrub; weinte, als der Grabstein aufgestellt wurde. Ich verlor nicht nur einen Freund; ich verlor einen Bruder, einen Vater und einen Sohn. Doch sein Tod, für die Ewigkeit in Stein gemeißelt, führte mir vor Augen, was es eigentlich bedeutet zu leben. Es bedeutet: sterben zu lernen.
Rufe zerrten mich aus einer glücklicheren Zeit. Ein Mann kam auf mich zu. Er schien mit seinen Armen das Orchester des Zorns zu dirigieren. Ich fragte mich warum; warum er schimpfte, warum er kam und warum er meine Ruhe, mein Glück störte. Doch ihn schien es zu stören, dass ich meine Freunde fütterte, ihnen in einer friedlichen Symbiose Brot gegen Gesellschaft anbot – ja, ihn störte es, dass sie mich am Leben hielten.
Mit jedem seiner Schritte wurde er lauter und sein bedrohlicher Schatten wuchs. Er schrie, dass es verboten sei, Enten zu füttern; dass es unverantwortlich der Natur gegenüber wäre. Doch selbst mein tränenreicher Blick, der nur verzweifelt einen Funken Menschlichkeit in meinem Gegenüber suchte, besänftigte ihn nicht. Er schien seinen Zorn nur noch mehr zu entfachen. Aber ich hatte doch nichts verbrochen, hatte keinem Leid oder Schaden zugefügt – hatte nur versucht in einer stürmischen Nacht meine Kerze am Leben zu erhalten.
Über seine massige Schulter hinweg, blickte ich ein letztes Mal zum See. Ruhig lag er da. Die Oberfläche war glatt wie ein Spiegel und alles schien still und genau richtig zu sein. Und mit einem Mal wusste ich: Es war so weit. Mit knirschenden Knien stand ich auf und blickte ihm starr in die Augen. Er verstummte und blickte voller Entsetzen in den Abgrund meiner Augen.