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- 03.07.2017
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Der schweigende Raum
Ich stolpere über den Bordstein. Mama umklammert meine Hand, quetscht die Finger und zerrt mich unbeirrt weiter. Das Gehen in den steifen Lackschuhen fällt mir schwer, die Fersen schmerzen schon.
„Mamaaa.“ Die Absätze knallen auf den Asphalt. „Mama, du tust mir weh!“ Ich reiße die Hand los und bleibe stehen. Hitze steigt in mein Gesicht.
Wirsch dreht sie sich um. „Merle, wir müssen ...“ Als sie mich sieht, wird ihr Gesicht weich. Sie hockt sich hin, tippt mir auf die Nasenspitze. Ihre Hände riechen nach Vanille. Vor mir baumelt die silberne Kette, Jesus am Kreuz schaut mich klagend an.
„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun.“ Vorsichtig streicht Mama über den Kragen meiner weißen Bluse. Es ist gar nicht Sonntag, trotzdem sollte ich meine besten Sachen anziehen. „Wir haben einen wichtigen Termin. Da möchte ich nicht zu spät kommen.“
„Wo gehen wir hin?“
Sie richtet sich auf, streckt mir die Hand entgegen. „Komm.“
Mama und ich sitzen vor dem riesigen Schreibtisch und Pastor Karlin schaut uns ungewöhnlich streng an. Er ist tatsächlich streng, aber er sieht sonst nie so aus. Normalerweise lächelt er und schüttelt Hände; seine sind immer warm, sogar nach der Christmette, wenn meine trotz Handschuhen kaum noch zu spüren sind.
Aber heute lächeln weder er noch Mama.
Der Stuhl ist kalt. Ich quetsche meine Hände zwischen Oberschenkel und das Holz, aber da die Finger auch kalt sind, bringt es wenig.
„Merle, hör auf zu zappeln. Setz dich ordentlich hin.“ Mama zupft an ihrem Rock herum und streicht sich eine Strähne hinters Ohr.
„Merle.“ Der Pastor legt die Hände zusammen, als wolle er beten. „Deine Mutter hat mir erzählt, dass es dir nicht gut geht.“
„Mir ist kalt.“
„Nicht jetzt. Sondern in letzter Zeit.“
Als ich zu Mama schaue, nickt sie kurz und blickt dann auf ihre Knie.
„Ich hatte Kopfschmerzen. Die waren so schlimm, dass ich manchmal nichts mehr sehen konnte.“
„Deine Mutter hat mir erzählt, dass du dich sogar nicht mehr bewegen konntest, ist das wahr?“
„Ich weiß nicht. Alles tat weh.“ Ich schlage meine Schuhe gegeneinander. Der schwarze Lack quietscht bei jeder Berührung. „Aber jetzt geht es mir gut.“
Neben mir knetet Mama ihre Hände. „Sie weint manchmal, einfach so. Selbst unsere Gebete können ihr dann nicht helfen.“ Ihre Stimme ist leise, ich kann sie kaum verstehen. „Es macht mir Angst, Herr Pastor.“
„Warum weinst du, Merle?“, fragt Pastor Karlin.
Manchmal bin ich einfach traurig. Die Welt ist dann so wie auf den alten Fotos, die ich mir manchmal mit Mama anschaue. Schwarzweiß. Aber irgendwann geht das Gefühl wieder, und dann möchte ich nicht mehr darüber nachdenken. „Ich weiß es nicht.“
„Möchtest du weniger weinen? Und keine Kopfschmerzen mehr haben?“
Ich schaue Pastor Karlin an. Seine Lippen bilden eine Linie, so dünn, als hätte er gar keine. „Natürlich. Das wäre super.“
Er nickt. Mama wischt sich über die Wange, aber die Träne sehe ich trotzdem.
„Mama? Habe ich was Falsches gesagt?“
„Nein, mein Schatz. Alles gut.“ Sie versucht, mich anzulächeln, aber die Mundwinkel zeigen nach unten.
Nachdem Mama und Pastor Karlin einige Minuten alleine gesprochen haben und ich im zugigen Flur warten musste, folgen wir dem Pastor in den Keller. Mama schweigt und schaut mich nicht an. Ich greife nach ihrer Hand, aber sie liegt schlaff in meiner; ich kann sie kaum halten und lasse sie schließlich los.
Wir gehen vorbei an den Klapptischen, die an der Wand lehnen, und den Türmen aus Holzstühlen. Die Eisentür, die Pastor Karlin aufschließt, habe ich noch nie bemerkt, obwohl ich mit der Kindergruppe schon oft Sachen aus dem Keller geholt habe. Durch den Flur dahinter gelangen wir in ein Zimmer. Ohne Fenster wirkt es wie eine Höhle. Die Luft ist angenehm warm.
Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes liegt ein grauer Kittel, wie ein großes Nachthemd sieht er aus.
Pastor Karlin deutet darauf.
„Ist das für mich?“ Ich schüttele mich. „Das zieh ich nicht an.“
„Merle, du wolltest doch, dass wir dir helfen.“ Pastor Karlins Blick ist starr und ich frage mich, wie ich seine braunen Augen jemals lustig finden konnte. Sie sehen aus wie gefrorene Erde.
Mama schweigt.
Mit steifen Fingern trenne ich mich von meinen Lackschuhen, der Bluse und dem Faltenrock und streife das Nachthemd über. Es kratzt.
„Wozu ist das gut?“ Meine Füße versinken in dem flauschigen Teppich.
Ohne zu antworten, schließt der Pastor eine kleine Tür auf, die von dem Zimmer abgeht. Sie ist dicker als jede Tür, die ich je gesehen habe, ihre Innenseite sieht aus wie Omas Sofa. Der Raum dahinter liegt im Dunkeln.
„Merle, bitte gehe dort hinein. Du wirst dort alleine sein, aber ich verspreche, dir wird nichts passieren.“
Ich wage mich an die Schwelle, dahinter sehe ich nichts als Schwarz. „Kann man das Licht anmachen?“
Pastor Karlin schüttelt den Kopf. „Leider nicht.“
„Ich möchte dort nicht hinein.“ Ich weiche ein paar Schritte zurück. „Mama?“
Aber Mama hat die Augen geschlossen, eine Hand an der Stirn. Ihre Schultern zucken.
Pastor Karlin kommt auf mich zu. „Merle, dir geht es schlecht, weil etwas Böses in dir wohnt. Aber wir müssen vertrauen und dich in die Hände desjenigen geben, der das richten kann. Und danach wird es dir besser gehen.“ Er faltet die Hände. „Hast du Vertrauen?“
Trotz der Wärme zittern meine Knie. Ich nicke.
Ich gehe zu der kleinen Tür, schaue in die Dunkelheit und hab das Gefühl, verschluckt zu werden. Fratzen blitzen im Schwarz und ich stolpere zurück, laufe zum Ausgang und rapple an der Klinke. „Ich bin gesund! Mama!“
Mama schluchzt, aber sie kommt nicht zu mir, verlässt nicht mit mir diesen schrecklichen Ort. „Merle, mach es uns bitte nicht noch schwerer.“
Pastor Karlin kommt auf mich zu, ich presse mich an die Wand, kann ihm nicht entkommen.
„Merle. Glaubst du, du bist ein Sünder?“
Ich schweige, presse die Lippen aufeinander.
Pastor Karlin kommt einen Schritt näher, wie ein schwarzer Turm ragt er vor mir auf. „Glaubst du, du bist ein Sünder?“ Seine Stimme donnert durch den Raum.
Ich schlucke. „Ja, das glaube ich.“
„Und glaubst du an die Vergebung durch das Sakrament der Buße?“
„Ja, das glaube ich“, flüstere ich, wiederhole die Worte, die ich schon so oft gesagt habe.
Pastor Karlin nickt und tritt einen Schritt zurück. Sein Arm weist mir den Weg.
Ich trete in die Dunkelheit. Der Boden ist weich, ich setze mich in das kleine Rechteck, das noch erhellt wird. Pastor Karlin tritt in die Tür, sperrt das Licht mit seinem Körper aus und sagt: „Und nun möge die Dunkelheit das Böse bedecken, den Samen ersticken und den Weg ebnen für das Licht, die Helligkeit, die uns alle erlösen wird.“
Bevor die Tür ins Schloss fällt, höre ich Mama schluchzen, dann ist es still.
Ich öffne die Augen, und schließe sie wieder. Dann lege ich einen Finger ans Lid, überprüfe, ob es sich wirklich bewegt. Ja, alles richtig. Es ist so dunkel, dass es keinen Unterschied macht.
Der Raum erscheint mir unendlich groß und mich überkommt das Gefühl, jemand stehe hinter mir und starre auf meinen Rücken. Ich krabble los, stoße mit dem Kopf gegen die weiche Verkleidung.
„Mamaaa! Pastor Karlin!“ Ich trommle gegen die Wand, meine Schläge verpuffen. „Lasst mich bitte wieder raus!“ Ich atme tief durch, ziehe meine Nase hoch und lausche.
Meine Ohren fühlen sich merkwürdig an, wie auf dem Flug, den ich einmal mit Mama gemacht habe. Ich wackle mit dem Zeigefinger darin herum, aber es ändert nichts. Das Rauschen ist das einzige Geräusch.
„Mama, bitte!“ Ich heule und schreie, bis ich Kopfschmerzen bekomme, aber nichts passiert. Alles bleibt schwarz.
Vorsichtig richte ich mich auf, strecke meine Arme nach oben. Ich stoße gegen die Decke, meine Finger fahren daran entlang bis zur Wand. Ich folge ihr rundherum und komme pro Seite auf vierzehn oder fünfzehn Gänsefüßchen.
Hier müsste irgendwo die Tür sein. Meine Finger fahren über die Verkleidung, aber ich kann keinen Spalt, keine Klinke finden. Vielleicht bin ich an der falschen Stelle. Zentimeter für Zentimeter arbeite ich mich vor, taste die Wand von oben bis unten ab. Ich wische Tränen aus den Augen, gehe ein paar Schritte vorwärts, dann wieder zurück,
um sicherzugehen. Mein Atem klingt, als hätte ich einen Hundertmetersprint hinter mir.
Da! Diese Stelle fühlt sich anders an. Härter. Ein Viereck innerhalb der weich gepolsterten Wand. Ich drücke dagegen und die Stelle gibt nach, schwingt zurück wie eine Tür. Aber die ist viel zu klein für mich. Mein Kopf würde durchpassen, die Schultern schon nicht mehr. Ich drücke die Klappe weiter nach hinten. Sie stößt gegen einen Gegenstand, der scharrend über den Boden rutscht. Vorsichtig stecke ich eine Hand in die Öffnung und ziehe ihn hervor. Fühlt sich an wie ein kleiner Eimer oder eine große Schüssel. Wofür soll das gut sein? Ich stelle es zurück, lasse die Klappe zu schwingen.
Auch an der nächsten Wand finde ich eine kleine Kammer. Sie enthält eine Flasche. Ich öffne sie, schnuppere und trinke einen Schluck. Der Inhalt schmeckt merkwürdig. Nachdem ich die Flasche zurückgestellt habe, krieche ich weiter. Mehr Fächer finde ich nicht.
Ich setze mich in eine der Ecken und warte. Meine Beine kribbeln und als ich mit den Händen darüber reibe, habe ich den Eindruck, dass sie dünner sind als sonst. Oder länger?
Ein Brummen schreckt mich auf. Es ist tief und lässt meinen Körper vibrieren. Dann tanzen Lichtblitze durch den Raum. Sie sind überall, schwirren umher wie Glühwürmchen. Eins taucht direkt vor mir auf. Ich greife danach, doch meine Finger spüren nur Luft.
Das Funkeln und das Brummen verschwinden. Es ist wieder dunkel und still.
„Mama?“ Meine Stimme ist unangenehm laut. „Wann kann ich wieder hier raus?“ Ich höre ein Flüstern, aber wegen des Rauschens in meinen Ohren kann ich nichts verstehen. „Du musst lauter sprechen, Mama!“ Ich weine und wische mein Gesicht mit den Ärmeln des Nachthemdes ab. Der Stoff klebt kalt auf der Haut. „Mir geht es gut! Ich werde bestimmt nicht wieder krank.“
Ich rolle mich in einer der Ecken zusammen. Vielleicht schlafe ich gerade und das ist alles nur ein Alptraum. Während ich darauf warte, dass ich aufwache, macht sich meine Blase bemerkbar.
„Ich muss mal“, rufe ich. „Mama? Pastor Karlin?“ Keine Antwort.
Ich versuche, das Gefühl zu ignorieren, doch das macht es nur schlimmer. Dann fällt mir die Schüssel in dem Fach ein. Ich krabble dorthin und ziehe sie hervor, schiebe sie wieder weg. Ich bin doch kein Kleinkind mehr, das ins Töpfchen macht.
Aber schließlich sticht die volle Blase so sehr, dass ich Angst habe, mich zu bepinkeln. Also hocke ich mich doch über die Schüssel und seufze erleichtert als der Druck endlich nachlässt. Ich stelle die Schale wieder zurück in das Fach, der warme Inhalt schwappt hin und her. Als ich mich umdrehe, steht ein Drache vor mir.
Er ist nicht zu übersehen, denn er leuchtet blau, wie das Meer, wenn man taucht und zur Oberfläche schaut.
Auf seinen Hinterbeinen stehend schaut er mich an. Ich muss an die Erdmännchen im Zoo denken. Aber das Wesen vor mir ist definitiv ein Drache – ich sehe einen Schwanz und zusammengelegte Flügel.
„Hi“, sagt er. Er hebt die Hand und ich mache es nach. Mein Hi ist so leise, dass ich es selbst nicht höre. Ich glaube, ich habe es gar nicht gesagt.
„Ganz schön duster hier drin.“
Ich nicke.
„Aber schön weich, da kann man nichts sagen.“ Er stellt sich auf seine vier Füße und wuselt durch den Raum. Wie eine Echse schlängelt er an der Wand entlang bis zur Decke. Direkt vor mir bleibt er stehen und lässt sich herunterhängen, eingehüllt in seine Flügel.
„Buh!“, sagt er und breitet die Schwingen aus.
Ich zucke zusammen und falle auf meinen Hintern. „Hey, was soll das?“
„Ich wollte prüfen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Du wirktest etwas phlegmatisch.“ Er lässt die Decke los und schwebt wie ein Blatt zu Boden.
„Was geht hier so?“ Der Drache schnüffelt den Boden ab, der Schwanz wedelt hin und her.
„Eigentlich nichts.“
Er dreht sich um, seine Flügel stellen sich auf. „Nichts? Warum bist du dann hier?“
„Ich bin krank.“
„Und hier wird man wieder gesund?“
„Ich hoffe es.“
„Wie soll man hier wieder gesund werden? Ich dachte, ihr Menschen braucht dann frische Luft und Sonne und so’n Zeug.“
„Ich weiß es nicht.“ Schon wieder kullern Tränen aus meinen Augen. So viel geweint habe ich im ganzen letzten Jahr nicht.
„Hört sich bescheuert an. Also ich würde gehen.“
„Ich kann nicht. Ich muss vertrauen.“
„Aaalles klar. Das ist überzeugend.“ Der Drache setzt sich und schaut mich mit schrägem Kopf an. „Ich bin übrigens Ezra.“
„Du bist ein Weibchen?“
„Ein Drache eben. Das reicht, oder?“
Ich nicke. „Ich heiße Merle.“ Im Schneidersitz rutsche ich näher. „Warum bist du hier?“
„Damit du nicht so allein bist.“
„Das ist lieb.“
Ezra nickt. „So bin ich.“
Mein Magen knurrt so laut, dass ich zusammenzucke. Ich lege die Hände auf den Bauch.
Der Drache zieht die Augenbrauen hoch. „Das hört sich aber nicht gesund an.“
„Ich habe nichts zu essen. Nur etwas Wasser.“ Besser als nichts, denke ich mir, und krabble zu dem Fach. Neben der Flasche spüre etwas Weiches. Ich ziehe es hervor und rieche daran. Ein belegtes Brot! Erst als ich schon kaue, denke ich an meinen Gast. „Ezra, willst du auch etwas?“
„Nee, danke. Ich brauche so was nicht.“
Nach dem Essen geht es mir besser. Ezra vertreibt Dunkelheit und Stille und der Knoten in meiner Brust lockert sich ein wenig.
Ich kuschele mich in eine Ecke. Ezra legt sich dazu, nutzt einen Flügel als Decke. Das sanfte Leuchten des Drachens beruhigt mich und meine Augen werden schwer.
„Du kannst ruhig schlafen. Ich pass auf.“
„Danke“, flüstere ich und schlafe ein.
Ich öffne die Augen und sehe nichts. Ich reibe über mein Gesicht, blinzle. Und dann fällt mir ein, wo ich bin. Ich setze mich auf und ziehe die Beine an den Körper, umschlinge sie. Ich komme mir vor wie ein Paket, das vom Wagen gefallen ist und nun vergessen in der Nacht steht. Was ist, wenn ich für immer hier drin bleiben muss? Ein Schluchzen schüttelt meinen Körper. Ich weine und weine, Rotz und Tränen reibe ich in die Ärmel meines Nachthemdes. Ich schreie und jammere in die Dunkelheit, fühle mich so alleingelassen, wie noch nie in meinem Leben. Niemand ist da, der mich tröstet. Niemand sagt mir, dass alles gut wird.
„Es wird alles wieder gut.“ Ezra sitzt vor mir und legt eine Pfote auf meinen Fuß. Der Drache schaut mich mit großen Augen an.
„Ich dachte, du warst ein Traum“, sage ich und schniefe.
„Ich bin das, was du brauchst. Vielleicht schau ich auch mal in einem deiner Träume vorbei. Wenn du möchtest.“
Ich wische mir noch einmal durchs Gesicht und lächle. „Das wär’ bestimmt schön.“
Es knackt und ein grelles Licht durchflutet den Raum. Ich rieche Vanille, dann höre ich meine Mutter: „Merle?“
„Mama!“ Halbblind torkele ich auf das Licht zu und falle Mama in die Arme. Meine Hände krallen sich in den Stoff an ihrem Rücken. „Lass mich bitte hier raus.“
Sie streichelt über meine Haare. „Natürlich, meine Kleine. Es tut mir so leid.“
Ich schaue auf, ihr Gesicht ist tränennass.
„Ich bin auch gesund. Das verspreche ich!“
„Nie wieder schicke ich dich dort hinein. Egal, was passiert.“
Ich höre ein Räuspern und sehe jetzt erst, dass auch Pastor Karlin in dem Raum steht. Seine Arme sind verschränkt, sein Blick finster.
„Es ist falsch die Behandlung abzubrechen. Sie haben doch selbst gesehen, wie sie mit einer unsichtbaren Wesenheit gesprochen hat. Sie ist eindeutig besessen!“
Meine Mama steht auf und hält meine Hand, fest und warm. „Wir gehen.“
„Die Welt muss vor solch negativen Entitäten beschützt werden. Denken Sie doch nach!“ Er stellt sich vor die Tür, versperrt den Ausgang.
„Kein Vertreter Gottes sollte zu solchen Maßnahmen greifen. Ich hätte nicht auf sie hören dürfen.“ Mama quetscht meine Finger. An ihrem Hals leuchten rote Flecken, aber sie schaut Pastor Karlin fest in die Augen. „Ich werde für sie beten, damit sie wieder auf den rechten Pfad zurückfinden.“
Pastor Karlin schüttelt den Kopf, tritt aber langsam zur Seite. Mama und ich verlassen den Raum, werden immer schneller, rennen schließlich die Treppe hinauf und stolpern aus der Tür des Gemeindehauses.
Draußen holen wir schnaufend Luft. Es regnet und trotzdem erscheint mir alles eine Spur heller, bunter und lauter, als ich es in Erinnerung habe. Es ist wunderschön.
Ich trage immer noch das kratzige Nachthemd, aber es ist mir egal. Neben mir leuchtet Ezra, fliegt einen Looping nach dem anderen, so übermütig, dass ich laut lachen muss.
Mama lächelte mich an, streicht über meine Haare. „Ich bin froh, dass es dir gut geht.“
„Das ist wohl kaum dein Verdienst!“, brummt Ezra, aber Mama reagiert nicht auf den Drachen.
Plötzlich bliebt sie stehen. „Oh, nein! Ich habe meine Handtasche vergessen.“ Sie schaut zum Gemeindehaus. „Du musst nicht mit, Merle. Ich bin sofort zurück.“
Ich nicke tapfer.
Mama entfernt sich mit zügigen Schritten. Die losen Strähnen ihres Dutts flattern.
„Wie meintest du das? Es wäre nicht ihr Verdienst?“, frage ich Ezra. „Sie hat mich aus dem Raum geholt. Sie hat mich doch gerettet.“
„Wer hat dich denn dort hinein gesteckt?“ Ezra verzieht den Mund.
„Pastor Karlin?“, frage ich und reibe mit den Händen über meine Oberarme. Der Wind treibt dunkle Wolken über den Himmel.