Der schwarze Turm
Der schwarze Turm
Ich bin von jeher phantasielos gewesen. Die Welt der zahlen ist meine Welt. Beinahe zärtlich streift mein Geist durch diese Welt der Formeln und Gleichungen. Betört von der Schönheit und Klarheit ihrer Ordnung. Ihrer Ordnung, in der kein Platz ist für Unwägbarkeiten und Überraschungen. Alles hat seinen festen Platz. Und hat schwirrt etwas ungebunden umher, so ist es nur auf der Suche nach seinem bestimmten Platz, den es gewiß gibt.
Buchstaben gegenüber war ich hingegen schon immer mißtrauisch. Wörter sind in ihrer Aussage so ungenau. Beinahe zaghaft nähern sie sich dem Objekt, daß sie zu beschreiben suchen und sind von dem Wissen gelähmt, daß sie es niemals ganz werden fassen können. Schon allein deshalb müssen meine Aufzeichnungen vage bleiben, kaum mehr als einen Eindruck dessen hinterlassend, was mir hier widerfahren ist. So schreibe ich hier auch keinen vollständigen Bericht nieder. Es sind vielmehr Notizen, auf denen die, welche mir nachfolgen, aufbauen sollen. Vielleicht wird jemand anderes kommen, die Vorfälle zu verstehen, sie auf ein wissenschaftliches Fundament zu stellen.
In meiner Jugend gab es kaum Wohnungen, in denen man zur Miete wohnen konnte. Jedenfalls kaum Wohnungen, deren Miete für jemanden wie mich auch nur annähernd erschwinglich gewesen wären.
Zu dieser Zeit war ich noch Student und bezog eine karge Unterstützung von meinen Eltern. Da das Geld für eine eigene Wohnung nicht ausreichte, ich aber unter keinen Umständen in mein Elternhaus zurückkehren wollte, quartierte ich mich vorübergehend bei diversen Freunden ein.
Bevor ich endgültig meine Hoffnung fahren ließ, eine eigene Unterkunft zu finden, erfuhr ich von einem Freund, daß draußen vor der Stadt ein Turm stand, der unbewohnt war. Er gehöre einem Adeligen, dessen Familie schon seit langem verarmt sei.
Er bot das Gemäuer gegen eine geringe Miete als Wohnung an. Da ich bereits bewiesen hatte, daß ich bei der Wahl meines Schlafplatzes nicht anspruchsvoll war, meinte mein Freund, daß jener Turm genau das Richtige für mich sei.
Schon am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg zu dem verarmten Adeligen. Mein Freund hatte sich glücklicherweise die Adresse notiert.
Ich fand das Haus des Adeligen schon nach kurzer Suche. Da ich mich normalerweise bei Wegbeschreibungen äußerst ungeschickt anstellte, nahm ich diesen Erfolg als ein glückverheißendes Vorzeichen.
In guter Stimmung klingelte ich. Erst nach dem dritten Klingeln wurde mir geöffnet. Aussehen und Kleidung des Adeligen standen im Gegensatz zu der Gegend, in der er wohnte. Sein Haus und auch die Nachbarshäuser, wiesen unübersehbare Zeichen des Verfalls auf. Zwar schien die Gegend gepflegt, doch abbröckelnder Putz und rostende Gartenzäune zeigten dem Fremden, daß den Bewohnern der Straße das Geld für Reparaturen, die das nötigste überstiegen, fehlte.
Mein überaus elegant gekleideter Gegenüber bat mich höflich einzutreten und führte mich in sein Wohnzimmer. Seine Gestik erweckte in mir den Eindruck, als wolle er mich in den Salon führen, um mir einen Cognac anzubieten, ehe man das Geschäftliche zu besprechen in die Bibliothek übersiedeln würde.
Tatsächlich bot er mir einen Kaffee an, doch ich lehnte ab.
„Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich mich für den Turm interessiere, der sich in Ihrem Besitz befindet. Ich habe gehört, er wäre zu mieten.“
„In der Tat, das ist er“, sagte der Adelige.
„Ich suche dringend eine Wohnung. Die abgelegene Lage schreckt mich nicht, wenn die Miete nicht zu hoch ist.“
„Daran wird es gewiß nicht scheitern“, beteuerte mein Gegenüber. Ich hatte den Eindruck, als wolle er noch etwas hinzufügen, hätte es sich dann aber anders überlegt.
Über den Mietpreis und die anderen Mietbedingungen wurden wir uns schnell einig. Ich war so froh endlich eine Wohnung gefunden zu haben, daß ich gar nicht daran dachte sie vorher noch zu besichtigen. Ich hielt es nicht für so wichtig. Auch das der Adelige merkwürdig herumdruckste, um dann doch nicht mit der Sprache herauszurücken, beunruhigte mich nicht.
Darüber daß der Zustand des Turmes nicht der war, den er mir beschrieb, war ich mir im Klaren. Wenn es zu arg wäre, dachte ich bei mir, könnte ich immer noch aussteigen.
Den schweren Eisenschlüssel in der Tasche machte ich mich am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg. Ich fuhr das erste Stück mit der Bahn, verzichtete dann aber auf den Bus, da ich den Triumph auskosten wollte. Zum Turm war es auch nicht sehr weit. Die fahrt mit Bus und Bahn hätte vielleicht länger gedauert, als mein Fußmarsch.
Nach zwei Stunden stand er vor mir. Umgeben von einem Wäldchen dunkler Tannen, erhob er sich ungefähr einen Kilometer vor der Stadtgrenze. Es war kein Turm mit einem kleinen, flachen Haus, das sich schüchtern an seinen Fuß kauerte als Wohnstatt, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Es war nur der breite Turm, wohl an die zwanzig Meter im Durchmesser und sieben Meter hoch. Er war aus zyklopischen schwarzen Steinen erbaut, die aus der Nähe noch imposanter wirkten, als aus der Ferne.
Ich wunderte mich auch, daß dieses Bauwerk nicht zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehörte, obwohl es auf jeden Betrachter beeindruckend wirken mußte. Von dem Turm ging eine ehrwürdige Atmosphäre aus, die mich eigentümlich berührte.
Der eiserne Schlüssel ließ sich mühelos im Schloß umdrehen, das auch keine Spuren von Rost aufwies, obwohl es so alt wie der Turm selbst zu sein schien. Aber auch der Turm hatte der Zeit keinen Tribut zollen müssen. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß er bei seiner Fertigstellung anders ausgesehen hatte, als er sich mir jetzt darbot.
Auch das Innere war sorgsam gepflegt. Ich hatte modrige, jahrhundertealte Luft erwartet, aber es schien vielmehr, als habe jemand vor kurzem erst gründlich gelüftet.
Die erste Besichtigung ergab eine akzeptabel eingerichtete Küche im Erdgeschoß und ein fürstlich eingerichtetes Schlafzimmer im ersten Stock. Das wuchtige Doppelbett war nicht anders als imposant zu bezeichnen. Den Ausmaßen zu urteilen mußte man den Turm um das Bett herum errichtet haben. Sicher brauchte es keinen Vergleich mit dem Lager des Odysseus scheuen. Auch sonst konnte ich keine Mängel entdecken, das Dach schien dicht zu sein und die Wände stabil. Ich konnte mir keinen Grund denken, warum der Adelige so billig vermietete, außer der abgelegenen Lage vielleicht.
Wie es schien hatte ich mit dem Turm einen außergewöhnlichen Coup gelandet. Aber der erste Eindruck kann trügerisch sein.
Am nächsten Tag zog ich ein. Viel hatte ich ja auch nicht in den Turm zu schaffen. Das häufige Umziehen hatte meine Habe gering gehalten.
Nachdem ich mich eingerichtet hatte, ließ ich mich auf das Bett fallen. Ich muß wohl eingeschlafen sein, das nächste, an das ich mich erinnere, war die Nacht, die durch die kleinen schießschartenartigen Fenster eingelassen wurde.
Von einem Porträt aus funkelte mich ein Ahne des Adeligen böse an. Schaudernd zog ich die Decke fester um mich. Augenblicke später schalt ich mich einen Narren, daß ich mich von dem Porträt eines pockengesichtigen Blaublüters ängstigen ließ. Ärgerlich schälte ich mich aus der Decke und ging in die Küche, mir ein Abendbrot zu bereiten. An Schlaf war diese Nacht wohl nicht mehr zu denken.
Während ich lustlos aß, lernte ich. Aber ich war nicht recht bei der Sache. Immer wieder ertappte ich mich dabei, daß ich die Buchseiten anstarrte, ohne sie wahrzunehmen, während meine Gedanken woanders waren. Oder ich las eine Passage und konnte mich Augenblicke später nicht mehr an das Gelesene erinnern. Nach zwei Stunden gestand ich mir ein, daß es keinen Sinn hatte.
Ich ging wieder hoch und legte mich hin. Vielleicht konnte ich wenigstens ein wenig dösen.
Im Dunkeln konnte ich das Porträt nicht ausmachen, aber ich wünschte ihm eine gute Nacht. Meine Stimme klang eigentümlich in dem leeren Turm.
Wie lange ich geschlafen hatte, konnte ich am nächsten Morgen nicht genau sagen, aber ich fühlte mich kaum ausgeruhter als zuvor. Ich hatte seltsame Dinge geträumt, von denen mir im Nachhinein aber nichts im Bewußtsein geblieben war, außer eben daß sie seltsam gewesen waren.
Da es draußen ruhig war, nahm ich an, daß es noch früh am Morgen sei, doch als ich an das Fenster trat, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Meine Vorlesung hatte ich verschlafen, soviel stand fest. Ich machte mir aber nichts daraus und bereitete mir ein üppiges Frühstück. Das Essen und vor allem der Kaffee, taten mir gut. Ich fühlte mich gestärkt genug, um etwas zu lesen.
Am späten Nachmittag wollten Freunde kommen, um zu feiern, daß ich endlich eine Wohnung hatte. Da ich keine Uhr besaß, beschloß ich den Turm nicht zu verlassen. Ich wollte nicht, daß meine Freunde einträfen, während ich draußen mit irgendwas beschäftigt wäre.
Aber schon während ich mir das überlegte, kündigte sich das erste Problem an. Im Turm gab es keine Sanitären Einrichtungen. Man hatte das Klo und eine Dusche außerhalb des Turms in einem kleinen Häuschen untergebracht. Danach zu suchen war mir bis jetzt noch nicht eingefallen. Aber weit konnte es ja nicht weg sein.
Ich fand es schließlich bei einer alten Eiche, von den herabhängenden Ästen fast völlig verdeckt. Von der Eiche aus war der Turm nicht zu sehen. Tiefhängende Äste und dichtes Gestrüpp versperrten die Sicht.
Die Sonne stand zwar deutlich sichtbar am Himmel, aber die Uhrzeit auch nur ungefähr zu bestimmen, war mir unmöglich. Ich erinnerte mich zwar vage an diesbezügliche Unterrichtsstunden in der Schule, aber nicht genug, um daraus die Technik vom Stand der Sonne aus auf die Uhrzeit zu schließen, rekonstruieren zu können. Ich machte sogar den Versuch eine Sonnenuhr zu konstruieren. Aber die angezeigte Zeit war mehr als unglaubwürdig. Schließlich gab ich es auf. Ich würde wohl bei nächster Gelegenheit in eine Uhr und einen Wecker investieren müssen.
Ich ging nicht sofort in den Turm zurück und untersuchte noch ein wenig die nähere Umgebung. Hinter dem Wäldchen erstreckten sich Weiden, auf denen Schafe friedlich grasten. Ich stand am Rand des Wäldchens und beobachtete sie eine Weile.
Im Turm war es im Gegensatz zu der draußen herrschenden Schwüle, angenehm kühl. Ich beschäftigte mich mit Lesen und dem Anfertigen von Notizen.
Die mir unbekannte Zeit verstrich, doch niemand erschien. Schließlich legte ich mich für ein Nickerchen wieder hin.
Vor mir stand eine Frau, in Toga und Tunika gekleidet, mit vergoldeten Sandalen an den Füßen. Die Nägel waren rot lackiert. Ihr schwarzes Haar umrahmte ihr blasses Gesicht, in dem zwei grüne Augen zu glühen schienen. Abrupt wandte sie sich ab.
Ich stand frierend an die Wand gekettet. Der Gestank von schimmelnden Stroh und verwesenden Ratten betäubte mich. Meine Hände waren an einen Ring über meinen Kopf gekettet, ansonsten war ich nackt, bis auf einen Lendenschurz. Jede unbedachte Bewegung ließen die Fesseln tiefer in meine Haut eindringen.
Stunden verstrichen, ohne daß etwas geschah. Das Erlahmen meiner Arme, daß zunächst nur lästig gewesen war, verschlimmerte sich. Der Schmerz breitete sich in Wellen über meinen Körper aus, bis jeder Muskel ein einziges Ziehen und Stechen war. Dazu noch ein Gefühl, als würde ich beobachtet. Wieder und wieder ließ ich meinen Blick über die Wände meiner Zelle wandern, auf der Suche nach einem etwaigen Guckloch. Aber ich konnte nichts entdecken. Irgendwann war ich soweit, daß die geringste Bewegung meines Kopfes mir höllische Schmerzen bereitete. Von da an blickte ich zu Boden und versuchte die Schmerzen zu ertragen. Ich hoffte, daß ich in Ohnmacht fallen würde.
Es dauerte eine Weile, ehe ich meine Gedanken wieder sortiert hatte, nachdem ich erwacht war. Draußen dämmerte der Abend heran. Meine Freunde schienen entweder nicht gekommen zu sein oder ich hatte bei ihrer Ankunft so fest geschlafen, daß sie unverrichteter Dinge wieder abgezogen waren.
Was für ein seltsamer Traum. Eine ganze Weile noch fühlte ich mich wie zerschlagen. Vor allem die Handgelenke und die Schultern schmerzten, als hätte ich sie in letzter Zeit überbeansprucht. Eine Zeitlang glaubte ich mich auch beobachtet, bis ich mich zusammenriß und mein Abendessen zubereitete.
Träume sind Äußerungen des Unterbewußtseins, aber nichtsdestoweniger irreal, sagte ich mir. Ich redete mir ein, daß es an mir sei, was ich träumte, während ich gleichzeitig neugierig war, was mein Unterbewußtsein mir mitteilen wollte. Auf diesen Traum konnte ich mir jedenfalls keinen Reim machen.
Als ich müde wurde, ging ich ins Bett, halb in der Hoffnung traumlos zu schlafen, halb das Ende zu erfahren.
Ich schlief die ganze Nacht durch, ohne irgendetwas zu träumen. Es war Samstag und ich beschloß konzentriert für meine bevorstehende Klausur zu lernen. Ich konnte es mir beim besten Willen nicht leisten unvorbereitet in die Biologieklausur zu gehen. Ich konnte mich so schon glücklich schätzen, wenn ich den Schein bestand.
Es gelang mir einfach nicht meine Augen länger als ein paar Minuten am Stück offenzuhalten. Ständig fielen sie mir zu und die Versuchung sie geschlossen zu lassen, sich in Morpheus sanfte Arme zu flüchten, war zu groß, um ihr auf Dauer zu widerstehen. In dem Augenblick, indem meine Wimpern sich berührten, entspannte sich mein Körper und mein Geist glitt in den Schlaf.
Schließlich gab ich es auf. Ich wollte ja lernen, aber es ging nicht. Es ging einfach nicht.
Ich überlegte, daß mir frische Luft vielleicht gut tun würde. Bei dieser Gelegenheit könnte ich auch ein paar Einkäufe erledigen.
Als ich auf dem Weg in die Stadt war, stellte ich ungläubig fest, daß ich mit jedem Meter mit dem ich mich von dem Turm entfernte, lebendiger wurde. Als ich die Fußgängerzone erreichte, war meine einstige Müdigkeit nur noch eine Erinnerung, wie aus weit zurückliegenden Zeiten. Dabei war es keine zwei Stunden her, daß ich mir alle paar Minuten schlaftrunken die Augen gerieben hatte.
In mir keimte der Gedanke auf, daß der Turm vielleicht Schuld an meinem Zustand gewesen sein könnte. Ich fand es selber absurd, aber die frische Luft allein konnte mich unmöglich so aufgemuntert haben.
Es reizte mich, diese abwegige Theorie zu überprüfen und so kehrte ich so schnell wie möglich zum Turm zurück.
Lange Zeit blieb ich auf dem Bett sitzen und las einem Buch über Traumdeutungen. Aber natürlich wurde ich nicht müde. Ich war wohl zu aufgeregt oder zu angespannt. Als ich gegen Morgen endlich einschlief, war mein Schlaf kurz und traumlos.
Als ich aufwachte, gab ich meine Theorie auf und fing endlich zu lernen an.
Ihre Blicke taxierten mich. Da ich nichts dagegen unternehmen konnte, sah ich zu Boden und erwartete gleichgültig mein weiteres Schicksal.
Der Boden hatte sich vollständig und unbegreiflich verändert. Das verschimmelte Stroh war verschwunden, ebenso wie die ohne Unterlaß huschenden und piepsenden Ratten. Stattdessen war er mit weichen Teppichen und kostbaren Fellen ausgelegt, die meine Fußsohle bei jeder Bewegung sanft streichelten.
Als ich meine Arme zu bewegen versuchte, bemerkte ich, daß sie nicht mehr an den Ring gekettet waren. Sie waren stattdessen so lose angebunden, daß es mir geradezu eine Aufforderung schien sie abzustreifen und meine Arme herunterzunehmen.
Ein vorsichtiger Blick bestätigte meine Vermutung, daß die geheimnisvolle Frau keine Anstalten machte mich daran zu hindern. Sie verzog nicht einmal eine Miene. Der kleine Erfolg hatte mich mutig gemacht und ich tat einen Schritt nach vorne.
Ein Ruck machte mir den Eisenring um meinen Hals schmerzhaft bewußt.
„Erste Lektion: Wenn du dich nicht bewegst, spürst du deine Ketten nicht, und“, hier lächelte sie, „du wirst vielleicht sogar noch belohnt.“
Ich erwachte über meinen Büchern, über denen ich eingeschlafen war. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mir nicht befehlen zu träumen oder die Art des Traumes bestimmen. Eigentlich nicht überraschend, aber ich dachte, wenn man vor dem Einschlafen über den Traum nachdenkt, ihn sich nacherzählt, müßte man im Schlaf doch den Faden weiterspinnen können. Im Prinzip könnte man auch im wachen Zustand den Traum fortführen. Man müßte nur versuchen sich zu entspannen und die Gedanken fließen zu lassen, so daß man keine Kontrolle ausübt. Das Ergebnis wäre dann so etwas ähnliches wie ein Traum. Theoretisch.
Den übrigen Nachmittag verbrachte ich damit die Gegebenheiten meiner Träume niederzuschreiben. Ich kommentierte auch die Stellen, die mir auffällig erschienen, aber ich traute mich noch nicht Schlüsse zu ziehen. Ich wollte keine Theorien aufstellen, weil ich fürchtete mich dann zu sehr darauf zu konzentrieren Anhaltspunkte für ihre Richtigkeit zu suchen und dabei etwas zu übersehen. Ich wollte streng wissenschaftlich vorgehen.
Die Neugierde hatte mich gepackt, aber gleichzeitig beschlich mich auch ein ungutes Gefühl. Ich dachte einmal daran meine Sachen zu packen und aus dem schwarzen Turm auszuziehen. Ich schob den Gedanken aber als Anflug von Feigheit beiseite.
Am Abend bereitete ich mir noch ein Essen und blieb ansonsten sehr passiv. Ungeduldig erwartete ich meinen nächsten Schlaf. Bevor ich nicht hinter das Geheimnis meiner Träume gekommen wäre, würde ich ohnehin nichts vernünftiges zustande bringen.
Mir Gegenüber war ein junges Mädchen angekettet, in der selben Haltung, zu der man mich gezwungen hatte. Im Unterschied zu mir war sie jedoch vollständig bekleidet. Sie trug ein Kleid aus hellblauen Leinen und hatte offenes blondes Haar. Auch sie war bei Bewußtsein und blinzelte zu mir herüber. Dabei verlagerte sie ihr Gewicht auf ihr linkes Bein, das durch einen Schlitz im Kleid sichtbar wurde. Es war lang und schlank. Auf der Haut lag ein matter Glanz.
Die Türe der Zelle wurde geöffnet und die Frau trat ein. Im Vergleich mit ihr schnitt die an die Wand gekettete schlecht ab, wie eine Katze im Vergleich zu einem Geparden.
Die Frau lächelte wie immer spöttisch.
„Habt ihr beiden euch schon bekannt gemacht? Nein? Wenn ihr zu schüchtern seid, nehme ich euch das gerne ab. Das ist Oda, vom Stamme der Allemannen. Im Gegensatz zu den Barbarenfrauen, die ich bisher gesehen habe, ist sie geradezu zerbrechlich. Und das ist Selim, halb Römer, halb Ägypter. Eine interessante Mischung, wie ich finde.“
Mit diesen Worten löste sie meine Fesseln und danach die der Germanin. Ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ sie die Zelle und ließ uns mehr oder weniger frei zurück. Wir taumelten einige unsichere Schritte nach vorne, bis wir uns gegenüberstanden, ohne daß wir einander ein Ziel gewesen wären. Unsere Knie zitterten nach der langen Zeit der Untätigkeit wie nach einem durchstandenem Schrecken.
Mein Blick ging zu der Türe, die zwischen uns und der Freiheit lag. Aber wahrscheinlich war hinter dieser Türe noch eine weitere und dahinter noch viele andere. Von der Freiheit waren wir weiter entfernt, als der Mond von Erde.
Warum hatte sie unsere Fesseln gelöst? Warum nicht? Was konnten wir schon mit unseren Armen und Beinen anfangen. Wir konnten sie von uns werfen, wild mit ihnen fuchteln oder sie windmühlengleich kreisen lassen, aber einen Nutzen hatten wir nicht davon, solange jene Türe noch verschlossen war.
Die Germanin tappte unsicher in unserem Kerker umher. Sie tastete sich an den Mauern entlang, bis sie an die Türe kam. Sie war aus massivem Holz und mit schwerem Eisen beschlagen. Wenn man versuchen wollte sie einzuschlagen, konnte man sich genauso gut die Mauern vornehmen. Ohne Werkzeug gab es kein Entkommen. Mit Werkzeug auch nur ein theoretisches.
Die Germanin rüttelte an der Klinke. Der Riegel war von außen vorgeschoben. Ihre Schultern zuckten plötzlich, wie unter Weinkrämpfen. Erst als ich ihr Schluchzen hörte, begriff ich, daß sie tatsächlich weinte.
Ich ging zu ihr hin und legte meinen Arm um ihre Schultern, um sie zu trösten, doch sie wandte sich nach mir um. Erstaunt bemerkte ich, daß sie plötzlich nackt war. Sie preßte ihren Mund auf den meinen und nach einem Augenblick des nicht begreifens wurde ein Kuss daraus. Ich spürte ihre Hände unter meinen Schurz wandern. Ich packte ihre Handgelenke. Sie verstärkte ihre Bemühungen, gab sie dann aber plötzlich auf.
Ich erwachte. Verwirrt blickte ich mich um, ehe mir bewußt wurde, wo ich mich befand und ich den Traum endgültig abgeschüttelt hatte. Alles war mir noch präsent, was ich geträumt hatte, die Gefühle, die ich empfunden hatte, jedes kleinste Detail. Sogar der Geruch der Haut der Germanin. Alles war so realistisch gewesen, daß es mir schwer fiel zu sagen, daß es tatsächlich nur geträumt und nicht Bestandteil einer echten Erinnerung war.
Um meine Gedanken zu ordnen, nahm ich meine Notizen zur Hand und ergänzte sie.
Bei der anschließenden Durchsicht, fielen mir einige Absonderlichkeiten auf, die ich mir zuvor damit erklärt hatte, daß ein Traum keine Realität ist und daher auch nicht den Gesetzen der Realität folgen muß. Seit dieser Nacht war ich mir da nicht so sicher.
Aufgefallen war mir, daß die Frau in meinem ersten Traum einfach verschwunden war. Weder erinnerte ich mich daran, daß sie den Kerker verlassen hatte, noch daß sie sich in ihm befunden hätte. Ich hatte ausdrücklich vermerkt, daß sie sich zum Ende meines Traumes hin nicht mehr in der Zelle befand. Im zweiten Traum hatte sich die Beschaffenheit der Zelle grundlegend verändert, doch meine Notizen über Ausmaße und Besonderheiten des Raumes ließen nur den einen Schluß zu, daß es sich beide Male um denselben Raum, in zwei verschiedenen Zuständen handelte. War es möglich, daß mein Traum unabhängig von mir wieterlief und daß die von mir geträumten Episoden bloße Augenblicke meiner Anwesenheit in meinem eigenen Traum waren? Im dritten Traum war es am deutlichsten. Die Germanin trug ein blaues Leinenkleid, doch beim Kuß war sie nackt. Als ich sie umarmen wollte, war es noch da, als sie mich küßte, war es schon fort. Selbst im Traum war mir das aufgefallen.
Ich schloß die Augen für einen Augenblick. Als ich sie wieder öffnete, funkelte mich das Porträt böse an. Die Augen des Gemalten ruhten auf mir und der Mund war zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Ich zwinkerte und alles war wieder wie zuvor. Nur die Augen schienen noch auf mir zu ruhen, aber das ist ein bekannter Trick. Dennoch lief mir ein Schauer über den Rücken. Und als ich mir mit dem Handrücken über die Stirn fuhr, war sie naß vom Schweiß.
Es war heiß im Turm geworden und ich ging zum Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Es klemmte und ließ sich weder mit Fingerspitzengefühl, noch mit roher Kraft bewegen. Ich ging zur Türe herunter. Dasselbe. Ich probierte, ob ich sie abgeschlossen hatte. Der Schlüssel ließ sich mühelos im Schloß herumdrehen, aber der Riegel rührte sich nicht.
Nach mehr als einer Stunde gab ich verzweifelt auf. Ich war im Turm gefangen, ohne ein Telephon, um Hilfe zu rufen.
Die Germanin war fort und ich wieder allein. Warum hatte man sie fortgeschafft? Weil ich ihren Annäherungsversuch abgewiesen hatte? Aber wer konnte ein Interesse daran haben, daß wir miteinander schliefen, obgleich das seltsame, gegenseitige Vorstellen, dadurch einen Sinn bekäme. Auch daß die Frau unsere Fesseln gelöst hatte. Ja, es war ganz offensichtlich. Wir sollten miteinander schlafen und als ich mich verweigerte, hatte man die Germanin fortgeschafft. Ich meinte auch mich zu erinnern, daß in ihrem Kuß etwas verzweifeltes gelegen hätte. Vielleicht würde man sie dafür bestrafen, daß es ihr nicht gelungen war mich zu verführe. Nein, das ist wohl nicht der richtige Ausdruck dafür. Irgendetwas in der Richtung.
Ich wollte ihr helfen, unseren Peinigern klarmachen, daß es nicht ihre, sondern meine Schuld gewesen war, daß sie um ihr voyeuristisches Vergnügen gekommen waren.
Um auf mich aufmerksam zu machen, begann ich zu rufen und zu schreien. Als niemand kam, verlegte ich mich darauf sie zu beschimpfen. Irgendwann ging es mir nicht mehr nur darum sie zu provozieren. Ich machte auch meiner ganzen angestauten Wut und meinem Haß Luft, indem ich sie verfluchte.
Endlich wurde die Kerkertüre geöffnet. Wie immer kam die Frau allein. In dem Augenblick, als sie die Türe hinter sich schloß, glaubte ich einen Fluchtweg entdeckt zu haben. Ich war gewiß immer noch stärker als sie. Ich würde sie überwältigen. Der Rest würde sich irgendwie ergeben. Daß sie sich völlig sicher zu fühlen schien und sich ohne erkennbare Sicherheitsvorkehrungen in die Zelle wagte, gab mir nicht zu denken. Es stachelte im Gegenteil meine Wut noch mehr an, daß sie mich so gering schätzte.
Wieder setzte sie ihr überhebliches Lächeln auf und taxierte mich mit prüfenden Blicken. Doch diesmal hielt ich ihren Blicken stand, forderte sie sogar noch heraus.
„Oda hat dir also nicht gefallen“, stellte sie fest. „Welches Weibchen würde dir denn zusagen, ein rothaariges mit kleinen Brüsten, üppige Blondine, zarte Brünette, stupsnasig, farbig oder doch lieber asiatisch?“
Vor meinen Augen verwandelte sie sich. Ihre Haare wechselten die Farbe, Form und Länge, wie auch sie größer oder kleiner wurde, Asiatin oder Afrikanerin, sich Form und Größe ihrer Brüste änderten und ihre Augen alle erdenklichen Farben annahmen, ehe sie wieder die schwarzhaarige Frau wurde, als die sie mir bisher erschienen war.
„Welche?“ fragte sie und ich wich vor dem Klang ihrer Stimme zurück.
Als ich wieder in imstande war sie anzusehen, lächelte sie mich spöttisch, mit schmalen, schön geschwungenen Lippen an, doch als sie sie wie zum Kuß spitzte, waren sie voll und rot geschminkt.
„So wie du bist, gefällst du mir am liebsten“, krächzte ich.
„Tatsächlich?“ Die Frau hob überrascht eine Augenbraue und näherte sich mir. Als sie meine Kette löste, schmiegte sie sich an mich. Ich spürte durch den Stoff der Tunika hindurch, wie ihre Brustwarzen sich aufrichteten.
Als ich frei war, löste sie die Spange an ihrer Schulter und stand nackt vor mir. Mit einem Ruck zog sie mich zu sich und umfaßte meine Hüfte. Dann packte ich zu.
Meine Hände legten sich um ihren Hals und ich drückte zu. Ich hörte sie keuchen und spürte, wie sie sich wehrte. Sie war stärker, als ich gedacht hatte. Aber je mehr sie sich wehrte, desto fester drückte ich zu, bis sie plötzlich leblos in sich zusammensank.
Ich war mir nicht sicher, ob ich sie getötet hatte und es war mir auch egal. Ich ließ sie langsam zu Boden gleiten und sah sie mir noch einmal an. Etwas war eigenartig an ihr. Die Konturen ihres Körpers schienen unscharf zu sein und im fahlen Licht der Zelle zu flackern. Als ich die Augen zusammenkniff, verschwammen sie noch mehr, bis die schwarzhaarige Frau zu allen Frauen wurde.
Die Zellentüre war nicht verschlossen. Ich taumelte hindurch und fiel hart. Es war Tag und die Sonne stand schon hoch am Himmel. Es war Mittag oder schon darüber hinaus. Die Blätter an den Bäumen wiegten sich leise rauschend im Wind.
Als ich mich umwandte, erhob sich hinter mir der schwarze Turm. Die Tür, durch die ich gestolpert war, stand noch offen. Ich konnte im Inneren den Tisch sehen, auf denen meine Bücher aufgeschlagen lagen, wie ich über ihnen eingeschlafen war. Ich ging hinein, sie zu holen.