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Der schwarze Spiegel
Ich fühlte mich seit dem Aufstehen wie ausgehöhlt. Als hätte etwas mein Wohlbefinden mit einem Schaber herausgekratzt. Nachdem ich meine Arbeit in der Bibliothek beendet hatte, beschloss ich, den Flohmarkt auf dem alten Industriegelände zu besuchen. Ich glaubte nicht ernsthaft daran, dass mir das Betrachten von Ramsch zwischen den Betonmauern der alten Industriegebäude helfen würde, mich besser zu fühlen. Aber diese Idee war besser als einfach nach Hause zu gehen.
Der Flohmarkt auf dem alten Industriegelände war an diesem grauen Tag im Oktober nur spärlich besucht. Nach den Mienen der Verkäufer zu urteilen, war die Kundschaft den ganzen Tag über größtenteils ausgeblieben. Einige Händler räumten bereits ihre Waren weg, während andere trübsinnig vor sich hinstarrten und an dampfenden Plastikbechern nippten.
Ich wühlte mich durch eine Bücherkiste mit Groschenromanen, wandte mich aber schnell wieder ab und ging weiter. In dem fahlen Licht sahen die Stände trostlos aus und kein Tisch brachte mich dazu, stehenzubleiben und mir die Angebote anzusehen.
Am Ende der Reihe mit Ständen fiel mir ein Mann auf, welcher bereits seine Waren in einen schwarzen Transporter lud. Die altbackenen kleinen Möbelstücke und Dekorationsartikel, welche ich beinahe als anstößig empfand, besaßen eine eigenartige Anziehungskraft. Die Leere in mir verwandelte sich in stechende Kälte, was aber nicht an den Waren lag. Der Mann selbst erzeugte dieses Gefühl in mir. Sein fahriger Blick huschte über seinen Kram und er hievte mit unkoordinierten Bewegungen die Sachen in seinen Transporter. Sein Gesicht hatte eine Farbe wie die Betonwände der alten Industriegebäude um uns herum. Auf den ersten Blick hielt ich ihn für einen alten Mann, aber als ich langsam auf ihn zuging, bemerkte ich, dass er nicht viel älter als Anfang dreißig sein konnte. Das unbehagliche Gefühl in mir schwoll an und dennoch schaffte ich es nicht, meinen Schritt zu verlangsamen oder die Richtung zu wechseln. Etwas zog mich zu ihm hin. Ich stellte mich direkt vor seinen Stand. Er lud eine bunte Tischlampe auf die Ladefläche, drehte sich zu mir um und zuckte zusammen.
»Oh. Hallo. Wie kann ich helfen?«
Seine Stimme kratzte und klang als würde er höher sprechen als üblich.
»Ich sehe mich nur um, danke.«
Er betrachtete mich noch einen Augenblick, zwang sich zu einem Lächeln, drehte sich von mir weg und belud weiter seinen Transporter. Ich beschaute seine Waren und stellte fest, dass die Gegenstände auf eigenartige Weise zusammenpassten. Als stammten sie aus einem Haushalt.
Mir fiel ein mannshoher Spiegel mit einem schwarzgestrichenen verschnörkelten Holzrahmen auf. Die Spiegelfläche war mit einer Schutzfolie abgeklebt.
»Der Spiegel. Was kostet der?«
Der Mann stellte eine Kiste ab und betrachtete den Spiegel. Er legte seine Stirn in Falten und sein Blick wurde hoffnungsvoll und Erleichterung schien ihn zu überkommen.
»‘n Zwanziger.«
Ich gab ihm das Geld. Er packte mir den Spiegel in Luftpolsterfolie ein.
Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, warum ich diesen Spiegel gekauft hatte, obwohl er mir überhaupt nicht gefiel. Aber das Gefühl der Leere und der Kälte war verschwunden.
Als ich in meinem kleinen Haus am Stadtrand ankam, stellte ich den eingepackten Spiegel im Wohnzimmer ab und ging in die Küche. Ich schenkte mir ein Glas Rotwein ein, ging zurück ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und überlegte, wo ich den Spiegel aufstellen würde. Mein Kater Houdini sprang auf die Couch und legte sich hin. Ich kraulte ihn und wir starrten gemeinsam den eingepackten Spiegel an. Ich beschloss, mich am nächsten Tag um den richtigen Platz für den Spiegel zu kümmern. Es war Freitag und ich musste am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Ich trank noch einen Rotwein, wonach ich mich schwer fühlte und ins Bett ging. Kurz nachdem ich die Augen geschlossen hatte, schlief ich ein.
Ein heftiges Unwetter war aufgekommen, als ich aufwachte. Dicke Regentropfen schlugen gegen das Fenster und der Wind wehte ums Haus, was wie ein anhaltender Schrei eines alten Mannes klang. Aber deswegen war ich nicht aufgewacht. Ein Albtraum, den ich mit dem Aufwachen vergessen hatte, riss mich aus dem Schlaf. Ich war nassgeschwitzt, fühlte mich fiebrig und in meinem Mund lag der Geschmack von schlechtem Hammelfleisch. Ich stieg aus dem Bett und holte mir ein Glas Wasser in der Küche. Als ich den Wasserhahn aufdrehte, ließ mich ein lauter Donnerschlag zusammenfahren. Houdini fauchte und knurrte im Wohnzimmer. Ich ging ins Wohnzimmer, schaltete eine kleine Lampe ein und sah den Kater stocksteif mitten im Raum stehen. Sein Schwanz war aufgeplustert und seine Augen hatte er weit aufgerissen. Ich streichelte ihm über den Kopf, um ihn zu beruhigen. Aber Houdini schien mich nicht wahrzunehmen. Er starrte in die Ecke und murrte. Ich folgte seinem Blick mit meinem. Als ich die Stelle erreichte, die Houdini anstarrte, fühlte sich der Boden unter meinen Füßen an wie ein Moosfeld. Meine Füße schienen im Boden ungleichmäßig zu versinken und ein leichter Schwindel überkam mich. Mir wurde heiß, als würde mein gesamtes Blut in meinen Kopf schießen und hinter meinen Schläfen spürte ich ein starkes Pochen.
In der Ecke stand der Spiegel. Das Verpackungsmaterial war heruntergerissen und lag zusammengeknüllt auf dem Boden. Meine Gedanken fingen an zu rasen. Ein Einbruch schloss ich sofort aus, da etwas anderes viel wahrscheinlicher war. Ich war schlafgewandelt. Wieder. Bereits als Kind war ich oft nachts unterwegs. Mein Unterbewusstsein wollte wohl mit dem Auspacken des Spiegels nicht warten.
Langsam ging ich auf den Spiegel zu, der in dem schummrigen Licht der kleinen Lampe besser als im grauen Tageslicht aussah. Und erstmals sah ich die Spiegelfläche ohne Folie. Da sie auf dem Flohmarkt bereits abgeklebt war, vermutete ich, dass etwas damit nicht in Ordnung sei. Ein Riss oder ein Sprung. Etwas, was die perfekte Spiegelfläche verunstaltete. Aber die Oberfläche war makellos.
Ich sah mir selbst im Spiegel dabei zu, wie ich auf mich zugelaufen kam. Mit einer eigenartigen Faszination starrte ich auf mein Spiegelbild. Irgendetwas stimmte nicht. Dies war nicht mein normales Spiegelbild. Nicht, dass ich etwas nüchtern benennen konnte, was mir eigenartig vorkam. Mir schien bloß, dass dort ein winziges unsichtbares Detail vorhanden war, welches dort nicht hingehörte. Ich stand direkt vor dem Spiegel und betrachtete mich eine Weile. Plötzlich meinte ich etwas zu entdecken. Oder eher eine Ahnung zu bekommen. Ich sah ein weiches Flimmern in der Spiegelung.
Ich rieb mir die Augen und schob die Einbildung auf meine Fiebrigkeit. Meine Lunge rasselte beim Einatmen und ich begann zu husten. Wahrscheinlich habe ich mir etwas eingefangen, dachte ich und beschloss mich wieder zurück ins Bett zu legen. Meine Beine fühlten sich auf dem Weg in das Schlafzimmer schwer und träge an. In meinem Kopf spürte ich ein monotones Rauschen wie bei einer Empfangsstörung. Im Bett fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
Einige Stunden später wachte ich wieder auf. Mein Mund war ausgedorrt und in meinem Kopf schlug etwas mit einem Paukenschlägel auf meine Nervenstränge. Ich fror so stark, dass sich meine Hände und Füße taub anfühlten. Das Unwetter war vorüber und der Morgen dämmerte bereits. Ich stand auf und spürte, dass sich meine Beine noch immer schwer anfühlten. Aus dem Kleiderschrank holte ich mir die dickste Wolldecke, die ich besaß, und schlang sie mir um.
In der Küche setzte ich Wasser auf. Ich füllte Houdinis Fressnapf mit Katzenfutter und stellte ihn klappernd auf den Boden. Erst als ich heißes Wasser über den Teebeutel goss, fiel mir auf, dass Houdini nicht wie üblich zum Fressen gekommen war. Ich rief ihn einige Male, ging ins Wohnzimmer, sah im Schlafzimmer nach. Allerdings konnte ich ihn nirgends finden. Ich setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und versuchte durch den dichten Nebel in meinem Kopf zu blicken. Meine Erinnerungen an letzte Nacht waren undeutlich wie die an einen Traum. Ich starrte in den Spiegel und der Nebel in meinem Kopf wurde immer dichter. Alles in meinem Kopf begann sich zu drehen, als wäre ich in einen Fiebertraum gefallen. Ich bildete mir ein, tiefes und höhnisches Gelächter und immer lauter werdende Schläge auf hohle Metallrohre zu hören. Mein Körper setzte sich wie von allein in Bewegung. Ich ging langsam auf den Spiegel zu und nahm im Vorbeigehen eine leere Blumenvase aus Keramik in die Hand. Als ich vor dem Spiegel stand, hob ich die Vase hoch und wollte sie gerade in den Spiegel werfen, als mir schwarz vor Augen wurde und ich das Bewusstsein verlor.
Ich erwachte und lag auf dem Boden. Wieder war ein Unwetter aufgekommen. Starker Wind peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben und die Nacht war bereits hereingebrochen. Ich setzte mich aufrecht hin und starrte in den Spiegel. Nur der Mond und die Straßenlaterne vor meinem Haus brachten ein wenig Licht ins Wohnzimmer. Aber für das was ich im Spiegel sah, brauchte ich kein Licht. Ich wollte kein Licht. An der Stelle, an der ich mich im Spiegelbild sitzen sehen sollte, saß ein Wesen. Eine Gestalt, die nichts Menschliches an sich hatte. Ich konnte in dem schwachen Licht keine Gesichtszüge auf dem viel zu schmalen und langen Kopf ausmachen, aber ich war mir sicher, dass dort etwas Schreckliches war. Die ganze Gestalt schien in die Länge gezogen zu sein. Die Extremitäten waren viel zu dünn und lang und nicht proportional zu dem kleinen Körper. Und hinter dem Etwas entdeckte ich zwei Auswüchse, die mich an ausgefranste dünne Flügel erinnerten.
Das Wohnzimmer wurde einen Augenblick von einem Blitz erhellt. Und dieser Augenblick, in welchem ich dem Anblick im Spiegelbild ohne den Schutz der Dunkelheit ausgesetzt war, überzeugte mich restlos davon, dass Dinge und Wesen in unserer und auch in jeder anderen unbekannten Welt existieren, die unsere Vorstellungskraft weit übersteigen. Dieses Wesen im Spiegel, abscheulich und surreal, war mit nichts aus meinen alten Erinnerungen zu vergleichen. Und dieses Etwas saß genau an jenem Platz, an dem ich doch mich selbst hätte sehen müssen. Ich spürte, wie ich schrie, aber ich hörte mich nicht. Ich hörte nur noch ein Geräusch, welches wie monotone Schläge auf ein hohles Metallrohr klangen. Sie dröhnten immer lauter, bis ich instinktiv die Augen schloss und mir die Hände auf die Ohren presste. Als meine Hände meinen Kopf berührten wich jegliche Wärme aus meinem Körper und mein Denken verwandelte sich in Schlacke. Ich spürte etwas anderes auf meinen Ohren. Mich berührte in diesem Augenblick, der Augenblick, welcher momentan geschah und demnach existieren und real sein musste, etwas völlig anderes als menschliche Hände. Es waren missgestaltete Pfoten mit Klauen, deren Kälte und Feuchtigkeit mir meinen Verstand raubten und niemals wieder zurückgeben würden.
Der Flohmarkt auf dem alten Industriegelände war an diesem grauen Tag im Oktober nur spärlich besucht. Nach den Mienen der Verkäufer zu urteilen, war die Kundschaft den ganzen Tag über größtenteils ausgeblieben. Einige Händler räumten bereits ihre Waren weg, während andere trübsinnig vor sich hinstarrten und an dampfenden Plastikbechern nippten.
Ich wühlte mich durch eine Bücherkiste mit Groschenromanen, wandte mich aber schnell wieder ab und ging weiter. In dem fahlen Licht sahen die Stände trostlos aus und kein Tisch brachte mich dazu, stehenzubleiben und mir die Angebote anzusehen.
Am Ende der Reihe mit Ständen fiel mir ein Mann auf, welcher bereits seine Waren in einen schwarzen Transporter lud. Die altbackenen kleinen Möbelstücke und Dekorationsartikel, welche ich beinahe als anstößig empfand, besaßen eine eigenartige Anziehungskraft. Die Leere in mir verwandelte sich in stechende Kälte, was aber nicht an den Waren lag. Der Mann selbst erzeugte dieses Gefühl in mir. Sein fahriger Blick huschte über seinen Kram und er hievte mit unkoordinierten Bewegungen die Sachen in seinen Transporter. Sein Gesicht hatte eine Farbe wie die Betonwände der alten Industriegebäude um uns herum. Auf den ersten Blick hielt ich ihn für einen alten Mann, aber als ich langsam auf ihn zuging, bemerkte ich, dass er nicht viel älter als Anfang dreißig sein konnte. Das unbehagliche Gefühl in mir schwoll an und dennoch schaffte ich es nicht, meinen Schritt zu verlangsamen oder die Richtung zu wechseln. Etwas zog mich zu ihm hin. Ich stellte mich direkt vor seinen Stand. Er lud eine bunte Tischlampe auf die Ladefläche, drehte sich zu mir um und zuckte zusammen.
»Oh. Hallo. Wie kann ich helfen?«
Seine Stimme kratzte und klang als würde er höher sprechen als üblich.
»Ich sehe mich nur um, danke.«
Er betrachtete mich noch einen Augenblick, zwang sich zu einem Lächeln, drehte sich von mir weg und belud weiter seinen Transporter. Ich beschaute seine Waren und stellte fest, dass die Gegenstände auf eigenartige Weise zusammenpassten. Als stammten sie aus einem Haushalt.
Mir fiel ein mannshoher Spiegel mit einem schwarzgestrichenen verschnörkelten Holzrahmen auf. Die Spiegelfläche war mit einer Schutzfolie abgeklebt.
»Der Spiegel. Was kostet der?«
Der Mann stellte eine Kiste ab und betrachtete den Spiegel. Er legte seine Stirn in Falten und sein Blick wurde hoffnungsvoll und Erleichterung schien ihn zu überkommen.
»‘n Zwanziger.«
Ich gab ihm das Geld. Er packte mir den Spiegel in Luftpolsterfolie ein.
Auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, warum ich diesen Spiegel gekauft hatte, obwohl er mir überhaupt nicht gefiel. Aber das Gefühl der Leere und der Kälte war verschwunden.
Als ich in meinem kleinen Haus am Stadtrand ankam, stellte ich den eingepackten Spiegel im Wohnzimmer ab und ging in die Küche. Ich schenkte mir ein Glas Rotwein ein, ging zurück ins Wohnzimmer, setzte mich auf die Couch und überlegte, wo ich den Spiegel aufstellen würde. Mein Kater Houdini sprang auf die Couch und legte sich hin. Ich kraulte ihn und wir starrten gemeinsam den eingepackten Spiegel an. Ich beschloss, mich am nächsten Tag um den richtigen Platz für den Spiegel zu kümmern. Es war Freitag und ich musste am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Ich trank noch einen Rotwein, wonach ich mich schwer fühlte und ins Bett ging. Kurz nachdem ich die Augen geschlossen hatte, schlief ich ein.
Ein heftiges Unwetter war aufgekommen, als ich aufwachte. Dicke Regentropfen schlugen gegen das Fenster und der Wind wehte ums Haus, was wie ein anhaltender Schrei eines alten Mannes klang. Aber deswegen war ich nicht aufgewacht. Ein Albtraum, den ich mit dem Aufwachen vergessen hatte, riss mich aus dem Schlaf. Ich war nassgeschwitzt, fühlte mich fiebrig und in meinem Mund lag der Geschmack von schlechtem Hammelfleisch. Ich stieg aus dem Bett und holte mir ein Glas Wasser in der Küche. Als ich den Wasserhahn aufdrehte, ließ mich ein lauter Donnerschlag zusammenfahren. Houdini fauchte und knurrte im Wohnzimmer. Ich ging ins Wohnzimmer, schaltete eine kleine Lampe ein und sah den Kater stocksteif mitten im Raum stehen. Sein Schwanz war aufgeplustert und seine Augen hatte er weit aufgerissen. Ich streichelte ihm über den Kopf, um ihn zu beruhigen. Aber Houdini schien mich nicht wahrzunehmen. Er starrte in die Ecke und murrte. Ich folgte seinem Blick mit meinem. Als ich die Stelle erreichte, die Houdini anstarrte, fühlte sich der Boden unter meinen Füßen an wie ein Moosfeld. Meine Füße schienen im Boden ungleichmäßig zu versinken und ein leichter Schwindel überkam mich. Mir wurde heiß, als würde mein gesamtes Blut in meinen Kopf schießen und hinter meinen Schläfen spürte ich ein starkes Pochen.
In der Ecke stand der Spiegel. Das Verpackungsmaterial war heruntergerissen und lag zusammengeknüllt auf dem Boden. Meine Gedanken fingen an zu rasen. Ein Einbruch schloss ich sofort aus, da etwas anderes viel wahrscheinlicher war. Ich war schlafgewandelt. Wieder. Bereits als Kind war ich oft nachts unterwegs. Mein Unterbewusstsein wollte wohl mit dem Auspacken des Spiegels nicht warten.
Langsam ging ich auf den Spiegel zu, der in dem schummrigen Licht der kleinen Lampe besser als im grauen Tageslicht aussah. Und erstmals sah ich die Spiegelfläche ohne Folie. Da sie auf dem Flohmarkt bereits abgeklebt war, vermutete ich, dass etwas damit nicht in Ordnung sei. Ein Riss oder ein Sprung. Etwas, was die perfekte Spiegelfläche verunstaltete. Aber die Oberfläche war makellos.
Ich sah mir selbst im Spiegel dabei zu, wie ich auf mich zugelaufen kam. Mit einer eigenartigen Faszination starrte ich auf mein Spiegelbild. Irgendetwas stimmte nicht. Dies war nicht mein normales Spiegelbild. Nicht, dass ich etwas nüchtern benennen konnte, was mir eigenartig vorkam. Mir schien bloß, dass dort ein winziges unsichtbares Detail vorhanden war, welches dort nicht hingehörte. Ich stand direkt vor dem Spiegel und betrachtete mich eine Weile. Plötzlich meinte ich etwas zu entdecken. Oder eher eine Ahnung zu bekommen. Ich sah ein weiches Flimmern in der Spiegelung.
Ich rieb mir die Augen und schob die Einbildung auf meine Fiebrigkeit. Meine Lunge rasselte beim Einatmen und ich begann zu husten. Wahrscheinlich habe ich mir etwas eingefangen, dachte ich und beschloss mich wieder zurück ins Bett zu legen. Meine Beine fühlten sich auf dem Weg in das Schlafzimmer schwer und träge an. In meinem Kopf spürte ich ein monotones Rauschen wie bei einer Empfangsstörung. Im Bett fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
Einige Stunden später wachte ich wieder auf. Mein Mund war ausgedorrt und in meinem Kopf schlug etwas mit einem Paukenschlägel auf meine Nervenstränge. Ich fror so stark, dass sich meine Hände und Füße taub anfühlten. Das Unwetter war vorüber und der Morgen dämmerte bereits. Ich stand auf und spürte, dass sich meine Beine noch immer schwer anfühlten. Aus dem Kleiderschrank holte ich mir die dickste Wolldecke, die ich besaß, und schlang sie mir um.
In der Küche setzte ich Wasser auf. Ich füllte Houdinis Fressnapf mit Katzenfutter und stellte ihn klappernd auf den Boden. Erst als ich heißes Wasser über den Teebeutel goss, fiel mir auf, dass Houdini nicht wie üblich zum Fressen gekommen war. Ich rief ihn einige Male, ging ins Wohnzimmer, sah im Schlafzimmer nach. Allerdings konnte ich ihn nirgends finden. Ich setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und versuchte durch den dichten Nebel in meinem Kopf zu blicken. Meine Erinnerungen an letzte Nacht waren undeutlich wie die an einen Traum. Ich starrte in den Spiegel und der Nebel in meinem Kopf wurde immer dichter. Alles in meinem Kopf begann sich zu drehen, als wäre ich in einen Fiebertraum gefallen. Ich bildete mir ein, tiefes und höhnisches Gelächter und immer lauter werdende Schläge auf hohle Metallrohre zu hören. Mein Körper setzte sich wie von allein in Bewegung. Ich ging langsam auf den Spiegel zu und nahm im Vorbeigehen eine leere Blumenvase aus Keramik in die Hand. Als ich vor dem Spiegel stand, hob ich die Vase hoch und wollte sie gerade in den Spiegel werfen, als mir schwarz vor Augen wurde und ich das Bewusstsein verlor.
Ich erwachte und lag auf dem Boden. Wieder war ein Unwetter aufgekommen. Starker Wind peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben und die Nacht war bereits hereingebrochen. Ich setzte mich aufrecht hin und starrte in den Spiegel. Nur der Mond und die Straßenlaterne vor meinem Haus brachten ein wenig Licht ins Wohnzimmer. Aber für das was ich im Spiegel sah, brauchte ich kein Licht. Ich wollte kein Licht. An der Stelle, an der ich mich im Spiegelbild sitzen sehen sollte, saß ein Wesen. Eine Gestalt, die nichts Menschliches an sich hatte. Ich konnte in dem schwachen Licht keine Gesichtszüge auf dem viel zu schmalen und langen Kopf ausmachen, aber ich war mir sicher, dass dort etwas Schreckliches war. Die ganze Gestalt schien in die Länge gezogen zu sein. Die Extremitäten waren viel zu dünn und lang und nicht proportional zu dem kleinen Körper. Und hinter dem Etwas entdeckte ich zwei Auswüchse, die mich an ausgefranste dünne Flügel erinnerten.
Das Wohnzimmer wurde einen Augenblick von einem Blitz erhellt. Und dieser Augenblick, in welchem ich dem Anblick im Spiegelbild ohne den Schutz der Dunkelheit ausgesetzt war, überzeugte mich restlos davon, dass Dinge und Wesen in unserer und auch in jeder anderen unbekannten Welt existieren, die unsere Vorstellungskraft weit übersteigen. Dieses Wesen im Spiegel, abscheulich und surreal, war mit nichts aus meinen alten Erinnerungen zu vergleichen. Und dieses Etwas saß genau an jenem Platz, an dem ich doch mich selbst hätte sehen müssen. Ich spürte, wie ich schrie, aber ich hörte mich nicht. Ich hörte nur noch ein Geräusch, welches wie monotone Schläge auf ein hohles Metallrohr klangen. Sie dröhnten immer lauter, bis ich instinktiv die Augen schloss und mir die Hände auf die Ohren presste. Als meine Hände meinen Kopf berührten wich jegliche Wärme aus meinem Körper und mein Denken verwandelte sich in Schlacke. Ich spürte etwas anderes auf meinen Ohren. Mich berührte in diesem Augenblick, der Augenblick, welcher momentan geschah und demnach existieren und real sein musste, etwas völlig anderes als menschliche Hände. Es waren missgestaltete Pfoten mit Klauen, deren Kälte und Feuchtigkeit mir meinen Verstand raubten und niemals wieder zurückgeben würden.