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Der schwarze Büstenhalter
Starkes Kinn. Gute Zähne. Große Hände. Ein prahlerischer Egoismus steht ihm auf die Stirn geschrieben - Dick hat ein KI-Start-up gegründet. Die Fotos, die im Internet von ihm kursieren, zeigen Lässigkeit und Reichtum (oft in einem Golfplatz-Setting), aber auch etwas, das darüber hinausgeht ... nennen wir es maritime Markigkeit.
Dick ist jedenfalls auch Segler. Er sieht aus, als könne er den Atlantik im Galopp überqueren und einfach transkontinental irgendwo hereinschneien, ein Boss in XXL.
Dick schaut bei Simone vorbei. Sie ist die Post-doc-Stipendiatin mit dem klandestinen Sexappeal. Simone lernte ihre Muttersprache erst mit vierzehn, als Waise in einem Friedberger Elternhaus. Ihre Mutter war einst mit ihrer halbanonym gezeugten Tochter dem franko-polynesischen Oro S. auf die Île du Vent Maiao gefolgt und bald nach ihrer Ankunft auf dem Atoll bei einem Badeunfall ums Leben gekommen. Simone wuchs unter Oros Leuten in Taora O Mere auf. Sie wurde in den Geheimorden der Arioi eingeweiht. Am Ende tumultarer Ereignisse fand sie sich in Friedberg wieder. Simone erlitt in der Obhut fröhlicher Verwandter einen Kulturschock. Wir erwähnen nur Tante Gerda. Mit an den Haaren herbeigezogenen und erfundenen Argumenten zaubert die Kältetechnikerin und ehemalige Tischtennis-Bezirksmeister Glück in den hessischen Winkel. Sie lobt sich über den grünen Klee für ihre bodenständige Art. Wegen Simone gerieten Vorstadt-Daimyos in helle Aufregung.
Simone stand schon lange nicht mehr in einer Schlange, außer im Cocktailkleid vor einer Bar. Die malochende Bevölkerung kommt für sie inzwischen von einem anderen Stern. Es gibt keine Rechtfertigung für den von ihren Großeltern ererbten Wohlstandvorsprung, der wie eine melancholische Felsnase den Ozean des globalen Elends überragt. Simone genießt Dicks Berührungen in besonderer Weise. Die beiden treffen sich auf einem Zenit der verdoppelten Eigenliebe. Sie sind beide Kraftzentren. Ungeheuer begehrenswert. Begehrenswerte Ungeheuer. Schiere Anziehungskraft reißt sie von den Ankern ihrer Zurückhaltung. Das Feuer in ihren Zellen löst einen Flächenbrand aus.
Mit Dick mag Simone die Danach-Stimmung sehr. Danach sieht sie Dick gern an einem Tresen. Sie riecht ihre Seife an ihm. Er trägt seinen Anzug jetzt noch besser. Dick erzählt eine Geschichte. Simone reizt die Genauigkeit, mit der Dick die Verzweiflung und das Glück seiner Akteure beschreibt. Eine in den Gedärmen sitzende Verzweiflung. Ein in den Gedärmen sitzendes Glück. Beinah unfassbar. Dick zeigt die Gefräßigkeit unserer Gattung, den gewöhnlichen Egoismus, die wenig witterungsresistenten Täuschungsmanöver. Der schwarze BH als Sensation einer ersten Nacht lappt im weiteren Verlauf über einer oft übersehenen Lehne. Gleichzeitig übernimmt eine andere Verheißung die Regie. Solange wir im Saft stehen, sind wir gefährdet. Wir leben so wie man auf einem Bein wackelt.
Willst du eine glückliche Ehe zerstören? fragt X die Geliebte ihres Mannes. Die brutalste Antwort liegt auf der Hand. Wie glücklich kann eure Ehe denn sein, wenn Y lieber zu mir als zu dir kommt. Dies als Feststellung, deshalb ohne Fragezeichen.
Kehren wir noch einmal zum schwarzen BH zurück. In einem Moment ist der BH – als Accessoire einer sonst nackten Frau – das einzige, was die plötzliche Aufmerksamkeit eines zuvor ambivalenten Mannes garantiert, im nächsten Moment lockt der BH keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor.