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Der Schwanz
Irgendein nasskalter Novembertag. Irgendein Plattenbau in Marzahn. Eine lange graue Fassade und ein Rattern, das allmählich lauter wurde. Hinter einem klobigen Monitor aus den 90ern hatte sich ein Rentner verschanzt. Er trug einen weißen Jogginganzug und schrieb wie ein Maschinengewehr: Über hundert Tastenanschläge pro Minute. Der Alte dachte gar nicht daran, aufzublicken. Doch da, ein Geräusch. Von der Tür her. Ein leises Pochen. Trotz seiner 85 Jahre glichen seine Sinne Rasierklingen, denen kein Stoppel der Wirklichkeit entkam. Der Alte öffnete. Sein Schwanz war wieder da. Er stand stramm wie ein General und hopste wortlos herein. Seine Eier waren hart wie Kanonenkugeln. Jemand hatte ihn rasiert.
“Du blutest”, stellte der Alte fest.
“Schon fast verheilt”, sagte der Schwanz.
"Mmh.”
“Dreckskatzen!”, schimpfte der Schwanz.
“Musst sie ja nicht provozieren.”
“Ich habe sie nicht provoziert! Ich provoziere sie nie!”
Wenn er sich aufregt, treten die Adern am Schaft hervor und seine Eichel wird knallrot.
“Dann bleib halt zuhause.”
“Langweilig!”
Der Alte zuckte mit den Achseln und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Das letzte Kapitel von “Kommissar Klein - Im Schatten der Liebe”. Sein neuer Heftroman musste übermorgen in den Druck und hätte schon gestern im Lektorat sein müssen. Frau Christens hatte die Frist “ausnahmsweise und einmalig” um 24 Stunden verlängert. Normalerweise standen seine Romane bereits nach der zweiten oder dritten Woche wie eine eins. Dann musste er sie nur noch ein wenig polieren, während schon die nächste Geschichte aus seinen Synapsen quoll.
“Hast Du keine Angst vor der AI? “, fragte der Schwanz.
“Warum sollte ich?”
“Naja, Du schreibst doch Groschenromane.”
“Das sind Heftromane. Und die werfen mehr ab als nur ein paar Groschen!”
“Weil sie so leicht zu lesen sind, nehme ich an. Einschlafliteratur.”
“Man darf seine Leser nicht überfordern”, nuschelte der Alte.
“Wie Du meinst. Aber was leicht zu lesen ist, ist eben auch leicht zu schreiben und damit leicht zu imitieren.”
“So leicht dann auch wieder nicht! Man darf sich dabei nicht ablenken lassen.”
“Glaubst Du etwa, die AI ließe sich ablenken?”
Der Alte wirbelte auf seinem Bürostuhl herum und vollführte dabei eine ungewollte Drehung, die ihn noch wütender machte.
“Du solltest wissen, was passiert, wenn Du mich provozierst!”
“Ja, ich erinnere mich! Schon gut, beruhig´ dich.”
Der Schwanz drehte ab und kletterte in den Schuhkarton, den der Alte für ihn eingerichtet hatte. Der Boden war komplett mit Wattetupfern ausgelegt, für die er nachmittags in den Supermarkt marschiert war, obwohl dann immer diese Tatjana hinter der Kasse saß, die ihn aus irgendeinem Grund zu hassen schien. Dabei hatte er es ja auch für sie getan. Für alle Mädchen und Frauen, die er in den letzten Jahren mit seinen gierigen Blicken ausgezogen und vergewaltigt hatte, anstatt einfach nur nett zu grüßen wie alle anderen Opas.
"Wir könnten doch mal was gemeinsam machen", schlug der Schwanz vor. "Youporn schauen zum Beispiel."
“Die Zeiten sind zum Glück vorbei. Ich muss meine Geschichte zu Ende schreiben. Deswegen hältst du jetzt mal für 'ne Weile die Fresse; ist das klar?"
“Klar wie Klosbrühe.”
“Klar wie Klosbrühe? Weißt Du wie alt dieser Spruch ist? Glaubst Du ich würde auch nur einen deiner ausgelutschten Ausdrücke für meine Romane verwenden? Tue ich eben nicht! Was ich hier abliefere ist sprachlich erste Sahne und deswegen scheiße ich auf deine AI !!”
Seine Wut. Seine Wuuhuut. Er musste sie kontrollieren. Immerhin herrschte jetzt Ruhe. Ja, schon. Trotzdem wollte er nicht als Choleriker abgestempelt werden. Nicht einmal vor sich selbst. Sein Gedankenstrom wurde sämiger. Wenn er nicht aufpasste, kam er zum Stehen und entwickelte einen Unterdruck, der ihn in die Tiefe zog. So etwas durfte er nicht einmal denken. Ab ins Bad. Hinter der Klospülung klemmte ein Zigarettenetui voller Purjoints. Der Alte zündete sich den dicksten an und öffnete das Fenster, um den dichten Qualm in die graue Regenbrühe zu pusten. Alles wieder gut. Er liebte diesen permanenten Nieselschleier in der Luft. Und wenn es dann noch innerlich Ideen regnete...plötzlich wusste er, wie “Im Schatten der Liebe” enden musste. Mit einem Lichtstrahl natürlich! Nachdem der Ehemord aufgeklärt ist, spaziert Kommissar Klein durch den Tiergarten. Er sieht einem Bären dabei zu, wie er seine Bärin liebt. Er ist nicht der einzige Zuschauer. Neben ihm steht eine jüngere Frau, eine Asiatin, die einen Sonnenschirm trägt. Sie macht eine lustige Bemerkung. Sie ist auf der Durchreise. Seine Einsamkeit ist also nicht bedroht. Er begleitet sie zum Affengehege und hier enden wir, mit der Aussicht auf ein verjüngendes Abenteuer.Das war gut, das musste er nur noch ausschreiben. Die 190. Ausgabe von “Kommissar Klein” - war so gut wie im Kasten. Der alte Mann zeigte auf den Greis im Spiegel und sprach aus, was nicht mehr zu leugnen war.
“Du hast es drauf, Mann! Du kennst keine Ladehemmnung. Du ballerst es ihnen einfach um die Ohren. Ratatatatam!”
Ein übles Geräusch aus seinem Wohn- und Arbeitszimmer. Etwas war heruntergefallen. Er betete darum, dass es nicht sein Laptop gewesen sei, doch genau der war es natürlich. Ein langer Riss zog sich über den Bildschirm. Die bereits erschienen “Kommissar Klein”-Hefte, auf denen der Laptop gethront hatte, lagen auf dem Boden zertreut.
Der Schwanz sprang nervös auf dem Schreibtisch herum.
“Scheiße, scheiße, das war keine Absicht, ich schwörs ! War nur neugierig und - toller Einstieg, echt! Wollte nach unten scrollen und-”
“Du lügst!“
Der alte Mann packte den Schwanz am Schaft und schmiss ihn gegen die Haustür. Ein stechender Schmerz fuhr durch die fast verheilte Wunde zwischen seinen Beinen und zwang ihn auf die Knie. Er biss sich in die Hand, um nicht zu schreien. Der Schwanz war schon wieder auf den Eiern und räusperte sich.
„Okay, es war Absicht.“
Der Alte konnte kaum noch atmen vor Wut.
„Sorry, aber ich kann mich mit diesem Scheiß nicht identifizieren!“
„Das musst du auch gar nicht! Deswegen hab´ ich dich doch abgesäbelt!“
„Tja, wenns so einfach wäre! Schreib endlich etwas, das dich bewegt! Ich helf´ dir auch dabei!“
Der Alte sprang auf und versuchte seinen Schwanz zu packen, doch der sprang höher denn je und entwischte in die Küche. Dort schubste er einen Topf vom Herd. Kalte Buchstabensuppe verteilte sich über die Fliesen. Die Flucht endete in der Areca-Palma. Der Schwanz hatte sich zwischen ihren langen Stengeln verfangen. Eisern schloss sich die Hand des Alten um ihn.
„Das wars Freundchen!“
Der Alte drückte zu und schnürte auch sich die Luft ab. Beide rangen auf dem Küchenboden um Luft. Es war zwecklos, dachte der Alte und stierte gegen die Decke. Draußen zwitscherten zwei Vögelchen. Da kam ihm eine Idee.
„Wer hat dich eigentlich rasiert?“
Der Schwanz stutzte.
"Seit wann interessierst du dich für mich?"
_ _ _
Sie wohnte also im zehnten Stock. Normalerweise ein Fall für den Aufzug, doch dafür hätte er sich umziehen müssen. In dem Schritt seines weißen Jogginganzuges hatte sich ein faustgroßer Blutfleck gebildet. Außerdem trug er seinen Schwanz in der Hand. Gut also, dass ihm im Treppenhaus niemand begegnete. Sie kannte ihn ja bereits. Sie hatte kein Recht, sich zu erschrecken. Ein Freddy-Mercury-Poster klebte auf ihrer Tür. Den hatte er mal im Fernsehen gesehen. Der Alte klingelte, gleich zweimal. Nach einer Pause noch einmal. Schlussendlich noch mal ganz lange. Keiner zuhause? Er hatte doch Schritte gehört. Da stand jemand hinter der Tür.
„Ich bin ein Nachbar. Aus dem Siebten. Möchte nur reden.“
Der Alte versuchte zu lächeln. Nichts passierte. Er hielt den Schwanz vor den Türspion. Dieser hatte sich hinter seine Vorhaut verkrochen, was er sonst nie tat.
„Ich hab den kleinen Mann dabei!“
Langsam öffnete sich die Tür. Ein schmächtiger Blondschopf, keine 25 Jahre alt. Die Situation schien ihm peinlich zu sein.
„Wohnst du alleine hier?“
Der Blondschopf nickte.
„Keine Freundin?“
„Keine Freundin.“
Der Alte schluckte.
„Ist es..Ihrer?“, fragte der Blonde vorsichtig.
Der Alte nickte, kreidebleich.
„Er kam zu mir, das müssen Sie mir glauben. Er lag im Briefkasten. Ich hab ihn erst für ein Sexspielzeug gehalten.“
„Ehm, ja; also: Ich hab´ nichts gegen Freddy Mercury“, stammelte der Alte und drückte dem Blondschopf seinen Schwanz in die Hand.
„Bitte, behalt´ ihn!“
„Ich würde ja gerne, aber mein Kater kommt gar nicht auf ihn klar, ich muss ihn immer einsperren, wenn er da ist!“
Der Schwanz traute sich hinter seiner Vorhaut hervor. Dann öffnete er seine Harnröhrenöffnung so weit er konnte und schaute dem Blonden fest in die Augen.
_ _ _
Wer noch nie einen Kater im Schoß hatte, weiß nicht wie sich das Glück anfühlt, dachte der Alte und strich seinem schnurrenden Liebling die Wange. Noch nie hatte er seine Feierabende so genossen. Nie zuvor hatte er sie sich dermaßen verdient. Der Alte produzierte wie am Fließband. Vormittags ging Kommissar Klein auf Verbrecherjagd und nachmittags preschte Sheriff Steal durch die Prärie. Der neue Held hatte eine Schwäche für Indianerinnen – und lebte sie seitenlang aus. Mit jeder Ausgabe stießen Heerscharen neuer Leser hinzu. Der Sex-Western wurde zum meist verkauften Heftroman der Republik. Frau Christens hatte aus eigener Initiative die Gage erhöht und schickte Pralinen zum Geburtstag. Der Alte hatte sich einen Flachbildschirm und eine neue Tastatur gegönnt, deren Anschläge bis in den Flur hallten. Niemand konnte den Alten aufhalten. Er hatte endlich den Kopf frei. Und falls ihm mal nichts einfiel, ging er einfach in den Zehnten.