Der Schulranzen erzählt
Gestern Nacht hatte Lucas einen Traum. Es schien ihm, als ob sein Schulranzen mit ihm spräche. Dabei sah er deutlich das blaue Ledergesicht mit den silbernen Taschenverschlüssen, die wie Augen aussahen. Die Trageriemen des Ranzens bewegten sich und Lucas spürte, wie ihm der Schulranzen damit sanft über den Kopf streichelte.
„Weißt Du noch Lucas“, sprach der Schulranzen, „als wir beide vor einem Jahr in die erste Klasse eingeschult wurden?“
„Das war nicht nur für Dich, sondern auch für mich ein besonderer Tag. Damals war ich noch ganz neu. Alle Kinder bewunderten mich, weil ich der Schönste von allen war. Meine Lederhaut hatte keine Kratzer und in meinen Augen spiegelten sich die Farben des Sonnenscheins. Die ersten Wochen nach diesem großen Tag haben mir sehr gefallen. Du bist sorgsam mit mir umgegangen und hast mich stets beschützt, wenn andere Kinder an meinen Armen zogen, an mir rüttelten oder mein Gesicht mit Kreide bemalen wollten. Du trugst mich unterwegs auf Deinem Rücken, so wie es Schulranzen besonders gern haben. Niemals nahmst Du mich nach vorn auf den Bauch, um damit andere Mitschüler zu rammen.
Wenn Du auf dem Heimweg am Spielplatz vorbei gekommen bist, dort wo das große gelbe Klettergerüst mit der blauen Rutsche steht, hast Du mich nie zu den Ranzen der älteren Schüler in den Sand geworfen. Du hast mich erst nach Hause getragen und an meinen Platz neben dem weißen Tisch, an dem Du immer Hausaufgaben machst, gestellt. Dort konnte ich mich ausruhen. Ach Lucas, das war ein richtiges Schulranzenleben. Ich war so stolz auf Dich. Wenn ich heute daran zurück denke, dann werde ich ganz traurig.“
Lucas bemerkte, dass die Augen des Schulranzens nicht mehr so glänzten wie früher. Mitten im Gesicht hatte er einen dunklen Fleck. Der muss wohl von der Cola stammen, die neulich beim Spielen über dem Ranzen ausgelaufen war, dachte Lucas.
„Du hast in meinem Bauch immer auf Ordnung geachtet. Deine bunten Stifte, der grüne Füller, der kleine Anspitzer und der lustige Radiergummi mit dem Spiderman drauf, waren immer in der Federtasche. Die Hefte, die Bücher und das Lineal befanden sich an ihrem richtigen Platz. Ich fühlte mich prächtig und freute mich schon auf den nächsten Schultag“, sagte der Ranzen.
„Aber in der letzten Zeit habe ich oft Bauchschmerzen. Es zwickt und zwackt an vielen Stellen, so dass ich am liebsten den ganzen Tag in der Ecke liegen bleiben möchte. Ich wusste erst gar nicht, woher dieses Übel kam. Dann aber merkte ich, dass ein Bleistift heftig in die Seiten des Mathematikbuches stach. Ein anderes Mal war die Schere im Hausaufgabenheft eingeklemmt. Und ein drittes Mal war mir nicht wohl, weil die Seiten des Deutschheftes Eselsohren hatten. Ich schäme mich richtig, wenn ich Dich daran erinnere, wie es in meinem Bauch rumorte als die Glasmurmeln zwischen den Heften und Büchern hin und her kullerten. Nur einen Tag später klebte dann auch noch Dein Kaugummi in meinem kleinen Seitenfach.
Wenn ich an all dies denke, dann wird mir jetzt noch übel“, sagte der Schulranzen. Dabei ließ er die Arme traurig hängen.
In dieser Nacht schlief Lucas unruhig. Immer wieder sah er das traurige Gesicht mit dem großen dunkelbraunen Fleck.
Am nächsten Morgen stand Lucas ganz früh auf, noch bevor seine Mutter ins Zimmer kam, um ihn wie jeden Tag mit einem Kuss zu wecken. Leise schlich er zu seinem Schulranzen und legte ihn behutsam auf das Bett. Dann spitzte er die Bleistifte an, legte eine neue Patrone in den Füller und bog die umgeknickten Seiten in den Büchern und Heften gerade. Er packte alle Schulsachen sehr ordentlich in den Ranzen. Lucas schaute sich die Schultasche auch von außen an. Er rannte ins Badezimmer, befeuchtete seinen gelb-blau gestreiften Wachlappen und strich damit vorsichtig über das blaue Ledergesicht. Eine Naht war geplatzt, bemerkte er. „Ich möchte, dass es Dir für immer gut geht, lieber Schulranzen", flüsterte Lucas.
Als die Mutter ins Zimmer kam, verschwieg er ihr den Traum vom sprechenden Schulranzen. Er sagte: „Mama, mein Schulranzen ist kaputt. Können wir ihn bitte schnell reparieren lassen?“. "Natürlich können wir das. Das machen wir gleich heute", sagte die Mutter. Sie freute sich sehr über Lucas Vorschlag. Ein wenig hatte sie sich schon Sorgen gemacht, weil sie Lucas in den letzten Monaten sehr oft ermahnen musste, ordentlicher mit seinen Sachen umzugehen.
Nie wieder erschien der Schulranzen in Lucas Traum. Lucas wusste, dass es ihm sehr gut ging.