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Der Schrei
Es war an einem Samstag Abend. Das Laub raschelte, in dieser dunklen und düsteren Nacht. Der Wind wehte durch ihr gold-blondes Haar. Sie war ein verspieltes Kind. Ein nettes, einfach liebenswertes Mädchen. Häufig hörte man ihr Lachen - es war einfach Herzerweichend. Doch an diesem Abend sollte ihr Lachen verstummen - für immer.
Sie kam gerade von der Schule als sie mich fragte: "Sag mal Papi, könntest du mich nicht zu Angelika fahren? Ich hab ihr versprochen, dass ich ihr bei den Hausaufgaben helfe." "Na gut, wenn es sein muss. Aber um neun musst du nach Hause kommen, ich muss heute noch zu einem wichtigen Geschäftsessen gehen. Deine Mutter wird dann schon daheim sein."
"Ist gut Papi, mach ich!" Amanda war häufig bei ihrer Freundin, darum war ich auch nicht besorgt als sie mich wieder Mal fragte. Als ich sie bei Angelika ablieferte, küsste sie mich noch schnell auf die Wange. "Tschüss, hab dich lieb, Papi!" Das waren die letzten Worte die ich von ihr gehört habe.
Gegen halb elf rief mich meine Frau im Restaurant an: "Sag mal, ich hab dir doch gesagt du sollst mich nicht anrufen wenn ich in einem Geschäftsessen bin! Da hinten sitzen wichtige Kunden für unsere Firma!" "Es ...es.. es tut mir … leid. Es … es war so schrecklich! Amanda … sie … sie…" "Was ist mit ihr? Ist etwas passiert?" "Sie … liegt …liegt im Spital … und … ist" Sie brachte kein Wort heraus. Ich beruhigte sie, sofern dies am Telefon möglich war und versprach ihr sofort zu kommen. Es war nun klar, dass etwas mit Amanda geschehen war, entschuldigte mich von meinem Geschäftsessen und fuhr sofort nach Hause.
Daheim fand ich meine Frau weinend auf der Couch vor. Ihre Lider waren angeschwollen, die Augen waren rot unterlaufen. Die Schminke, die sie trug, war über ihrem Gesicht verteilt, man sah ihr an, dass sie völlig am Ende war.
Amanda wurde in einer Ecke, nahe dem Straßenrand gefunden. Sie lag mit Schürfwunden und einer Menge blauen Flecken am Boden zusammengekrümmt.
So sagte man mir es zumindest nachdem wir, im Spital angekommen, mit der Polizei redeten. Als wir fertig waren suchten wir einen Arzt auf. Der meinte, es wäre noch etwas zu erledigen und wir sollten im Warteraum warten. Warteraum - was war das auch schon für ein Name? Ein Raum zum warten … Nein zum langweilen, nervöses Hin und Her gehen. Hoffen und Bangen das einen in den Wahnsinn treibt. Plötzlich ging die Tür auf. Ein Arzt kam herein: "Sie können nun zu ihrer Tochter! Sie liegt auf 302." "Vielen Dank, Herr Doktor!" und schon waren wir unterwegs. Schnur stracks zu Zimmer 302, im 4. Stock der Kinderabteilung.
Dort sah ich sie dann, ein kleines Häufchen Elend. Sie sah noch schrecklicher aus als sie mir der Polizist beschrieben hatte. Sie lag auf dem Krankenbett und starrte an die Decke. An ihren Augen sah man, dass sie, die kleine Amanda mit ihrem Lachen und ihrer Freude, verschwunden war. Zurück blieben nur noch Furcht und Angst, vor dem Leben, vor dieser Person der ihr dies angetan hatte. Sie bemerkte keine einzige Bewegung von uns, war einfach wo anders mit ihren Gedanken.
Als meine Frau sie sah, stürzte sie in erneute Tränenpracht aus und kniete neben Amanda nieder. Sie nahm Amandas Hand und drückte sie, doch das früher so lebensfrohe Mädchen zuckte nicht einmal mit den Lidern.
Nach einer Woche, täglichen Besuchen, wurde der Zustand von Amanda nicht um ein Milligramm besser. Sie wurde zu einem Rätsel für die Psychologen, die an ihr die unmöglichsten Dinge ausprobierten. Nach dieser Woche musste sie nach Hause. Körperlich war sie wieder fit, nur Geistig überhaupt nicht.
Heute hat sich meine Frau bereits an diesen Zustand gewöhnt. Sie hat ihren Beruf aufgegeben um bei Amanda zu sein. In die Schule geht Amanda nicht mehr - sie hatte seit diesem Erlebnis kein Wort mehr gesprochen.
Wenn ich sie heute noch so anschaue, verstehe ich die Welt nicht mehr. Meine einzige Tochter, mein einziges Kind wurde stumm. Mit meiner Frau kann ich darüber nicht mehr reden. Sie ist seit einigen Jahren in psychologischer Behandlung und kommt selbst mit ihrem eigenen Leben nicht mehr zurecht. Ich bemerke selbst bei ihr, immer öfter eine geistige Abwesenheit in meiner Gegenwart. Selbst, habe ich seit einem halben Jahr mit dem Trinken angefangen. Es benebelt meine Gedanken, daran, dass meine Tochter seit 7 Jahren nicht mehr mit mir gesprochen hat.
Gegen neun Uhr, die Sonne geht gerade unter, stehe ich an einem Steg und sehe mir die Wellen an. Ich bin wieder einmal stink besoffen und trudle von einer Ecke zur nächsten. Auf einmal spüre ich Tränen auf meinen Wangen hinunter gleiten, denke an die schönen Tage mit meiner kleinen Tochter, als sie mit strahlendem Gesicht auf mich zu gerannt kam und ihr Lächeln nur mir widmete. Plötzlich fange ich an, Lautstark zu schreien. Meine Stimmbänder vibrieren, mein Hals scheint zu explodieren. Meinen Lungen geht die Luft aus, mein schreien verformt sich zu einem klaghalsigen weinen und klagen.
Die Leute um mich herum starren mich an, denken ich bin Verrückt, ich bin Wahnsinnig.
Und um ehrlich zu sein, es ist wahr.