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Der Schrei des Geziefers
„Von wegen harmlos“, knurrte Norris und starrte angeekelt auf die Blasen, die sich auf seinem Handrücken gebildet hatten. Es war gerade mal eine Minute her, dass der kleine fliegende Fransenteppich ihn gestochen hatte, aber die Quaddeln waren bereits so groß wie sein Daumennagel. Comanche runzelte die Stirn.
„Hab‘ gedacht, es wär’n Schmetterling oder sowas. Sah doch genau so aus …“
„Gedacht, gedacht … und jetzt? Scheisse, die Dinger jucken wie verrückt!“
„Bloß nicht kratzen. Davon wird’s nur schlimmer.“
„Du hast gut reden. Wie lange braucht der Trottel eigentlich? Es kann doch nicht so schwer sein, den verfluchten Sender zu reparieren.“
„Ein, zwei Stunden, schätze ich“, erwiderte Comanche, wischte sich den Schweiß von der Stirn und musterte die Umgebung. „Wir haben verdammtes Glück gehabt.“
„Ach ja? Der Gleiter steckt bis zum Arsch im Boden, und du willst mir was von Glück …“ Norris verstummte und hob die Hand.
„Hörst du das?“
„Das ist der Wind – die Blätter rauschen.“
„Seit wann können Blätter sprechen?“
„Ich werd verrückt, du hast recht! Das sind sie, wir haben sie gefunden!“
Die Fähre mit den Touristen war vor zwei Tagen gestartet. Die Ramses, ein ausgedienter Raumfrachter, der von der Digital-Fruit-Company zu einem Kreuzfahrtschiff umgebaut worden war, hatte den Planeten in einer niedrigen Umlaufbahn umkreist. Der Kontakt zur Fähre war nach wenigen Stunden abgebrochen, doch der Kapitän hatte einige Zeit verstreichen lassen, bevor er das kleine Suchkommando, bestehend aus Norris, Comanche und einem Security Robot losgeschickt hatte. Sie überflogen das dicht bewaldete Gebiet, aus dem das letzte Funksignal gekommen war, als die Antriebsaggregate plötzlich aussetzten. Norris hatte gerade noch Zeit, den Gleiter mit CR-Schaum zu fluten, bevor sie aufschlugen. Zum Glück war der Boden weich, und nachdem sich der Schaum aufgelöst hatte, waren sie benommen ins Freie gekrochen. Es stellte sich heraus, daß die Ansaugrohre der Triebwerke von einer derartig großen Menge Fluginsekten verstopft worden waren, dass sie augenblicklich ihren Dienst aufgegeben hatten.
Das Geräusch, das Norris und Comanche hörten, wurde für einen Moment leiser, um gleich darauf wieder anzuschwellen. Es klang wie das Wispern einer entfernten Menschenmenge, ein Flüstern, Zischeln und Raunen, das den beiden eine Gänsehaut bescherte. Dazu gesellte sich das Summen großer Schwärme grünlich schimmernder Fliegen, Libellen und Falter, die durch die Baumwipfel trieben. Norris rieb über seine juckende, angeschwollene Hand und stellte mit Schrecken fest, das sich seine Haut dort, wo sich noch vor wenigen Augenblicken Blasen befunden hatten, rau und uneben anfühlte. Die Panik, die ihn erfasste, als er die winzigen Stoppeln sah, die sich durch seine Haut bohrten, ließ ihn aufstöhnen.
„Ach du Scheiße! Sieh dir das mal an …“
Ohne Comanches Reaktion abzuwarten, rannte er zum Heck des Gleiters, das wie eine verzogene Scherbe aus dem Waldboden ragte, und verschwand in der Heckklappe.
„Analysier das“, befahl er dem Robot, der gerade dabei war, ein Schnittstellenmodul zu reinigen. Der Droid entnahm einer Öffnung an seinem Unterarm einen geriffelten, mit Leuchtdioden besetzten Metallstift und strich damit über Norris‘ Hand.
„Darf man fragen, was …“
„Darf man nicht!“ fuhr ihn Norris an. „Also, was hab ich da?“
Schweißtropfen brannten in seinen Augen. Die Hitze war unerträglich geworden. Mit einem Knacken dehnte sich die Hülle des Wracks. Aber da waren auch noch andere Geräusche: ein Schaben, als versuche jemand, mit einem Metallspachtel die äußere Farbschicht des Gleiters abzukratzen. Leises Trippeln und Klopfen. Es fiel ihm schwer, die Hand ruhig zu halten, der Juckreiz war kaum noch auszuhalten. Eine große Schmeißfliege hatte den Weg ins Halbdunkel gefunden und umkreiste Norris‘ Kopf.
Der Robot ließ den Stift in einer Öffnung an seinem linken Oberarm einrasten. Schweigend warteten sie auf das Ergebnis der Analyse.
Sie krochen aus dem Boden, ließen sich an schimmernden Fäden aus dem Astwerk herab, landeten aus der Luft. Comanche war einige Sekunden lang außerstande, auch nur einen Finger zu rühren. Er sah fasziniert zu, wie der Gleiter unter einer Decke von Ungeziefer verschwand. Fliegen, Spinnentiere, Schmetterlinge, fingergroße, metallisch schimmernde Raupen. Ameisen, absurd groß, behaart, und grün wie das Laub der Bäume. Als die ersten Tiere, darunter einige armlange Tausendfüßler, die Heckklappe erreichten und ins Innere krochen, löste sich seine Starre und er setzte sich in Bewegung. Plötzlich schossen blaue Flammen aus der Öffnung, und der Robot erschien, gefolgt von Norris. Beide hielten ihre Strahler in den Händen und bestrichen das Wrack langsam und sorgfältig mit breitgefächertem Strahl. Der wimmelnde Teppich färbte sich schwarz und die verkohlten, rauchenden Überreste der Insektenarmee regneten zu Boden. Beißender Gestank lag in der Luft und verflüchtigte sich nur langsam.
„Heiliges Kanonenrohr … “ flüsterte Comanche.
„Einen Moment“, sagte der Droid und verschwand wieder im Wrack. Wenige Augenblicke später kehrte er mit einem der Erste-Hilfe Sets zurück, entnahm dem kleinen Metallkoffer ein Röhrchen und überreichte es Norris.
„Gegen den Juckreiz“, sagte er und fügte nach einer kleinen Pause hinzu: „und die Schmerzen.“
„Was für Schmerzen?“
„Ich fürchte, Sie müssen sich fürs erste von ihrer Hand trennen, Mr. Norris.“
„Wie war das? Was soll das heißen: trennen?“
„Dieses Insekt, das Sie stach, hat kleine Eier unter ihrer Epidermis hinterlassen und etwas, dessen Eigenschaften mir nicht bekannt sind. Irgendetwas scheint da heranzuwachsen, und zwar mit beachtlicher Geschwindigkeit. Um zu vermeiden daß es sich ausbreitet, ist eine Amputation dringend angeraten.“
Norris starrte ihn an, als habe der Robot ihm soeben ein unzüchtiges Angebot unterbreitet.
„Du machst Witze – Amputation? Du willst mir die Hand abschneiden?“
„Er wird schon recht haben“, sagte Comanche. „Auf der Ramses kriegst du eine schöne Neue. Kein großes Ding.“ Er hielt seine Rechte hoch und bewegte die Finger. „Sieh mal: das ist bereits meine Dritte … funktioniert wunderbar. Oder willst du zum Insekt mutieren? Guck dir doch bloß mal die Stacheln an, die da aus dir raus wachsen.“
Norris willigte schließlich ein und schluckte das Schmerzmittel. Der Robot holte eines der intakten Kühlaggregate aus dem Wrack und machte sich ans Werk. Ein sauberer Schnitt mit dem Strahler, der zugleich das Gewebe kauterisierte – alles in allem war es eine Sache von wenigen Minuten. Die Hand wurde in einem Seitenfach des Aggregats verstaut, der Droid verschwand damit im Innern des Gleiters und fuhr anschließend mit der Reparatur des Senders fort. Eine Stunde später konnten sie mit der Ramses sprechen und Hilfe anfordern.
Norris betrachtete die ganze Zeit über seinen Stumpf, der nun mit einem transparenten Sprühverband überzogen war. Jedesmal, wenn er trotz des Medikaments irgendwo einen leichten Juckreiz verspürte, oder eine Mücke oder Fliege ihn umkreiste, brach ihm der Angstschweiß aus. Comanche ließ sich von ihm anstecken und schon bald bildete auch er sich an allen möglichen Stellen ein Jucken ein. Obgleich die Hitze ihnen zu schaffen machte, wagten sie nicht, ihre Overalls auszuziehen.
„Was ich nicht verstehe – warum möchte jemand ausgerechnet hier Urlaub machen?“
„Wahrscheinlich gibt’s auf diesem Scheißplaneten auch Ecken, wo’s richtig schön ist. Strände, schneebedeckte Berge – was weiß ich. Hierhin wollten sie bestimmt nicht.“
„Wie viele Menschen waren auf der Fähre?“
„Fünfunddreißig, inklusive der Crew. Weißt du, was ich glaube? Die Stimmen vorhin – oder was wir dafür gehalten haben – das war nur Einbildung. Ich schätze mal, die Scheißinsekten haben sie alle gefressen.“
„Glaubst du?“
Bevor Comanche antworten konnte, hörten sie ein Röcheln, das unmittelbar hinter ihnen aus dem Boden zu kommen schien. Sie sprangen auf. Eine Kreatur, bedeckt mit Moosfetzen und vermoderten Blättern, zwischen denen glänzende Schnecken krochen, bewegte sich nahezu lautlos auf sie zu. Bewegliche Fühler wuchsen aus ihrem Rücken und tasteten unentwegt das Erdreich ab. Norris zählte vier dichtbehaarte Beinpaare mit scherenartigen Auswüchsen. Das Ding versuchte sich aufzurichten, und er sah, daß es an der Unterseite zwei unterschiedlich lange, aber zweifellos menschliche Arme hatte, die es nach ihnen ausstreckte. Schmutzig weiße Stoffetzen hingen daran. In seinem verformten Kopf öffnete sich ein schmaler, mit Fransen bewachsener Spalt. Norris griff nach seinem Strahler, als er das Symbol der Digital Fruit Company auf dem Stoff erkannte. Die Kreatur öffnete ihr Maul immer weiter und stieß ein weiteres Röcheln aus. Was Norris jedoch am meisten schockierte, war die Tatsache, dass an den verkrüppelten Armen Hände saßen, deren lange Nägel leuchtend rot lackiert waren.
Hinter dem grotesken Geschöpf bewegte sich der Boden zwischen den Bäumen.
„Da sind noch mehr“, stieß Comanche angewidert hervor und legte an.
„Die sind viel zu langsam“, sagte Norris, räusperte sich und holte tief Luft. „Die können uns nicht gefährlich werden. Weißt du was? Ich wette, es sind fünfunddreißig …“
Wenige Minuten später schwebte das Rettungsboot über ihnen und tauchte das Gebiet in helles Licht, und sie sahen, dass sich in den Wipfeln der Bäume einige der monströsen Wesen an die Äste klammerten. Sie besaßen transparente Flügel, die jedoch mit Löchern übersät waren, von deren Rändern eine schleimige Flüssigkeit tropfte.
Als sie in den Transportkörben saßen und langsam nach oben schwebten, stießen die bemitleidenswerten Wesen einen kollektiven Schrei aus, der Norris und Comanche noch jahrelang in ihren Träumen verfolgen sollte.