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Der Schornstein

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01.04.2002
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Der Schornstein

Ich versuche ihn jedes Jahr zu besteigen, um die unaufhaltsam wachsenden Efeuranken zu entfernen. Sie umarmen ihn, nehmen im die Luft zum atmen mit ihren gierigen Klauen und lassen auch nicht mehr von ihm ab, wenn er schon hustet und stöhnt. Ich muss ihm helfen.
Nun ist es wieder einmal Herbst geworden, die Temperatur beginnt monoton zu fallen, wie die Graphen der Kurvenschar in meinem Matheheft. Es ist höchste Zeit die Leiter hervorzuholen, sie an das schwindelerregend hohe Dach zu lehnen und jede Sprosse mit der Fußsohle zu berühren.
Schritt eins und zwei sind leicht bewältigt, doch das Besteigen macht mir wie erwartet große Sorgen. Nach den ersten drei Sprossen steckt mir ein Splitter in der linken Hand, nach fünf schmerzen mir beide Hände von der krampfhaften Umklammerung des Holzes, nach zehn zittern meine Knie so sehr, dass ich meinen Fuß keinen Zentimeter mehr anheben kann.
Kurz nachdem ich meinen Blick auf das elfte Stück waagerechten Holzes fixiert habe, befinde ich mich wieder auf dem Gehweg und zünde mir eine Zigarette an. „Jedes Jahr das gleiche“, denke ich. Es muss mir doch einmal gelingen diese verdammte Leiter zu besteigen.
Du wirst mir jetzt sicherlich eine Menge Tricks verraten können, wie man Höhenangst besiegen kann, wie zum Beispiel, dass man vermeiden sollte nach unten zu sehen oder ähnliches. Du könntest damit einen schwerwiegenden Fehler getroffen haben, den ich auch immer wieder begehe, doch ich muss mich umblicken, um erkennen zu können was ich schon erreicht habe. Wenn ich sehe, dass sich unter mir schon drei oder mehr Stufen befinden, dann müsste es doch meinen Ehrgeiz steigern, oder?
Ich habe auch schon einiges ausprobiert, um den Schornstein zu erreichen. Einen Versuch möchte ich dir erzählen.
Es war vor drei Jahren und ich befand mich in der selben Situation wie heute, mit dem gleichen Vorhaben im Kopf. Da ich beobachtet hatte, dass ich mir die Anzahl der verbleibenden Stufen immer vor Augen halte und diese wie beim Count Down herunterzähle, kam ich auf die grandiose Idee jede zweite Leitersprosse zu entfernen. So hätte ich nicht mehr von zwanzig bis Null zählen müssen, sondern nur noch von zehn abwärts, und zehn dieser, vom Material her, kleinen Hürden habe ich schon oft geschafft.
Mit einem siegessicheren Gefühl lehnte ich also die Leiter wieder an das Dach, sah die minimale Anzahl von zehn Sprossen vor mir und begann meinen Fuß auf die erste zu stellen. Noch neun... noch acht... ein erstes Knarren... noch sieben... diese verdammten Splitter... noch sechs... ist das anstrengend... noch fünf... ich gebe gleich auf... noch vier... gleich geschafft... noch drei... beinahe wäre ich in einen Hundehaufen getreten. Ich bin schon wieder auf dem Boden der Tatsachen, alles umsonst. Damit endete auch dieser Versuch.
Heute drei Jahre später und fünf Kilo schwerer, mit einer neuen Leiter am Dach, die noch alle zwanzig Sprossen besitzt, stehe ich wieder vor der selben Herausforderung.
Vielleicht gelingt es mir dieses Jahr die entscheidende Möglichkeit zu Selbsttäuschung zu finden, denn auf dem normalen Weg des „den Arsch Zusammenkneifens“ scheitere ich.
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich als Kind die Leiter zum Heuboden hinaufgeschwebt bin. Meine Mutter schrie ständig hinterher: „Langsam mein Kind. Du fällst noch hinunter“. Ich bin immer heil oben angekommen. Nie kam ich in eine Situation, die meine heutige Angst begründen würde. Ich kann nicht einmal sagen, ob es mir heute Schwierigkeiten bereiten würde von ganz oben wieder hinunter zu steigen, denn seit zehn Jahren ist es mir nicht gelungen oben anzukommen.
Nun stehe ich also wieder am Fuße eines unbezwingbaren Weges, an dessen Ende ein eingewachsener Schornstein auf mich wartet. Man hat mir schon oft gesagt, ich könne mir doch Hilfe holen. Der Nachbar würde doch ohne Probleme die Leiter hinaufeilen, das Gestrüpp entfernen und im nächsten Moment wieder in seinen Erdbeeren sitzen. Doch von solchen klugen Ratschlägen will ich nichts wissen. Es ist schließlich mein eigener Schornstein, der von Jahr zu Jahr mehr von seiner Schönheit einbüßt, nur weil es mir nicht gelingt ihn zu erreichen.
Wieso quält mich die Angst vor dem Aufstieg so sehr? Sie lässt mich auf halbem Weg umkehren und aufgeben. Ich habe mein Ziel doch so deutlich vor Augen gehabt und auch jetzt erkenne ich es noch. Mein Ziel, ein langersehnter Wunsch meiner Kindheit, der mit der Zeit vom Gestrüpp vernichtet wird.
Ich sehe ein, dass ich kein Kind mehr bin, das ohne Scheu den Weg zur Erfüllung eines Wunsches bestreitet. Ich bin alt geworden und mein Ziel ist kaum noch zu deuten. Ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass man einen Traum, den man als Kind hat, sich so schnell wie möglich erfüllen sollte, denn von Jahr zu Jahr wird man ängstlicher und vorsichtiger und das Ziel verschwindet unter den Ranken der Vernunft.
Auch nächstes Jahr werde ich wieder am Fuße meiner Leiter stehen und es wird noch schwerer sein nur die erste Sprosse zu betreten.
Ich sollte mich wieder in meinen Sessel setzen und mich an den schönen strahlenden Schornstein von damals erinnern. Ich sollte meinen Blick von den gierigen Ranken abwenden, die irgendwann meinen Traum vernichtet haben.
Es wird ihnen auch gelingen den warmen Ofen am anderen Ende des Schornsteins schweigen zu lassen. Mein Ofen wird schweigen, wenn er keine Möglichkeit mehr zum Atmen hat. Mein Herz wird schweigen, wenn es keine Möglichkeit mehr zum träumen hat.


[Beitrag editiert von: momo am 04.04.2002 um 13:04]

 

Kritikerkreis


Hallo momo,

Deine Geschichte ist gut gestaltet, Du vermittelst durch Deine Sprache eine ruhige Atmosphäre, die zu der `Ergebenheit´ des Prot. in sein Schicksal paßt. Die direkte Ansprache des Lesers kommt etwas unverhofft, dann, wenn man sich schon auf ein Zuhören eingestellt hat. Die Geschichte könnte z.B. so beginnen: `Weißt du, ich versuche ...´ Am Schluß wäre die `Auflösung´ nicht unbedingt nötig gewesen, doch so kannst Du alle Dir wichtigen Details aufzeigen, gerade bei dem folgenden Aspekt ist das wohl wichtig, man könnte sich auch andere Reaktionen vorstellen.

Zitat:
„Ich sollte mich wieder in meinen Sessel setzen und mich an den schönen strahlenden Schornstein von damals erinnern. Ich sollte meinen Blick von den gierigen Ranken abwenden, die irgendwann meinen Traum vernichtet haben.“
Die Wechselwirkungen von Hoffnung und Angst, Träumen und Vernunft, unbeschwerten Kindheitstagen und Erwachsenenpflichten und natürlich auch die unverrückbaren Gegebenheiten menschlichen Lebens faßt Du in den beschriebenen Szenen zusammen, es ergibt sich das Bild einer Lebensphilosophie.
Die Kindheitstage werden nicht für die jetzigen Probleme verantwortlich gemacht, eine gute Entscheidung, da es eine zu einfache Lösung wäre, außerdem die Geschichte auf einen speziellen Fall reduzieren würde, so geht es (im richtig philosophischen Sinne) um eine grundlegende Fragestellung.
Letztlich geht es um die Beziehung Glück und Streben, der Prot. versucht es mit „Selbsttäuschung“, doch dann kommt er zur Einsicht, das „Ziel verschwindet unter den Ranken der Vernunft.“ Diese Haltung, eine Art `Übereinstimmung mit sich selbst´ erinnert an die Stoiker. Der Mensch ist laut Zenon sogar `durch die Vernunft mit Gott verwandt´. So weit geht Dein Prot. nicht, er zeigt pragmatische Züge: Trotz aller Widrigkeiten will er träumen, so lange er lebt- und lebt wohl auch nur, bis er nicht mehr träumen kann...

Die vermenschlichte Sicht des Schornsteins unterstützt die Ansichten des Prot., die Pflichterfüllung gegenüber dem Schornstein, der schon „hustet und stöhnt“, trotz aller Probleme („doch das Besteigen macht mir wie erwartet große Sorgen“). Dies paßt zur stoischen Haltung (womit ich Deine Geschichte ausdrücklich nicht auf einen Text über diese Philosophie reduzieren will).
Das Thema Parabel/ Kurzgeschichte möchte ich einmal ausklammern. Die von Dir gewählte Szenerie ermöglicht einige Parallelisierungen zu philosophischen Überlegungen, ist natürlich nicht besonders dramatisch, aber Dramatik ist ja keine Vorschrift für eine Geschichte.
Ganz, ganz streng genommen- warum schneidet der Prot. nicht die Stränge des Efeus kurz über dem Boden durch?


Du bemühst Dich auch Wortwiederholungen zu vermeiden, hier kannst Du noch nachlegen:

„bewegen kann, wie zum Beispiel“ - ohne „wie“

Noch eine Kleinigkeit:

„Temperatur beginnt monoton zu fallen, wie die Graphen der Kurvenschar in meinem Matheheft.“ - diesen Vergleich finde ich etwas konstruiert, weder vorher oder nachher spielt die Mathematik in dem Text eine Rolle (besonders „monoton“ fallen die Herbsttemperaturen wahrscheinlich nicht).
„Du könntest damit einen schwerwiegenden Fehler getroffen haben, den ich auch immer wieder begehe“ - warum könntest? Der Prot. bestätigt doch den Fehler. „getroffen“ ist auch unüblich, mein Vorschlag: Du hast damit sicher etwas Entscheidendes angesprochen ...

„an den schönen strahlenden Schornstein“ - an den schönen, strahlenden
„zum träumen“ - Träumen,
„befinde ich mich wieder auf dem Gehweg“ - da dachte ich erst an einen surrealistischen Effekt, deshalb vielleicht: `schon wieder herabgestiegen´ etc.

De Titel ist sicher kein Aufmerksamkeitsfänger, ich selbst liebe aber solche schlichten Überschriften.


Tschüß... Woltochinon

 

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