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Der Schneeschaufelmann
Es war der Abend vor Weihnachten. Gerade hatte Eileen ihren Papa gefragt, ob sie nicht doch noch etwas aufbleiben dürfe, aber er hatte nein gesagt. Natürlich wusste er, dass sie vor lauter Aufregung noch eine ganze Weile wachliegen würde. „Aber“, hatte er gesagt, „wenn du nicht wenigstens versuchst, zu schlafen, bist du morgen müde und nörgelig und verdirbst uns das ganze Fest. Und dann bringt dir der Weihnachtsmann keine Geschenke.“ Also kletterte Eileen die Leiter zu ihrem Hochbett hinauf.
Plötzlich rief sie laut „Aua!“, weil sie sich das Knie am Bettpfosten gestoßen hatte. Zum Glück war Papa noch im Zimmer und pustete sofort. Doch das genügte Eileen nicht.
„Du sollst den Spruch sagen“, bat sie. Papa hatte für solche Fälle einen Zauberspruch parat. Den sagte er jetzt auf, wobei er ein sehr wichtiges Gesicht machte: „Linke Minke Pinke Tinke, Enne Menne Weck Weck!“
Eileen grinste. „Dankeschön. Es tut schon gar nicht mehr weh.“ Sie kroch unter die Decke. „Gute Nacht, Papi.“
„Gute Nacht, Schatz.“ Papa gab ihr noch einen Gute-Nacht-Kuss, machte das Licht aus, ging hinaus und lehnte die Tür an.
Eileen lag im Dunkeln und sah zur Zimmerdecke hinauf. Dort funkelten zahlreiche Sterne, Sternschnuppen und Halbmonde. Eileen bekam diese Sterne ab und zu von ihren Eltern geschenkt. Man konnte sie an Wände oder Decke kleben, und sie leuchteten grünlichgelb, wenn das Licht aus war. So wie jetzt. Während Eileen sie anblickte, dachte sie an morgen. Sie freute sich auf den Tannenbaum und die Geschenke und auf das Singen von Weihnachtsliedern mit Mama und Papa und Oma und Opa. Aber eine Sache fehlte, und ohne die würde es nicht ganz wie richtiges Weihnachten sein.
Draußen lag überhaupt kein Schnee.
Sie hatte Papa gefragt, ob es vor dem Fest noch schneien würde, und er hatte gesagt, das könne man nicht genau wissen. Doch dann hatte er den Wetterbericht im Fernsehen verfolgt und Eileen traurig erklärt, wahrscheinlich würde es ein Weihnachten ohne Schnee werden. Das war sehr schade.
Plötzlich bemerkte Eileen eine Bewegung an der Decke. Von einem der Sterne hatte sich ein winziges Licht gelöst und wurde immer größer. Es sah aus, als ob etwas Leuchtendes von weit her näher käme. Dann erkannte Eileen voller Staunen, dass dieses Etwas Arme und Beine hatte. Und als es sich schließlich auf dem Bettrand niederließ, entpuppte es sich als eine winzige Frau mit dünnen Flügeln auf dem Rücken. Das Kleid, die langen Haare, das Gesicht und die Hände, alles strahlte ein silbriges Licht aus.
„Hallo, Eileen“, sagte die Frau leise.
„Hallo“, antwortete Eileen.
„Ich bin eine Fee“, erklärte die Frau, „und ich komme von sehr weit her. Von dort oben, zwischen den Sternen.“ Sie zeigte mit einem Finger hinauf zur Zimmerdecke. „Ich bin hergekommen, um dich um einen Gefallen zu bitten. Es ist etwas sehr Wichtiges – und vielleicht auch sehr schwierig. Du musst den Schneeschaufelmann befreien.“
„Den Schneeschaufelmann?“, fragte Eileen. Von dem hatte sie noch nie etwas gehört.
„Ja, ganz recht“, bestätigte die Fee, „den Schneeschaufelmann. Er wohnt in einer Höhle, ganz oben auf dem Windgipfelberg. In dieser Höhle wächst Schnee. Soviel Schnee, wie du dir nur vorstellen kannst.“
„Aber Schnee kann doch nicht wachsen“, unterbrach Eileen sie.
„Nun ja“, räumte die Fee ein, „so ganz genau weiß ich auch nicht, wie er dort entsteht. Jedenfalls quillt er ständig aus den tiefsten Tiefen dieser Höhle hervor. Und jeden Winter, wenn der Schnee ihm die ganze Höhle verstopft, schaufelt der Schneeschaufelmann ihn einfach zum Höhleneingang hinaus. Von dort bläst ihn der Wind weit fort, so dass es überall im Land zu schneien beginnt.“
„Aber leider nicht in diesem Jahr“, seufzte Eileen.
„Ganz recht. Und zwar deshalb, weil der Zauberer Grimpfgrompf die Höhle mit einem gewaltigen Felsbrocken verschlossen hat. Nun kann der Schneeschaufelmann den Schnee nicht mehr aus der Höhle hinausbekommen, und es schneit nicht mehr – im ganzen Land nicht. Deshalb musst du durch den Wald zum Windgipfelberg gehen und Grimpfgrompf dazu bringen, den Höhleneingang wieder zu öffnen. Damit es wieder schneit. Wirst du das tun?“
„Aber sicher!“ Eileen war so empört über das, was der Zauberer Grimpfgrompf getan hatte, dass sie sofort aus ihrem Hochbett kletterte. Sie bekam kaum mit, dass die Fee wieder zur Decke hinaufflog und zwischen den leuchtenden Sternen verschwand. Vielmehr ging das Mädchen an den Kleiderschrank, zog sich warme Sachen an und schlich aus ihrem Zimmer in den Flur.
Mama und Papa saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher und hatten die Tür zu. So merkten sie nicht, dass Eileen Schuhe, Jacke, Schal und Mütze anzog. Aber jemand anders merkte es: der Schäferhund Enno. Er kam neugierig aus der Küche getrottet, und Eileen dachte, es könne nicht schaden, ihn mitzunehmen. Sie zog ihn am Halsband aus dem Haus, schloss leise die Tür, und schon waren die beiden auf dem Weg zum Windgipfelberg.
Sie gingen an ein paar Häusern vorbei und bogen dann in einen schmalen Weg ein, der von der Straße an einen Bach führte. Eine Holzbrücke ermöglichte es, den Bach zu überqueren, doch Eileen zögerte einen Augenblick. Auf der anderen Seite der Brücke begann der Wald, und Mama und Papa hatten ihr verboten, alleine dorthin zu gehen. Dann aber erinnerte sie sich daran, dass der Schneeschaufelmann ihre Hilfe brauchte und dass schrecklich viele Kinder auf Schnee warteten, und sie ging weiter. Immerhin war sie schon sechs Jahre alt. Außerdem war sie gar nicht alleine: Enno war ja bei ihr.
Die beiden überquerten die Brücke und folgten dem Weg in den Wald hinein. Links und rechts von ihnen war es stockdunkel, nur der Weg wurde ein wenig vom Mond erhellt. Etwas unheimlich war es schon, wenn irgendwo in der Dunkelheit ein Vogel rief oder eine Maus im Laub raschelte. Doch Eileen ging ganz dicht neben Enno her, legte manchmal sogar die Hand auf seinen Rücken, und das machte ihr Mut.
Endlich kamen sie auf eine große Wiese. Darauf wimmelte es nur so von Glühwürmchen; der Platz war so hell, als befände er sich unter einer Straßenlaterne. In der Mitte der Wiese stolzierte ein Schwarm Krähen herum. Es sah witzig aus, wie diese großen schwarzen Vögel beim Gehen mit den Schwanzfedern wackelten.
Plötzlich erhob sich eine der Krähen in die Luft, schlug ein paar Mal mit den Flügeln und landete direkt vor Eileens Füßen. Enno knurrte, doch die Krähe beachtete ihn gar nicht. Sie blickte zu Eileen hinauf und sagte mit krächzender, aber nicht unfreundlicher Stimme: „Du kommst spät. Wir werden uns beeilen müssen, wenn es noch vor dem Fest schneien soll.“
Eileen war völlig perplex. Nicht darüber, dass ein Vogel sprechen konnte; in Zeichentrickfilmen machten sie das oft. Außerdem hatte Opa Lothar einen Papagei, der sehr gut sprach – und sogar „Alle Vögel sind schon da“ und „Kommt ein Vogel geflogen“ singen konnte -, und Papageien waren genauso Vögel wie Krähen. Doch woher wusste die Krähe, was Eileen vorhatte?
Es blieb keine Zeit, danach zu fragen. Die Krähe wandte sich ihren Artgenossen zu und krächzte etwas in der Vogelsprache, woraufhin die anderen herbeigeflogen kamen. Sie landeten aber nicht auf der Erde, sondern auf Eileens Armen und Beinen, wo sie sich in Jacke und Hose festkrallten.
„Tut mir leid“, sagte ihre Anführerin, „aber Enno muss zu Fuß laufen. Leider verstehen sich Hunde und Krähen nicht besonders gut.“ Zur Bestätigung knurrte Enno wieder. Die Vögel schlugen erneut mit den Flügeln und hoben mitsamt dem Mädchen vom Boden ab. Enno bellte ihnen wütend hinterher, dann setzte er sich in Bewegung und lief ihnen nach.
So flogen sie eine ganze Weile. Von Zeit zu Zeit landeten sie auf einer Lichtung, um auf Enno zu warten; eine der Krähen kreiste dann hoch über ihnen in der Luft, damit der Hund sie finden konnte. Für die Tiere musste es recht anstrengend sein, für Eileen war es bloß schrecklich aufregend. Vor allem, als der Morgen anbrach und es hell wurde. Von so hoch oben sah die Welt ganz anders aus.
Schließlich tauchte in der Ferne ein großer Berg auf.
Die Vögel landeten mit Eileen am Fuße des Berges, und sie fragte sofort: „Ist das der Windgipfelberg?“
„Ja“, antwortete die sprechende Krähe, „und darum verlassen wir dich hier. Niemand kann von uns verlangen, in die Nähe von Grimpfgrompf zu kommen. Wir sind auch viel zu erschöpft und hungrig. Also viel Glück bei deiner weiteren Reise.“ Damit flogen sie alle davon, und Eileen blickte zum Gipfel des steinigen, kahlen Berges hinauf, bis Enno aus dem Wald gelaufen kam.
Am liebsten wäre sie ebenfalls wieder umgekehrt. Schließlich war heute Weihnachten, und sie musste doch zur Bescherung zu Hause sein. Aber es half nichts; sie hatte der Fee ihr Wort gegeben. So machte sie sich mit Enno an den mühsamen Aufstieg.
Gegen Mittag rasteten sie an einer windgeschützten Stelle. Der Wind wurde nämlich immer stärker, je höher sie kamen. Eigentlich verriet das ja schon der Name des Berges. Plötzlich sagte eine freundliche Stimme hinter ihnen: „Ich dachte schon, ich finde euch nicht.“
Eileen drehte sich um und blickte in das bärtige Gesicht eines Steinbocks. Sie kannte solche Tiere bisher nur aus dem Zoo. Sie hatte gar nicht gewusst, dass die auch sprechen konnten! Allmählich wurden die Ereignisse sehr verwirrend.
Der Steinbock kniete nieder und forderte das Kind auf, sich auf seinen Rücken zu setzen und an seinem Fell festzuhalten. Und schon ritt Eileen in Windeseile dem Berggipfel entgegen. Die Hufe des Steinbocks fanden sicher jeden noch so kleinen Halt, und zweimal schrie Eileen ängstlich auf, als das Tier ohne Zögern über tiefe Felsspalten sprang. Enno blieb wiederum nichts übrig, als ihnen zu folgen.
Bald darauf setzte der Steinbock Eileen knapp unterhalb des Gipfels ab, verabschiedete sich und verschwand ebenso unvermittelt wie am Morgen die Krähen. Wieder waren Eileen und Enno auf sich allein gestellt. Sie sahen sich um, und plötzlich entdeckte Eileen mitten in der Bergwand, nur ein kleines Stückchen entfernt, einen riesigen, runden Felsbrocken. Das musste der verschlossene Eingang zu der Höhle sein, in der der Schneeschaufelmann lebte.
Sie gingen hinüber und untersuchten den Felsen. Er war viel zu schwer, um ihn auch nur ein wenig zu bewegen. Es gab nur eines, was sie tun konnten: Sie mussten den Zauberer Grimpfgrompf finden. Doch wo sollten sie ihn suchen?
Dieses Problem löste sich im nächsten Moment von selbst. Direkt neben ihnen blitzte und donnerte es, und aus einer Rauchwolke trat ein alter Mann auf sie zu.
Sofort – das heißt, nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte – fragte Eileen: „Sind Sie der Zauberer Grimpfgrompf?“
Der alte Mann nickte. „In der Tat, der bin ich. Der mächtige, berühmte Zauberer Grimpfgrompf. Und wer bist du, kleines Mädchen? Und was treibt dich hier herauf auf den kalten, windigen Berg?“
„Ich bin Eileen. Ich bin mit meinem Hund Enno hierher gekommen, um den Schneeschaufelmann zu befreien.“
Grimpfgrompf brach in schallendes Gelächter aus. Dann aber verfinsterte sich seine Miene, und er rief wütend: „Niemand wird hier befreit, verstanden?“
„Warum haben Sie ihn eigentlich in seiner Höhle eingesperrt?“, fragte Eileen, die sich nicht so leicht einschüchtern ließ. „Mögen Sie vielleicht keinen Schnee?“
„Ich hasse Schnee!“, brüllte der Zauberer. „Ich hasse ihn, weil ich alles am Winter hasse. Am meisten aber hasse ich die Kälte. Wenn es kalt ist, tut mir alles weh, weil ich an Rheuma leide. Du würdest den Winter auch hassen, wenn du so alt wärst wie ich!“
„Aber können Sie denn Ihr Rheuma nicht einfach wegzaubern?“
„Ah, ich merke schon, ich rede mit Fräulein Neunmalklug, was? Denkst du, ich hätte das nicht versucht? Aber ich kenne nun mal keinen Zauberspruch, der dagegen hilft. Ich bin in meiner Verzweiflung sogar schon bei einem Arzt gewesen! Welche Schande für einen ehrbaren Zauberer! Doch es war vergebens. Auch er konnte mir nicht helfen. So bleibt mir nur, euch anderen Menschen den Spaß am Winter zu verderben, wie er mir verdorben ist. Das ist nur gerecht.“
„Das ist überhaupt nicht gerecht!“ empörte sich Eileen, und Enno knurrte wütend. „Überhaupt kein bisschen im Geringsten nicht. Was können wir denn dafür, dass Sie Rheuma haben?“ Einen Augenblick lang hatte sie richtig Mitleid mit dem Zauberer gehabt, doch nun war sie sehr zornig.
„Schluss jetzt!“, befahl Grimpfgrompf mit lauter Stimme. „Deinetwegen musste ich hier auf den Berg kommen, wo es furchtbar zieht, und jetzt tut mir schon wieder alles weh. Zur Strafe verwandele ich dich in einen Stein.“
Er hob beide Hände hoch und begann, Worte zu murmeln, die Eileen nicht verstand. Vor Angst wusste sie nicht, was sie tun sollte, doch Enno kam ihr zu Hilfe. Er rannte auf Grimpfgrompf zu und sprang ihn so heftig an, dass Mann und Hund zu Boden stürzten. Enno kam wieder auf die Pfoten, aber im nächsten Augenblick erstarrte er.
Obwohl er immer noch aussah wie ein Schäferhund, begriff Eileen sofort, was passiert war. Grimpfgrompf hatte ihn in Stein verwandelt. Und schon erhob sich der Zauberer und wandte sich wieder dem Mädchen zu.
Doch inzwischen hatte Eileen vor lauter Wut ihre Angst vergessen. „Hören Sie mir mal zu, Sie doofer alter Mann!“, schrie sie. „Entweder Sie zaubern Enno sofort wieder normal, oder ich werde Sie auch in einen Stein verwandeln!“ Sie machte ein möglichst verkniffenes Gesicht und hob die Hände über den Kopf, wie sie das bei Grimpfgrompf beobachtet hatte. Sie hoffte sehr, das würde ihm Angst machen.
Leider begann er stattdessen nur wieder mit seinem hässlichen Gelächter.
Da wurde es Eileen zu bunt. Ohne noch groß zu überlegen, sagte sie den einzigen Zauberspruch auf, den sie kannte - den Spruch, mit dem ihr Vater sie tröstete, wenn sie sich wehgetan hatte: „Linke Minke Pinke Tinke, Enne Menne Weck Weck!“
Doch statt sich in Stein zu verwandeln, lachte der alte Mann nur noch lauter. Er fiel sogar auf die Knie, und in seinen Augen standen Tränen vor Lachen. Enttäuscht ließ Eileen ihre Arme sinken.
Ganz unvermittelt brach das Lachen ab. Grimpfgrompf starrte sie ungläubig an. Er sprang auf die Füße, fasste sich mit beiden Händen an den Rücken und grunzte: „Das gibt’s doch nicht!“ Dann kam er auf Eileen zu und fragte: „Weißt du eigentlich, was du gerade getan hast?“
Eileen schüttelte den Kopf. Sie wusste nur, was sie vorgehabt hatte – ihn in Stein zu verwandeln -, und das hatte nicht funktioniert.
„Du hast mein Rheuma weggezaubert“, erklärte Grimpfgrompf, „meine Schmerzen sind wie weggeblasen! Sieh nur, was ich kann!“ Er begann, wild herumzuhüpfen und sogar auf dem harten Boden einen Purzelbaum zu schlagen. Anschließend blieb er vor Eileen sitzen und begann wieder zu lachen, bis er vor Freude weinte.
Und weil er gar nicht mehr böse aussah, freute Eileen sich mit ihm und lachte ebenfalls.
Irgendwann hatten sie genug gelacht. Der Zauberer bedankte sich bei Eileen und fragte, ob er etwas für sie tun könne. Natürlich verlangte sie, dass er Enno wieder lebendig zaubere, und das tat er auch. Der Hund war verständlicherweise sehr wütend und wollte Grimpfgrompf beißen, doch Eileen redete ihm gut zu, bis er sich beruhigte. Dann fiel Eileen ein, weshalb sie eigentlich hierher gekommen war.
„Jetzt müssen Sie aber den Schneeschaufelmann befreien, damit es endlich schneit.“ Doch kaum hatte sie das gesagt, fiel ihr auf, dass es bereits dunkel zu werden begann. Heiligabend neigte sich langsam dem Ende zu; bald würde überall Bescherung gefeiert werden, und der Schnee würde zu spät kommen, um noch weihnachtliche Stimmung zu verbreiten.
Sie behielt aber diese traurigen Gedanken für sich. Grimpfgrompf begann eine endlose Reihe von Beschwörungen und Bewegungen, die genau einstudiert wirkten. Schließlich erzitterte der Felsen im Höhleneingang und rollte dann mit lautem Gepolter den Berg hinab. Weit unten prallte er gegen einen anderen Felsblock und zersprang in unzählige kleine Stücke.
Eileen blickte wieder zur Höhle. Dort stand ein Mann, der beinahe aussah wie ein riesiger Eskimo. Seine Kleidung bestand aus dicken Fellen, und er war der größte Mann, den Eileen je gesehen hatte. In der Hand hielt er einen mächtigen, hölzernen Schneeschieber. Grimmig starrte er den Zauberer an und rief: „Ich hätte nicht übel Lust, dich kräftig mit meiner Schaufel zu vertrimmen. Es ist dein Glück, dass ich jetzt viel Arbeit nachzuholen habe.“
Das war nicht gelogen. Die ganze Höhle hinter ihm war bis an die Decke mit Schnee vollgestopft. Und Eileen schien es, als schiebe sich die weiße Masse langsam zum Höhleneingang heraus. Ja, der Schneeschaufelmann hatte in der Tat sehr viel Arbeit vor sich, wenn er die Höhle wieder freischaufeln wollte.
Er rief noch: „Vielen Dank, dass du mich befreit hast, Eileen!“ Dann drehte er sich um, ohne zu erklären, woher er Eileens Namen kannte. Aber an solche Sachen hatte sich unsere tapfere, kleine Heldin inzwischen gewöhnt. Fasziniert beobachtete sie, wie der Schneeschaufelmann die erste Schippe voll Schnee in die Luft warf, wo der Wind die weißen Flocken erfasste und davontrug.
Sie und Grimpfgrompf (und natürlich Enno) sahen ihm bei seiner Arbeit zu, bis es ganz dunkel geworden war. Da hatte er schon einen großen Teil der Höhle vom Schnee geräumt, doch immer wieder kam er zum Eingang zurück und warf weiteren Schnee hoch in den Himmel, wobei er seine Zuschauer nicht im Geringsten beachtete.
Endlich sagte Grimpfgrompf: „Ich muss nun gehen. Möchtest du, dass ich dich nach Hause zurückzaubere, Eileen?“
„Oh, das wäre schrecklich nett. Der Weg ist so furchtbar weit!“
Grimpfgrompf sagte die ersten Worte eines Spruches auf. Das Mädchen unterbrach ihn: „Aber Enno muss auch mit.“
„Natürlich. Also mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder.“
„Ja, vielleicht. Tschüß, Herr Grimpfgrompf.“ Der Zauberer sagte seinen Spruch, und im nächsten Augenblick standen Eileen und Enno auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus.
War es wirklich im nächsten Augenblick? Eileen war sich nicht ganz sicher. Es musste schon sehr spät sein. Denn nirgendwo in der ganzen Straße brannte noch Licht hinter den Fenstern. Jedenfalls schlichen die beiden ins Haus, wo Eileens Eltern bereits tief und fest schliefen. Auch Eileen zog sich gleich aus und schlüpfte ins Bett. Sie war unglaublich müde. Doch während ihr schon die Augen zufielen, dachte sie an die leuchtenden Sterne an der Decke und die Fee, die dort wohnte.
Erschöpft flüsterte sie: „Bitte, liebe Fee, kannst du nicht machen, dass ich Weihnachten doch nicht verpasst hab?“ Dann war sie auch schon eingeschlafen.
Am nächsten Morgen schaute sie gleich nach dem Aufwachen aus dem Fenster. Draußen war alles weiß; es musste die ganze Nacht geschneit haben. Während sie traurig ins Wohnzimmer zu Mama und Papa ging, fragte sie sich, ob der Schneeschaufelmann wohl noch immer bei der Arbeit wäre.
Sie wünschte ihren Eltern und Enno einen guten Morgen.
„Hoffentlich“, fügte sie hinzu, „habt ihr euch keine Sorgen um mich gemacht.“
Ihre Eltern sahen sie fragend an.
„Aber warum hätten wir uns denn Sorgen machen sollen?“
„Na, weil ich doch einen ganzen Tag lang verschwunden war.“ Manchmal waren Mama und Papa wirklich komisch.
„Wie bitte?“ fragte Mama. „Aber du warst doch nicht verschwunden.“
„Doch, natürlich. Ich war nämlich auf dem Windgipfelberg. Und ihr musstet Weihnachten ohne mich feiern.“
„Aber nein“, sagte Mama kopfschüttelnd, „wir haben doch Weihnachten noch gar nicht gefeiert. Heute ist doch Heiligabend.“ Sie lächelte.
Papa sagte: „Das musst du geträumt haben, Schatz.“ Er ging in die Hocke und nahm sie in den Arm. „Nur geträumt“, wiederholte er.
Doch Eileen wusste es besser.
Lachend lief sie ins Kinderzimmer. Dort tanzte sie herum und sang immer wieder: „Heute ist Weihnachten, heute ist Weihnachten!“ Dann blieb sie stehen und blickte zu den Sternen an der Zimmerdecke empor.
„Danke, liebe Fee“, sagte sie leise.