Der Schneemann
Die Sonne stand am Rande des Horizontes, als die sieben jährige Tiffany ihre Augen öffnete. Die ersten Sonnenstrahlen, die ihre Nase berührten brachte sie zum niesen und somit zum Aufstehen. Sie ging zu ihrem Fenster, das sie mit ihrer Handfläche leicht berührte. Ihre Augen, vom Schlafe noch müde, dennoch weit aufgerissen staunte sie auf die Wiese, die das Haus umgab. Um ihre Handfläche hatte sich in diesen Sekunden ein Hauch des Nebels gebildet, der die Wärme des Hauses wiedergab. Tiffany traute sich nicht das Fenster zu öffnen, denn es sah klirrend kalt aus und der erste Schnee lag aus dem Grün.
In den letzten sieben Jahren hatte sie nicht ein einziges Mal den Schnee gesehen. Da ihre Eltern in den Winterferien immer in den Süden geflogen sind, um dort ihre Weihnachten zu verbringen. Doch in diesem Jahr nicht. Ihr Vater hat seinen Job verloren und somit konnte sich die Familie keinen zweiten Jahresurlaub mehr leisten. Das machte Tiffany auf der einen Seite sehr Traurig, weil sie oftmals mitbekam, wie ihre Eltern sich stritten, wenn es um den nächsten Einkauf ging. Andererseits zauberte die weiße Pracht, die das Sonnenlicht zu dieser Tageszeit aufhellen ließ, als sei man direkt bei ihr, ein Lächeln auf das zarte Gesicht.
Schnell zog sich Tiffany eine Hose, einen Pullover und ein paar der dicksten Schuhe an, die sie in ihrem Schrank finden konnte. Nochmals schaute sie aus dem Fenster, schüttelte den Kopf und rannte in die Küche, wo der Rest der Familie mit dem Frühstück auf Tiffany wartete.
„Mami, Mami, siehst du das da draußen? Ist das nicht toll? Schnee, endlich Schnee. Darf ich rausgehen? Bitte, bitte…“ Sie sah ihrer Mutter direkt in die Augen, dachte aber nur an den Schnee, der sie draußen erwarten würde. „Na dann, wenn du dich so darauf freust. Dann geh. Aber zieh dir eine warme Jacke an und bleib am Haus – ja!“ Tiffany nickte aufgeregt, schmiss sie ihre Winterjacke um und lief mit zudonnernder Tür raus in den Garten.
Sie hielt einen Moment inne und schaute sich um. Alles war über nacht weiß geworden. Die Dächer der Häuser, die Straßen, die Bäume, die vor nicht all zu langer Zeit erst ihre Blätter verloren haben, und der Teich von den Nachbarn wurde zu einem Spiegelfläche.
Trotz der klirrenden Kälte fühlte Tiffany sich sehr wohl und ließ sich in den Schnee fallen. Sie landete weich, auf einer Schneedecke, die mindestens 10cm erreicht hatte. So etwas Tolles, einfach nur Einmaliges hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Frei sein, wie auf Wolken schwebend, so kam sie sich vor. Wie ein Engel, der von einer Zuckerwatte zur Nächsten hüpfte. Lediglich die Harfe fehlte ihr. Nach fünf Minuten stand sie wieder auf und fing an in dem Garten rumzulaufen. Ohne Ziel, ohne Zeit und Raum. Ihr langen, blonden Haare flogen im Wind hin und her. Sie lief um den Baum, sprang über Fantasiehürden, an die sie sich erinnerte, als sich an die Skiläufer aus dem fernsehen dachte. Sie wollte nicht mehr aufhören, blieb aber nach einiger Zeit vor Erschöpfung stehen.
Nun fehlte ihr nur noch eine Kleinigkeit, um diesen Augenblick in Erinnerung und somit für immer zu behalten. Tiffany entschloss sich dazu einen Schneemann zu bauen, der seines Gleichen sucht. Er sollte einen dicken Bauch und eine Mohrrübe als Nase aufgesetzt bekommen. Sie fing an sich aus dem Schnee eine große Kugel zu formen. Damit rollte sie über den gesamten Garten, zum sich noch ein wenig größer zu bekommen. Sie verlor sich in eine kleine Welt, die sie ihr Eigen nannte. Sie fühlte sich wohl und hoffte, dass dieser Tag in die Ewigkeit eingehen würde.
Doch nach einigen Minuten holte sie die Realität zurück. „Wie kannst du mir das nur antun? Ich verstehe dich nicht, so viel Geld auszugeben, in unserer Situation ist quasi Selbstmord“, hörte Tiffany aus dem Fenster. Eingroßer Streit unter den Eltern brach aus. Tiffany bekam Angst, wollte nicht, dass sie sich streiten und ging, unter dem Vorwand eine Mohrrübe für den Schneemann zu holen, ins Haus um zu helfen.
In der Küche angekommen sah sie ihre Mutter weinen und den Vater in der Ecke, am Herd stehen. Keiner sagte ein Wort, bis Tiffany das Schweigen brach: „Sag man Mami, bekomme ich eine Mohrrübe für meinen Schneemann?“ Ihre Mutter wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht, gab dem Kind das Gemüse und bat Tiffany draußen weiter draußen zu spielen. Mami und Papi haben etwas sehr wichtiges zu klären.
Mit der Erklärung der Mutter fing auf Tiffany an zu weinen und rannte traurig hinaus in ihre Welt. Von dort aus hörte sie ihre Eltern wieder schreien. Doch sie wollte es nicht beachten – besser, sie sollte es ja nicht, hatte Mami gesagt.
So machte sie sich wieder an ihren Schneemann, dem sie nun den Bauch aufsetzte. Die Kugel war bald so groß, wie Tiffany selbst, so dass sie diese kaum bewältigen konnte. Jetzt fehlte nur noch der Kopf und das hätte sie es fast geschafft.
Nach einer viertel Stunde war es so weit. Es wurde langsam Mittag und der Schneemann war praktisch fertig, bis auf die Nase. Vor lauter Hunger hatte Tiffany sie bereits angeknabbert. Doch war sie noch immer groß genug, um ihrem Schneemann würdig zu sein. Sie steckte die Mohrrübe in die Mitte der obersten und kleinsten Kugeln, die den Schneemann in seinem Leben ausmachte. Mit deinem Zweig machst sei Löcher, als Augen in die selbe Kugel, do dass der Schneemann sein Gesicht bekam. Tiffany trat ein paar Schritte zurück und bewunderte ihr Werk mit Stolz. Sie entschloss sich dazu den Schneemann Tim zu nennen und fiel ihm in die Arme. Dort stand sie Stunden, ohne, dass sie etwas von ihren Eltern hörte.
In der, sich langsam einschleichenden Dunkelheit, Tiffany lag Tim noch immer in den Armen Spürte sie mit einem Mal, wie eine Hand ihren Kopf tätschelte, als wolle sie sagen: Alles wird gut, mach dir keine Sorgen.“ Tiffany erschrak und schreckte auf. „Lauf nicht weg, es ist eh schon zu spät“ , hörte Tiffany eine Stimme. Sie drehte sich um und sah – Tim. Außer dem Schneemann war niemand sonst im Garten. Doch war es anders als heute morgen. Irgendwie kälter, unheimlicher und gar nicht mehr so schön, wie am Anfang. „Wer spricht da, was soll das?“ Keine Antwort.
Sie ging auf Tim zu und schaute ihm in die Augen: „Warst du das? Kannst du sprechen?“ Das rechte Auge von Tim zwinkerte. Tiffany bibberte, allerdings nicht vor Kälte. Sie bekam richtig Angst. Schnell drehte sie sich um, wollte ins Haus laufen, zu ihrer Mutter. Doch, als sie zu Sprint ansetzen wollte, stand sie vor… Nichts. Das Haus war nicht mehr da. Nicht mal das, es war überhaupt nichts mehr da, wo es hingehörte. Tiffany hatte das Gefühl als würde das auf sie genauso zutreffen. Sie war überall, aber nicht in ihrer Welt, in der sie gehörte.
„Komm mit mir, min Engel. Du bekommst auch eine Harfe, wenn du magst? Kannst du Harfe spielen?“ Tiffany drehst sich zurück zu Tim. „Warum tust du das, was hast du mit meinen Eltern gemacht und wo sind wir hier?“ Tim zwinkerte wieder: „Eine Frage nach dem Anderen. Du wirst schon noch dahinterkommen, wo du bist, wo deine Eltern sind und was du machst. Aber nun müssen wir gehen“ Tiffany drohte Tim: „Hör mal, Schneemann, wenn du mich nicht zu meinen Eltern bringst, dann werde ich dich mit Schneebällen bewerfen. Ich meine es ernst. Ich will nach Hause.“ Eine Träne lief ihr über die Wange und Tim nahm eine Hand mit Schnee auf und schmiss den daraus geformten Ball direkt an Tiffanys Kopf. „Wenn du nicht freiwillig mitkommst, dann muss ich dich eben zwingen, lachte Tim.“
Am nächsten Morgen
Es ist mittlerweile 10.30Uhr und Tiffany lies sich noch immer nicht am Frühstückstisch blicken. „Meinst du sie traut sich nicht, weil wir uns gestritten haben?“ fragte die Mutter fürsorglich. „Ich hoffe nur, sie ist gestern nicht zu lange draußen gewesen. Wann hast du sie denn reingeholt?“ „Ich?“ erwiderte der Vater. „Ich dacht du kümmerst dich um Tiffany“ Die Mutter sprang auf, öffnete die Tür zum Garten und brach unter Tränen zusammen.
Tiffany lag noch immer in den Armen von Tim. Nur der Schneemann hatte sie ja gestern mit in sein Reich genommen.