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Der Schmetterling

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28.01.2006
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Der Schmetterling

„Was ist da drin?“, fragst du mich als wäre es die einfachste Frage auf der ganzen Welt.
Der Fluss zieht vorbei, Sonnenstrahlen glitzern auf dem Wasser und auf der hölzernen Bank sitzt du und betrachtest die Kiste, die ich auf dem Tisch davor abgestellt.
„Leiden“, sage ich, „Schmerz, Gefühle, was weiß ich.“ Ich sage es schnell dahin und Bienen summen leise, fast stumm. Weiß blüht der Kirschbaum hinter unserem Rücken und spendet uns Schatten.

Du lachst. „Mach sie doch mal auf“, sagst du und bist gespannt auf meine Antwort, Verlegenheit, weil du weißt, dass man Gefühle nicht zeigen kann. Was ist das auch: Leiden, Schmerz?
„Ein Schmetterling“, antworte ich dir und du blickst dich um und ich schüttle nur den Kopf, kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„Nicht da“, sage ich, „sondern da“ und deute auf die Kiste.
„Da?“, fragst du, um dich zu vergewissern, „Sprachst du nicht eben noch von Schmerzen?“
„Glaubst du, dass ich Schmerzen in eine Kiste packen kann?“, schlage ich dich mit der Waffe, die du gegen mich hast aufbieten wollen.
„Dann zeig ihn mir, los, mach die Kiste auf!“
„Das kann ich nicht.“
„Und warum?“
„Na, dann fliegt er doch weg.“
„Wie schaut er denn aus?“, enttäuscht, doch drängend deine Frage, du scheinst verwirrt.
„Wie soll er schon aussehen? Wie ein Schmetterling eben!“
Du gibst dich nicht zufrieden, willst mehr wissen, alles, ob er schön und bunt ist, ob er groß ist, wo ich ihn gefunden, warum ich ihn in diese Kiste gesperrt.
„Was ist das eigentlich für eine seltsame Kiste?“
„Seltsam, wieso?“
„Pechschwarz. Und eine Klappe hat sie auch nicht. Weder Deckel noch Boden. Keine Ecken, keine Kanten, keine Schweißnaht noch Nagel oder Schraube. Wie hast du deinen Schmetterling da überhaupt reingekriegt?“
„Der war da schon drinnen.“
„Und woher weißt du das?“
„Na, ich sehe ihn doch!“

Du glaubst mir nicht, aber wie kann ich es dir übel nehmen? Du bist ein Mensch, kannst nur mit den Augen sehen, mit den Ohren hören, mit der Nase riechen. Kannst vielleicht die Blumen sehen auf dem Feld oder den Fluss, der vorbeizieht. Die Bienen summen hören und den Duft der Blüten riechen. Nimmst wahr, was auf der Welt passiert. Fühlst nicht, was in der Welt geschieht.

„Ach komm, verarsch mich nicht. Die Kiste ist doch leer!“

Wie willst du auch spüren, wie ich leide? Hast deine eigene Kiste, mir fremd, und deinen Schmetterling sehe ich nicht. Ich kann mir vorstellen, wie er aussieht, aber meine Augen malen ihn wie den Kirschbaum und schon hat er mit deinem nichts mehr zu tun. Und doch ahne ich, dass es ihn gibt, weil du mich nicht belügst.

 

Hallo Smilodon!

Wieder einmal eine interessante Geschichte, die mich ganz schön nachdenklich zurücklässt. Im Moment sind in meinem Kopf einige Kisten mit Schmetterlingen drin, aber die Verknüpfungen fehlen mir noch.
Dein Protagonist scheint irgendwie übernatürlich zu sein. Oder vielleicht wirkt es auch nur so, weil er mehr zu wissen scheint, als das Mädchen (okay, es wird nicht gesagt, dass es ein Mädchen ist, aber für mich klang es so, also Mädchen ;)). Sie sieht die Welt wie ein Mensch, aber vielleicht auch nur, weil es um seine Kiste geht (er, der Protagonist, für mich ein Junge ;)). Die Kiste stellt wohl seine Seele dar. Seine Seele kennt er selbst am besten, das Mädchen hat dort keinen Einblick, weil sie ihn nicht kennt. Ich meine, vielleicht kennt sie ihn schon, aber sie kennt ihn nicht richtig. Und er kennt sie auch nicht, denn er kann ihren Schmetterling nicht sehen. Interessant finde ich, die Seele als Schmetterling darzustellen. Man könnte ja auch interpretieren, dass der Junge verliebt ist in sie, aber da wäre die Schmetterling-Assoziation irgendwie zu profan. Wobei das sehr verliebt klingt:

„Leiden“, sage ich, „Schmerz, Gefühle, was weiß ich.“ Ich sage es schnell dahin und Bienen summen leise, fast stumm. Weiß blüht der Kirschbaum in unserem Rücken, der uns Schatten spendet.
Finde ich. Um die Verliebtheits-Interpretation fortzuführen:
„Mach sie doch mal auf“, sagst du und bist gespannt auf meine Antwort, Verlegenheit, weil du weißt, dass man Gefühle nicht zeigen kann.
Sie fordert ihn auf, seine Gefühle zu zeigen, er wird verlegen.
Wie willst du auch spüren, wie ich leide?
Verliebt verliebt. Oder vielleicht auch nicht.

Auch wenn mich dein Text ein bisschen verwirrt zurücklässt, mochte ich ihn sehr gern. Zum einen die Bilder, die du gezeichnet hast und zum anderen die Interpretationsvielfalt, die dahinter steckt, ohne die Geschichte schal und langweilig wirken zu lassen.

Hab ich gern gelesen und drüber philosophiert! :D
Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hallo Apfelstrudel,
wieder so einen lobenden Kommentar von dir, vielen Dank! :)

Wieder einmal eine interessante Geschichte, die mich ganz schön nachdenklich zurücklässt.
Dann ist mein erstes Ziel schonmal erreicht ;)

Die Verknüpfungen zu den Schmetterlingen hast du aber schon ganz richtig verstanden, insbesondere was dies hier angeht:

Die Kiste stellt wohl seine Seele dar. Seine Seele kennt er selbst am besten, das Mädchen hat dort keinen Einblick, weil sie ihn nicht kennt. Ich meine, vielleicht kennt sie ihn schon, aber sie kennt ihn nicht richtig. Und er kennt sie auch nicht, denn er kann ihren Schmetterling nicht sehen.

Ob das ganze jetzt ein Junge und ein Mädchen oder zwei Jungen oder zwei Mädchen oder auch erwachsene Leute sind, spielt für mich eigentlich keine Rolle, ich selber habe es eigentlich auch eher an einem Jungen und einem Mädchen nachempfunden, aber im Prinzip ist es offen. Auch die Sache mit dem Verliebtsein ist höchstens durch die Schmetterlinge angedeutet, ich habe da auch ein wenig an die Schmetterling-Assoziation gedacht und fand sie im Prinzip gar nicht mal so schlecht, auch wenn es hier nicht primär um das Verliebtsein geht.

Danke nochmal fürs Gutfinden und für deinen Kommentar, viele liebe Grüße,
Sebastian

 

Hallo Smilodon!

So, ich bins nochmal. Ich habe deine Geschichte jetzt wieder und wieder gelesen, und ich muss sagen, sie gefällt mir immer noch, sogar immer besser. Du hättest mich sogar fast zu meiner ersten Empfehlung gebracht, wenn nicht dieser letzte Satz wäre, den ich absolut nicht einzuordnen weiß!

Und doch ahne ich, dass es ihn gibt, weil du mich nicht belügst.
Ich kann das einfach nicht interpretieren, weil ich keinen Ansatzpunkt finde und das macht mich total wuschig! Er (für mich immer noch ein Junge ;)) ahnt, dass das Mädchen eine Seele hat, weil sie ihn nicht belügt. Schließt das eine das andere aus? Wieso sollten Leute, die lügen, keine Seele haben? Menschen lügen nunmal, so ist das (sogar 200 mal pro Tag, wenn man den Studien trauen kann ... aber man soll ja keiner Studie trauen, die man nicht selbst gefälscht hat :D Ich schweife ab.). Und haben Menschen also keine Seelen?
Ich würde diesen Satz so gern verstehen!

Liebe Grüße nochmal,
vom Strudel :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo liebes Strudelchen,
das ist ja eine ganz besondere Ehre, dass du meine Geschichte gleich wieder und wieder gelesen hast, dann scheint sie dir wirklich gefallen zu haben :)

Du hättest mich sogar fast zu meiner ersten Empfehlung gebracht, wenn nicht dieser letzte Satz wäre, den ich absolut nicht einzuordnen weiß!
Na, wenn das so ist, dann lösche ich den Satz raus :D - Nein, natürlich nur Spaß, der letzte Satz ist für meine Absicht an und für sich immens wichtig.

Ich schreib es dir meine Gedanken dazu mal per PN, öffentlich erklären will ich meine Gedanken nämlich nur ungerne, weil das dann so aussähe als wären es die einzig richtigen und das ist ja nunmal leider nicht so ;)

Liebe Grüße,
Sebastian

***
Danke für meine allererste Empfehlung :)

 

Hallo Nachtschatten,

freut mich sehr, dass dir meine Geschichte gefallen hat :)

Ich hoffe nur, dass der philosophische Aspekt aufgrund der phantastischen Elemente nicht generell untergegangen ist, der lag mir nämlich hier eigentlich mehr am Herzen als eine phantasievolle Geschichte zu schreiben.
- Wenn sie allerdings auch als phantastische Geschichte schön gefunden wird, sträube ich mich auch nicht dagegen. ;)

Und natürlich freue ich mich auch, wenn du dich durch meine anderen Texte kämpfen willst, viele liebe Grüße,
Sebastian

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Smilodon (Namen gibt's ...),

Eine ominöse "Black Box" als Metapher für die Seele eines Menschen. In ihr haust eine Art Ideal eines Schmetterlings:

„Wie soll er schon aussehen? Wie ein Schmetterling eben!“
... der daher nicht näher beschrieben werden kann. Selbst die "Kiste" scheint in ihrem Wesen noch eine ganze Ebene abstrakter zu sein als jedes Objekt, das wir im Allgemeinen mit diesem Wort bezeichnen: Sie besitzt noch nicht einmal "Ecken" und "Kanten". Das ist nicht mehr vorstellbar, denn runde Kisten (als einzig mögliche Form, die übrigbleibt) sind zumindest mir nicht geläufig.

Aber natürlich macht das Sinn: Symbolisch gesprochen steht das Eckige und Kantige seit der Antike für die materielle, empirische Welt, das Runde hingegen für die geistige (und zugleich die unendliche und vollkommene) Welt. Da Seelen (vorausgesetzt, dass es so etwas überhaupt geben kann) mit unseren herkömmlichen Sinnen nicht wahrzunehmen sind ordnen wir sie der geistigen, der psychischen oder auch metaphysischen Sphäre zu. So passen Symbolik und Begriffsverständnis in dieser kleinen Geschichte zusammen (nur die Bezeichnung "Kiste" stört mich ein wenig).

Nun ist auch vom Leiden und von Schmerz, ferner allgemeiner von Gefühlen die Rede. Eben diese werden mit besagter "Kiste" sowie mit jenem, symbolisch erneut höchst bedeutungsschwangeren "Schmetterling" in Zusammenhang gebracht (steht insbesondere für Wiedergeburt oder Erneuerung, hier jedoch offenbar für Schmerz, was ich nur in Verbindung mit dem Eingesperrtsein des Schmetterlings in der Kiste verstehen kann). Die Sache mit den Gefühlen, die man nicht sinnlich wahrnehmen kann, erinnert mich spontan sehr an Saint-Exupérys "Der kleine Prinz" und seinen berühmten Satz: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."

Beim abschließenden Satz geht es mir wie apfelstrudel: Er erschließt sich mir nicht, wirkt irgendwie deplatziert.

Ein Problem habe ich noch mit einer "Kiste" als metaphorisches Bindeglied zwischen empirischer und psychischer (oder meinetwegen auch seelischer) Welt. Es erscheint mir unbeholfen. Zudem wird mit keiner Silbe erwähnt, woher diese "Kiste" kommt und vor allem weshalb einer der beiden Figuren diese gerade bei sich hat. Also, da fehlt mir einfach etwas. Wer trägt schon wie selbstverständlich schwarze Kisten mit sich herum? Das finde ich erklärungsbedürftig

Also, mit Abstrichen eine recht gute Geschichte, auch wenn die darin vermittelte Botschaft nicht neu ist. Stilistisch gesehen finde ich die Geschichte jedoch gelungen.


Achja, gutes Buch übrigens, was du da liest! Hatte ich als Thema in meiner Zwischenprüfung letztes Jahr. :)

 

Hallo philosophische Ratte,

vielen lieben Dank für deinen so ausführlichen Kommentar :), auf den ich natürlich auch ein bißchen eingehen will.

Symbolisch gesprochen steht das Eckige und Kantige seit der Antike für die materielle, empirische Welt, das Runde hingegen für die geistige (und zugleich die unendliche und vollkommene) Welt. Da Seelen (vorausgesetzt, dass es so etwas überhaupt geben kann) mit unseren herkömmlichen Sinnen nicht wahrzunehmen sind ordnen wir sie der geistigen, der psychischen oder auch metaphysischen Sphäre zu. So passen Symbolik und Begriffsverständnis in dieser kleinen Geschichte zusammen
Danke für diesen sehr interessanten Hinweis, diese Art der Symbolik aus der Antike war mir bisher leider nicht bekannt, aber umso schöner, wenn sie sich dennoch irgendwo in der Geschichte wiederfindet. Eine Kiste ohne Ecken und Kanten kann ich mir allerdings auch nicht vorstellen und bin deshalb auch dieser Metapher gefolgt, eine Seele lässt sich ja auch nicht bildlich vorstellen und doch ist sie irgendwo da (oder auch nicht, je nach Weltanschauung)

Den Schmetterling als Symbol habe ich viel mehr gewählt, weil er zum einen an die Liebe erinnert (die banale Assoziation "Schmetterlinge im Bauch"), also dort schonmal die Verbindung zu Gefühlen gegeben ist. Ich wollte die angesprochenen Gefühle in der Geschichte aber nicht plump mit Verliebtsein gleichsetzen, daher habe ich eigentlich eher gegensätzlich Schmerz und Leiden gewählt, wobei auch mir der Gedanke mit dem Eingesperrtsein in der Kiste dabei zur Hilfe kam. Aber auch hier bin ich begeistert ob deiner vielen Gedanken, die Assoziation zum kleinen Prinzen ist mir bewusst zum Beispiel gar nicht gekommen, auch wenn der Satz sowieso irgendwo in mir verankert ist, weil er wohl einfach zu den schönsten Sätzen gehört, die jemals irgendwo geschrieben worden sind.

Beim abschließenden Satz geht es mir wie apfelstrudel: Er erschließt sich mir nicht, wirkt irgendwie deplatziert.

Wenn du auf eine heiße Herdplatte lange und "Aua" schreist, ist diese Information für mich im Prinzip nutzlos, weil ich nicht weiß, wie sich dein Schmerz anfühlt, weil du ja nicht einfach die Kiste aufmachen kannst, um ihn mir zu zeigen...
Wichtig aber ist - und jetzt kommen wir zum letzten Satz -, dass ich nicht davon ausgehen darf, dass du mich anlügst, sondern dass ich irgendwo selbst die Vorstellung von Schmerz in meiner eigenen Seele befinde und deshalb nachvollziehen kann, dass der Finger auf der heißen Herdplatte auch in deiner Seele wehtut. Wenngleich ich also nicht weiß, wie es sich für dich anfühlt, weiß ich, dass du mir nicht einfach was vormachst, sondern dass es für dich irgendwie anfühlen muss.
Du hast einen Schmetterling in dir, auch wenn ich das weder sicher weiß noch irgendwie sehen kann. Du lügst mich ja nicht an, wenn du auf die Herdplatte fasst und dann schreist. - So weit zur Erklärung des letzten Satzes, ich hoffe, dass er für dich nun irgendwie verständlicher oder greifbarer ist.

Ich habe versucht, die Geschichte (etwas) an Wittgensteins Sprachphilosophie anzulehnen, wobei ich mich noch nicht so eingehend damit beschäftigt habe, um einen tatsächlichen Vergleich damit anstellen zu wollen, vielmehr sind ein paar von Wittgensteins Gedanken einfach nur der Ausgangspunkt der Geschichte.
- Also wenn du Wittgenstein-Experte bist, erspare mir, die Geschichte nach Übereinstimmung mit seiner Philosophie hin zu bewerten, das war nämlich gar nicht meine Absicht. ;)

Ein Problem habe ich noch mit einer "Kiste" als metaphorisches Bindeglied zwischen empirischer und psychischer (oder meinetwegen auch seelischer) Welt. Es erscheint mir unbeholfen. Zudem wird mit keiner Silbe erwähnt, woher diese "Kiste" kommt und vor allem weshalb einer der beiden Figuren diese gerade bei sich hat. Also, da fehlt mir einfach etwas. Wer trägt schon wie selbstverständlich schwarze Kisten mit sich herum? Das finde ich erklärungsbedürftig
Danke für den Hinweis, diese Kritik nehme ich einfach so zur Kenntnis, eine passende Antwort habe ich nämlich momentan leider nicht parat. Vielleihct fällt mir ja bei der nächsten überarbeitung noch etwas ein, um das ganze ein bißchen deutlicher herauszustellen.


Dann nochmal danke fürs Lesen, Loben und Kritisieren, viele liebe Grüße,

Smilodon (Ja, Namen gibt's :P)

PS:

Achja, gutes Buch übrigens, was du da liest! Hatte ich als Thema in meiner Zwischenprüfung letztes Jahr.
Dann weiß ich ja, wohin ich mich wenden kann, wenn ich mit meiner anstehenden Hausarbeit darüber nicht mehr weiter komme :D

 

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