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Der Schmetterling
„Was ist da drin?“, fragst du mich als wäre es die einfachste Frage auf der ganzen Welt.
Der Fluss zieht vorbei, Sonnenstrahlen glitzern auf dem Wasser und auf der hölzernen Bank sitzt du und betrachtest die Kiste, die ich auf dem Tisch davor abgestellt.
„Leiden“, sage ich, „Schmerz, Gefühle, was weiß ich.“ Ich sage es schnell dahin und Bienen summen leise, fast stumm. Weiß blüht der Kirschbaum hinter unserem Rücken und spendet uns Schatten.
Du lachst. „Mach sie doch mal auf“, sagst du und bist gespannt auf meine Antwort, Verlegenheit, weil du weißt, dass man Gefühle nicht zeigen kann. Was ist das auch: Leiden, Schmerz?
„Ein Schmetterling“, antworte ich dir und du blickst dich um und ich schüttle nur den Kopf, kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nicht da“, sage ich, „sondern da“ und deute auf die Kiste.
„Da?“, fragst du, um dich zu vergewissern, „Sprachst du nicht eben noch von Schmerzen?“
„Glaubst du, dass ich Schmerzen in eine Kiste packen kann?“, schlage ich dich mit der Waffe, die du gegen mich hast aufbieten wollen.
„Dann zeig ihn mir, los, mach die Kiste auf!“
„Das kann ich nicht.“
„Und warum?“
„Na, dann fliegt er doch weg.“
„Wie schaut er denn aus?“, enttäuscht, doch drängend deine Frage, du scheinst verwirrt.
„Wie soll er schon aussehen? Wie ein Schmetterling eben!“
Du gibst dich nicht zufrieden, willst mehr wissen, alles, ob er schön und bunt ist, ob er groß ist, wo ich ihn gefunden, warum ich ihn in diese Kiste gesperrt.
„Was ist das eigentlich für eine seltsame Kiste?“
„Seltsam, wieso?“
„Pechschwarz. Und eine Klappe hat sie auch nicht. Weder Deckel noch Boden. Keine Ecken, keine Kanten, keine Schweißnaht noch Nagel oder Schraube. Wie hast du deinen Schmetterling da überhaupt reingekriegt?“
„Der war da schon drinnen.“
„Und woher weißt du das?“
„Na, ich sehe ihn doch!“
Du glaubst mir nicht, aber wie kann ich es dir übel nehmen? Du bist ein Mensch, kannst nur mit den Augen sehen, mit den Ohren hören, mit der Nase riechen. Kannst vielleicht die Blumen sehen auf dem Feld oder den Fluss, der vorbeizieht. Die Bienen summen hören und den Duft der Blüten riechen. Nimmst wahr, was auf der Welt passiert. Fühlst nicht, was in der Welt geschieht.
„Ach komm, verarsch mich nicht. Die Kiste ist doch leer!“
Wie willst du auch spüren, wie ich leide? Hast deine eigene Kiste, mir fremd, und deinen Schmetterling sehe ich nicht. Ich kann mir vorstellen, wie er aussieht, aber meine Augen malen ihn wie den Kirschbaum und schon hat er mit deinem nichts mehr zu tun. Und doch ahne ich, dass es ihn gibt, weil du mich nicht belügst.