Der Schmerz der Erinnerungen
Ich stehe am Abgrund, hier, an den rauen Klippen des Meeres. Der Wind weht mir mein Haar ins Gesicht, blättert in den Seiten des Buches auf meinem Schoß, in meinen Gedanken.
Weder das leise Kratzen des Stiftes auf dem Papier noch die Tränen, die unaufhörlich meine Wangen hinabrollen, nehme ich wahr. Es scheint alles so gleichgültig für mich, als gehörte es zu einer Welt, die nicht die meine ist, meine Umgebung lässt mich kalt. Ich höre, wie die anderen über mich reden, über mein „seltsames Verhalten“, wie sie es nennen, diskutieren.
Sie lachen darüber, selbst jene, die ich einst meine Freunde nannte, machen sich nun über mich lustig, plaudern meine Geheimnisse aus, die ich ihnen in Zeiten des Glücks anvertraute.
Zeiten des Glücks... die so kurze Zeit meines Lebens, die du bei mir warst, mich aus den dunklen Tiefen meiner Seele zurück ins Leben holtest.
Doch habe ich je gelebt, bevor ich dich traf? War ich nicht innerlich gefroren, kalt wie Eis?
Du hast mich aufgetaut. Ich lebte, wenn auch nur wenige Monate.
Dank dir.
Warum hast du mich nun verlassen, bist von mir gegangen?
Ich bin gefallen... zurück in die abgrundtiefe Schwärze, bin gestorben.
Sie alle denken, es sei nur die Trauer um dich, die sich meines Herzens bemächtige, es werde vorbeigehen.
„Es geht vorüber, denke einfach nicht weiter darüber nach!“
„Alle Wunden heilen, gib dir Zeit!“
„Komm schon, nimm es nicht so schwer. Lach doch mal wieder! Irgendwann hast du ihn sicherlich vergessen!“
Sie verstehen mich nicht, wissen nicht, was mich bewegt.
Ich kann nicht vergessen.
Mit jeder Minute, die ich mit der schmerzhaften Gewissheit um dich verbrachte, ist ein Teil von mir gestorben, in schier unendlicher Qual wurde meine Seele ausgelöscht, Stück für Stück.
Jetzt ist es nur noch die Dunkelheit, die mein Herz und meinen Verstand füllt.
Ich sehne mich nach dir, nach deiner ganz besonderen Art und Weise, wie du mich jedesmal zum Lachen brachtest, als ich wieder drohte abzurutschen.
Ich sehne mich nach deinen tröstenden Berührungen, nach der Geborgenheit, die immer in deiner Nähe empfand, nach der Sicherheit, die ich in deinen Armen verspürte.
Mein Herz schreit unaufhörlich nach dir...
Sein Ruf nach dir, nach deiner Seele wird immer lauter, immer fordernder. Ich kann es nicht länger überhören.
Ich erinnere mich.
Obgleich die Bilder in meinem Kopf verblassen, nun nicht mehr als undeutliche Schemen sind, sehe die Szene vor mir.
Ich sehe den Tag... den Tag, an dem du mir deine Treue geschworen hast. Selbst noch jetzt spüre ich deine Lippen, wie sie die meinen liebkosten und mir sogleich danach das Versprechen gaben.
„...Nie werde ich dich alleine lassen, ich werde bei dir sein... gleich, was geschehen mag...“
Dies sagtest du einst.
Und nur wenig später, kaum ein Sonnenlauf war seitdem vergangen... da brachest du es. Ich wäre bis ans Ende der Welt und noch viel weiter mit dir gegangen... Warum? Warum nur bist du dorthin gegangen, wo ich dir nicht folgen kann?
Die schier unzählbaren Tränen, die meine Wangen hinablaufen, tropfen, tropfen, tropfen...benetzen das Papier auf meinen Knien, lassen die rote Tinte der geschriebenen Worte verlaufen... ein Meer...ein Meer von Blut...
Unwillkürlich verschwindet das Bild der Sommerwiese, wo wir standen in trauter Zweisamkeit aneinandergedrängt, wo du mir Treue schworest...
Und macht einer anderen Szenerie Platz.
Nicht die Sonne scheint dort auf uns beide, schon den gesamte Tag lang war der Himmel wolkenverhangen, eine kalte Brise schneidet unsere Gesichter...
Wir wollten einen Ausflug machen, waren nun auf dem Rückweg. Seltsam still war der Wald, es schien, als ob etwas jeglichen Ton zum Verstummen brachte. Kein Tier kreuzte mehr unseren Weg und obgleich der eisige Hauch des Windes wie hunderte von winzigen Nadeln in unsere Haut stach liefen wir weiter, Hand in Hand... .
Dann... plötzlich...
Wie aus dem Nichts standen sie vor uns, hünenhafte Krieger, gekleidet in Felle. Köcher mit Pfeilen waren auf ihren Rücken befestigt, in den Händen hielten sie Bögen, bis aufs Äußerste gespannt.
Sie wollten mich...
Sie wollten mich, als Tochter Thalions, wollten mein Leben...
Ich wusste, eine Flucht war zwecklos, es war hoffnungslos, noch zu entkommen. Trotzdem warest du nicht aufzugeben, mit einem leisen Klirren zogest du dein Schwert aus dessen goldbesetzter Scheide, bereit, zu kämpfen, doch – zu spät.
Schon sangen die Bogensehnen, entließen ihre Geschosse, ich schloss meine Augen, machte mich auf das Unvermeidliche gefasst...
Doch der erwartete Schmerz blieb aus.
Keine der so tödlichen Pfeilspitzen bohrte sich in mein Herz, brachte es zum Verstummen... doch das, was ich erblickte, als ich es wieder wagte, um mich zu sehen, ließ selbst das Leid des Todes so unbedeutend gegen die Gefühle, die sich nun mit aller Macht in meiner Seele ausbreiteten, wirken.
Ich sah dich, wie du vor mir standest... der einst so weiße Stoff deines Gewandes hatte begonnen, sich rot zu färben, ich sah die tief in deine Brust eingedrungenen todbringenden Geschosse, das Blut... überall war Blut...
Leise schlug deine Klinge auf der Erde auf, deine Knie vermochten dich nicht länger zu tragen, sie gaben unter der Last deines Körpers nach, doch bevor auch du deinem Schwerte gleich zu Boden gingest, fing ich dich auf. Nur am Rande nahm ich wahr, wie die Krieger abermals ihre Bögen spannten...
Es war mir gleichgültig.
Ich sah dich, sah den roten Lebenssaft, wie er unaufhörlich aus deinen Wunden drang. Sollten mich ihre Geschosse doch ereilen, so wären wir doch wenigstens im Tode vereint!
Ehe sie jedoch erneut ihr Ziel... mein Herz anvisieren konnten, war die Luft nun wieder erfüllt mit Pfeilen, Pfeilen, die ihre Körper durchdrangen. Nacheinander sanken auch sie auf die Knie, gaben Laute der Qual von sich, bis letztendlich jeder von ihnen seinen Kampf ums Leben kläglich verlor.
Ich hörte sie, die Wachen meines Vaters, wie sie aus dem Unterholz seitlich des Weges hervorbrachen. Ihre Wangen waren gerötet, die meisten hielten noch ihre Bögen in den Händen, doch auch ihre Anwesenheit nahm ich nur wie durch einen Schleier war.
Immer noch erblickte ich dein schmerzverzerrtes Gesicht, das Blut... dein Blut... es klebte mittlerweile auch an meinen Händen und Kleidern, hinterließ seine roten Flecken überall...
Du lächeltest leicht, versuchtest deine Qual zu überspielen, versuchtest, mir Trost zu spenden, dennoch fand eine einsame Träne ihren Weg über mein Gesicht. Und noch eine. Und eine weitere.
Mühsam hobest du deine Hand, wolltest sie wegwischen, als sich dein Körper in meinen Armen vor Schmerz zusammenkrampfte.
Eine nie gekanntes, quälendes Gefühl stieg in mir auf, es war, als ob feine Risse begannen, mein Herz zu durchziehen...
„Melamin... weine nicht...“
Deine Stimme war ein Flüstern, kaum wahrnehmbar und doch ließ ihr Klang die feinen Härchen auf meinen Armen zu Berge stehen.
„...Es...es tut mir...Leid,...dass ich... mein Versprechen...nicht...halten kann...“
„Nein! Geh nicht! Lass mich nicht allein!“
„Aber...verspreche du mir,... dass...dass du...glücklich wirst...“
Wie von selbst umschlungen meine Finger die deinen fester, schienen dich halten zu wollen...
„Melamin ... ich...ich...lie-“
Deine Stimme versagte, dein Kopf sackte kraftlos zur Seite.
„NEIN!!!! Du... du bist nicht tot, wach auf...“
Ich strich über deine Wangen, küsste deine Hand, während mir die Tränen mit nie gekannter Intensität über mein Gesicht liefen, sie tropften auf deines, nun lebloses.
„Steh auf...bitte, steh doch auf...“
Weitere Tropfen vermischten sich mit den meinen, kurz blickte ich auf, in die graue, undurchdringliche Wolkendecke.
Sogar der Himmel schien zu weinen, dich zu betrauern.
„Komm zurück...“
Es regnete immer stärker, der Boden unter meinen Knien verwandelte sich in Schlamm, den ich jedoch genauso wenig wahrnahm, wie die Hand, die sich auf meine Schulter legte.
„...komm zurück zu mir...“
Meine Stimme zitterte, ebenso wie der Rest meines Körpers.
„KOMM ZURÜCK...“
Kraftlos sank ich vornüber und eine wohlige Schwärze umfing mich. Für kurze Zeit war er verschwunden, der alles umfassende Schmerz, nur mich um später umso stärker zu quälen...
Nur noch am Rande bekam ich mit, wie jemand mich aufhob, in eine Decke wickelte, bevor auch meine letzten Sinne von der Dunkelheit verschluckt wurden...
Erschrocken zucke ich zusammen, als die salzige Luft mir ein wenig Sand ins Gesicht weht.
Das gerade eben war keine bloße Erinnerung... ich hatte es wieder erlebt, hatte wieder die Gefühle empfunden, die heiße Flamme des Schmerzes, die seit diesem Tage unablässig in mir brannte, mich von innen heraus zerstörte, die Trauer um dich, die Angst...
Wie oft sollte dies noch geschehen?
Wie oft sollte ich noch schweißgebadet aufwachen, immer wieder dich sehen, wie du tot in meinen Armen liegst?
Ich kann nicht mehr...
Entschlossen stehe ich auf, mache einige Schritte vorwärts, zum Rand der Klippe.
Spitze, herausragende Felsbrocken, umgeben von glitzernden Meerwasser... so unschuldig, so rein es scheint, ebenso gefährlich ist die trügerische Idylle...
Wieder spielt der Wind mit meinen Haaren, lässt sie wie nach einer unhörbaren Melodie über mein Gesicht wehen, trocknet die Tränen meiner Wangen... als wolle er mich trösten, mir versuchen, Hoffnung zu spenden.
Doch ich habe keine mehr.
Ein Lächeln gleitet über meine Züge.
Ich springe...