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Der schlaflose Löwe
Der schlaflose Löwe oder wovon Nashörner träumen
18 : 34 , in einem Reisebus
„Die Rückenlehnen lassen sich verstellen, indem man den hinteren Hebel zieht. Die Armlehnen einmal kurz anheben und dann nach dem Knacken einrasten lassen“, lässt uns Jochen unser gut gelaunter Busfahrer wissen und wie auf Kommando beginnen alle fünfundzwanzig am Gang sitzenden Teilnehmer der Abschlußfahrt wie bescheuert an ihren Armlehnen herumzufummeln. Nicht nur Herr Schmaltkowski vorne, sondern auch Roman neben mir, lässt seine Armlehne ungefähr dreißigtausend Mal knacken und einrasten, dann scheint auch er, immerhin Physik-LK, das Prinzip begriffen zu haben. Nachdem nun Jochen den Rest seiner Busfahrerweisheiten beendet hat, hindert mich nur noch die letzte Reihe mit ihrem Geschrei am Einschlafen. Und schlafen könnte ich im Moment wie ein Bär kurz vor dem Winterschlaf, denn ich hab die gesamte letzte Nacht kein Auge zu getan.
Dabei wollte ich gestern spät abends nur im Keller nach meinen Badeschlappen und der Strandmatte suchen. Diese Suche wurde jedoch dadurch erschwert, dass unser Keller plötzlich bis zur zweiten Stufe der Kellertreppe unter Wasser stand und nun die Gummistiefel meines Vaters, ein Satz Winterreifen, einige Obstkisten und jede Menge Gerümpel fröhlich an der Waschmaschine vorbeitrieben. Meine Mutter nannte diesen Zustand nur „Oh Gott, oh Gott!!!“, mein Vater der auf der Treppe im Bademantel den Inhalt seiner Werkbank vorüberschwimmen sah „Große Scheiße!“. Der sofort gerufene Mann vom Notdienst nannte es schlicht und ergreifend „Wasserrohrbruch“. Als ich noch überlegte, welche Pizzas ich durch den Kurzschluß im Kühlschrank vor dem Auftautod noch vernichten müsste, wurde ich zur Rettung der guten Schuhe im umherschwimmenden Schuhschrank und zur Evakuierung von Kartoffeln, Gemüse und Brennholz abkommandiert, während Fachleute das Wasser abdrehten und den Keller leerpumpten. Es war schließlich halb zwölf (mittags), als ich wieder trockenen Boden im leergeräumten Keller unter den Füßen hatte. Die Badeschlappen und die Strandmatte hatte ich wieder vergessen und für die bevorstehende Abschlußfahrt nach Rom noch nichts gepackt. Da in unserem Haus inzwischen nun das absolute Chaos ausgebrochen war, schmiß ich wahllos Wäsche und ähnliches in meinen Koffer bis er voll war. Ich befürchte, dass ich zwar keine Zahnbürste, dafür aber mindestens drei Bettlaken eingepackt habe. Naja, vielleicht haben die im Hotel da ja Verwendung für. Um halb vier, eine halbe Stunde vor der Abfahrt, fiel mir dann auf, dass ich keine Verpflegung für die Fahrt hatte und so bin ich jetzt der einzige hier im Bus, der für die Fahrt zwei Juniortüten und alle fünf Maxi-Spar-Menüs von Mc Donalds zur Verfügung hat. (Der Mc Bacon ist übrigens nicht zu empfehlen!)
Dabei hätte ich mir die ganze Hektik angesichts eines halbstündigen, tränenreichen Abschieds zwischen Roman und Rebecca („Ich ruf Dich an.“ „Nein, ich ruf Dich an.“) und Claudia, die mit zwanzig Minuten Verspätung und tausenden Koffern, Taschen, Kissen und Stofftieren bepackt ankam, eigentlich sparen können. Aber egal, das einzige, was ich jetzt noch will, ist schlafen, einfach nur schlafen!
„Karsten, kannst Du die bitte nach vorne geben.“, dröhnt mir Tine von hinten ins Ohr und wedelt mit einer Kassette vor meiner Nase herum. Widerwillig schmeiße ich ihre Kassette zusammen mit dem Stapel anderer Kassetten und Videos die nach vorne sollten und sich wegen meiner Faulheit bei mir gestaut haben eine Reihe weiter, während hinter mir jemand den penetranten Geruch eines Tzatziki-Leberwurstbrotes verströmt. Roger und Camilla in der Reihe neben mir haben eine Schachpartie begonnen und ich rücke mir mein Krümelmonster-Kissen hinter den Kopf und versuche meine Beine möglichst gleichmäßig und krampffrei unter dem Sitz meines Vordermannes zu verteilen. Ich kann die ganze Nacht bis Rom durchschlafen, die lästige Wer-geht-mit-wem-auf-ein-Zimmer-Frage ist auch geklärt, also gedenke ich frühestens an der italienischen Grenze wieder aufzuwachen. Und wenn ich dann meine Augen wieder öffne sind es 27°C, Sonnenschein, blaues Meer zur rechten und ...
Ein nervtötendes Gepiepe mit der Melodie von „Oh happy day“ geht in ohrenbetäubender Lautstärke direkt neben meinem rechten Gehörgang los. Ich stehe kurz vor einem Herzinfarkt, doch Roman meint nur: „Ach, da hatte ich es hingelegt.“, nimmt sein Handy und beginnt seiner Freundin „Becca-Schatz“ zu versichern, dass er noch immer lebendig und furchtbar in sie verliebt sei. Nachdem er dann fertig telefoniert hat und ich nun wieder völlig wach bin, versucht Roman mit mir ein Gespräch über Gott und die Welt anzufangen. Dieser Versuch scheitert jedoch ziemlich schnell, da ich im Moment Atheist bin, und „die Welt“ eine Zeitung ist, die ich noch nie gelesen habe. Als ich gerade die Hoffnung habe, dass Roman mit seinem Small-talk-Latein am Ende ist, kommt auf einmal das:
„Sag mal, Karsten, ich hab da letztens mal mit Rebecca drüber nachgedacht (Rebecca? Nachgedacht?), hast Du Dich eigentlich jemals gefragt, wie Tiere empfinden, zum Beispiel, ob Goldfische auch Gefühle empfinden können?“
„Was?“ Um Gottes Willen, in welchem Film bin ich denn gelandet. Ich kneife mich in den Arm, aber ich scheine nicht zu schlafen (eine Aktion die ich in einer Doppelstunde Bio etwa zehn Mal mache).
„Oder zum Beispiel Mücken, haben Mücken eine Seele?“, fährt Roman fort, während ich völlig perplex bei ihm nach erweiterten Pupillen oder anderen Anzeichen eines Drogenkonsums Ausschau halte.
„Die viel entscheidendere Frage ist meiner Ansicht nach,“, setze ich an „ob Du sie noch alle beisammen hast?“ Angesichts der Tatsache, dass er nun schon seit gut zwei Wochen mit dem völlig gestörten Barbie-Verschnitt Rebecca zusammen ist, in meinen Augen eine nicht unberechtigte Frage. Roman beantwortet sie aber nicht, sondern schaut mich beleidigt an und stapft dann tief verletzt mit einem Stapel Videokassetten die Tine von hinten heranreicht nach vorne zu unseren betreuenden Lehrern in die Mir-wird-schnell-schlecht-Reihe.
Während Roman nun vorne eine Diskussion anleiert, welches der dreißig Videos wir zuerst gucken sollen, tröstet Tine in der Reihe hinter mir nun Carmen, die nach knapp zwei Stunden und kurz hinter Augsburg schon Heimweh hat, und die Trennung von ihrem Freund nicht vertkraften kann. Bei René, Mario, Annika, Nicole und Katja macht sich wieder das Phänomen bemerkbar, das mir auf jeder Busreise auffällt, nämlich, das bei allen Leuten, die länger als eine Stunde in der letzten Reihe eines Reisebusses verbringen, nach und nach sämtliche Sicherungen durchbrennen und in die Kindergarten-Glucks-Quietsch-Krakeel und Schreiphase zurückfallen. (Vorausgesetzt sie sind ihr je entwachsen!) Mittlerweile grölen die fünf ein Medley aus „Mein Hut der hat drei Ecken“ und guten deutschen Schlagern.
Ich verfluche meine Gedankenlosigkeit, in der Hektik meinen Walkman im Koffer verstaut zu haben, und leihe mir deshalb von Jörn seinen Walkman mit Kassette um dem Massengeschunkel irgendwie zu entgehen. Nach zwei Minuten Grunge-House-Death-Metall-Punk stehe ich allerdings kurz vor einem epileptischen Anfall und gebe Jörn seine Kassette zurück, mache mich mit der Gebrauchsanweisung meiner Kotztüte vertraut, und krame in meiner Juniortüte nach etwas Eßbarem. Ein Stau bildet sich, ich beiße in meinen Mc Cheese und frage mich, ob eine zwischen Mayonnaise und Edamer eingequetschte Frikadelle wohl Schmerzen empfinden kann.
22 : 06 , in der Nähe des Starnberger Sees ( seit 39 Stunden nicht mehr geschlafen)
Ich habe schon fast nicht mehr dran geglaubt, aber nach gut einer Stunde Wartezeit bei offenen Türen und 5°C Außentemperatur auf einem Münchener Parkplatz ist schließlich dann auch Waldemar, unser zweiter, polnischer Busfahrer, aufgetaucht. Nachdem uns dann Waldemar (übrigens sieht er genau so aus, wie jemand, den man sich unter dem Namen Waldemar vorstellt) noch einmal die Mülleimer-auf-dem-Gang-Rücken/Armlehnen-Kaugummipredigt in einer Mischung aus gebrochenem Deutsch, Polnisch und Bayrisch erklärt hat, waren wir dann auch wieder auf der Autobahn Richtung Süden und ich habe neben den Kopfschmerzen, die von dem mißglückten Walkmanexperiment herrühren auch noch abgefrorene Eier und schlechte Laune, denn Niko mein Zimmergenosse in Rom, erklärt mir jetzt seit fast fünf Minuten, dass er nicht mit Heiko auf ein Zimmer gehen würde, sollte dieser so schnarchen wie im Moment.
„Schnarch zurück!“, rate ich Niko und versuche drei Aspirin mit zwei Litern Cola herunterzuspülen.
„Danke für deine Unterstützung!“, mault Niko und verlässt den Platz neben mir, um sich hinten eine heiße Stofftierschlacht zwischen seinem Bär, Samanthas Elch und Tatjanas Diddl- Maus zu liefern. Die blonde Haarmähne, auf der Kopfstütze vor mir bewegt sich, Corinna scheint wieder aufgewacht zu sein und sie begutachtet für einige Momente die Schachpartie von Roger und Camilla, die jetzt mittlerweile schon zwei Stunden dauert, aber, da beide im Verein spielen noch keine Figur verloren haben. Camilla ist verdammt gut, das weiß ich spätestens seit der einzigen Partie, die ich gegen sie gespielt habe. Nachdem ich „Spanisch eröffnet“ hätte wie sie mir erklärte waren dreieinhalb Minuten später von meinen Figuren nur noch ein König und ein Pferd übrig. Seitdem spiele ich, wenn überhaupt dann Squash.
Ich schließe die Augen und versuche zu schlafen, aber Dank der Cola bin ich nun wieder wach und zu allem Überfluss setzt sich auch noch Heiko zu mir.
„Ich hab gehört Niko hat sich über mein angebliches Schnarchen beschwert.“, empört sich Heiko. Och nee, Heiko, bitte jetzt nicht so ein Kindergartentheater!
„Regelt das untereinander“ schlage ich ein Gähnen unterdrückend vor „ und lasst mich da raus und endlich mal schlafen.“
„Schlafen! Du bist auch nur am Schlafen, Karsten!“ Gut, zugegeben, Heiko kennt mich nur aus Religion und dem Jahreskurs, wach hat er mich relativ selten gesehen!
„Hast Du Dich eigentlich jemals gefragt, Karsten, ob Kühe im Stehen oder im Liegen schlafen?“, fragt mich Heiko mit Blick auf Corinnas Plüschkuh nach einer kurzen Pause.
„War bei Dir heute irgendwas in den Cornflakes, oder was?“, grummele ich Heiko zu und drehe mich demonstrativ, die Augen geschlossen, Richtung Fenster. Heiko zieht beleidigt ab, während vorne die Diskussion über das zu schauende Video in die entscheidende Phase tritt. Die betreuenden Lehrkörper, Herr Schmaltkowski (Bio-LK) und Frau Stubhardt-Neubenreuther (Deutsch-LK) die von allen seit ihrer Kollision mit dem Kartenständer nur „Mrs Rumms“ genannt wird, halten sich clevererweise aus dieser Diskussion heraus. Nicht so Sarah, mein persönlicher Alptraum, mit ihrer sonoren Stimme, die ich selbst aus einem grölenden vollbesetzten Stadion heraushören würde:
„Wer ist dafür, dass wir diesen Film gucken?“ Sarah hat die sympathische Angewohnheit bei jeder Frage die letzte Silbe zu dehnen und die Stimme bis zum hohen C zu quetschen (also: guckääääääään?) Langsam habe ich echt die Schnauze voll!
„Lass uns doch einfach anstatt nach Rom nach Ankara weiterfahren, dann können wir auf der Fahrt einfach alle Videos gucken und uns diese Diskussion ersparen?, brülle ich noch immer in den Sitz gekuschelt von hinten. Nach langer Diskussion wird mein Vorschlag mit 21 : 23 Stimmen abgelehnt und weiterabgestimmt. Corinna ist wieder eingeschlafen und in der Reihe hinter mir versuchen Claudia und Tine, Carmen zu trösten, weil sich ihr Freund noch immer nicht auf ihrem Scall gemeldet hat, und jetzt auch noch Bruno, ihr Plüschgorilla, weg ist. Die letzte Reihe, die sich in München eine Bravo geholt hat und jetzt laut daraus vorliest sieht mittlerweile aus wie eine Mischung aus Auffahrunfall, Bodenturnen und Gruppensex, was bedeutet einzelne Körperteile sind heillos verknotet und nicht mehr eindeutig zuzuordnen.
„Karsten, was bist Du eigentlich für ein Sternzeichen?“, reißt mich Anke, meine einzige gute Freundin, aus dem Dämmerzustand. Anke ist zwar nett, hat aber leider ein ausgeprägtes Helfersyndrom und scheint immer der Ansicht zu sein, dass gerade ich einen ihrer astrologischen Tipps nötig habe. Da sie aber ansonsten total in Ordnung ist, öffne ich wieder die Augen und beschließe den Winterschlaf um eine halbe Stunde zu verschieben.
„Löwe“, meine ich grabe unter meinem Sitz eine Packung Chicken Mc Nuggets hervor (Kalt nicht sehr zu empfehlen!) um dann weiterzufragen „Was sind Löwen denn für Typen?“
„Löwen sind gute Menschenkenner ...“
Naja wohl eher Menschenfresser.
„... zudem emotional, manchmal unberechenbar und gerne impulsiv.“
Ich, impulsiv?
„Löwen passen nicht gut zu Zwillingen und Krebsen.“
Scheiße, Corinna ist Krebs! Sie hat am 29.6. Geburtstag, ich hab den ganzen Tag versucht sie anzurufen, und dann ... aber das ist eine andere Geschichte.
„Löwe und Steinbock dagegen ist die ideale Konstellation.“, beschließt Anke ihren Astrologievortrag.
„Ich bin Steinbock!“, brüllt Sarah von vorne.
Das Hähnchenteil gleitet mir vor Schreck aus der Hand und fällt in den Colabecher.
„Rebecca ist auch Steinbock.“, ergänzt Roman.
„Wie Steinbock? Ich bin auch Steinbock, um was geht’s denn?“ fragt Claudia, die gerade von der Toilette kommt. Auch der Pappbecher fällt mir aus der Hand.
Na großartig, laut Anke habe ich gute Chancen bei Sarah, dem nervtötendsten Menschen dieser Erde, bei Claudia, meiner Ex-Flamme, bei der ich bestimmt schon auf jeder Dartscheibe hänge und bei Rebecca, Rogers psychopathischer Exfreundin, die glaubt ich sei dafür verantwortlich, dass er mit ihr Schluß gemacht habe und seitdem, so hat mir Roman erzählt in jedem Computerspiel alle Monster und Gegner nach mir benennt um sich zu motivieren.
Besser könnte es gar nicht laufen! Und jetzt ist auch noch mein Krümelmonster-Kissen weg!
1 : 12 , in Österreich (seit 42 Stunden nicht mehr geschlafen)
Als ich von der Toilette wiederkomme, ist der Videofilm Gott-sei-Dank vorbei. So, ab jetzt wird nur noch geschlafen, denn ich habe jetzt auf der gesamten Fahrt kein Auge zugetan, was zu einem guten Teil auch daran lag, dass ich mir paradoxerweise „Während Du schliefst“ ansehen musste. Das wäre ja an sich nicht weiter schlimm gewesen, aber da Waldemar unser schwerhöriger, polnischer Busfahrer den Film noch nicht kannte und mithören wollte, haben wir das Ding in einer Lautstärke gehört mit der man Tote aufwecken könnte, eine Theorie die ich leider nicht beweisen kann, da wir im Moment keinen Toten im Bus haben (nach dem Zustand der Toilette zu urteilen meiner Meinung nach aber nur noch eine Frage der Zeit). Auf jeden Fall könnte ich wetten, dass halb Österreich mittlerweile die deutsche Synchronstimme von Sandra Bullock kennt.
In der Schachpartie hat es einen ersten Höhepunkt gegeben: Durch Unachtsamkeit hat Roger nach über acht Stunden nun seinen ersten Bauern verloren. Je länger ich Camilla und Roger jetzt schon zuschaue um so mehr glaube ich, dass sich Phoenix, Arte und der MDR unbedingt die Übertragungsrechte an diesem Sport sichern lassen sollten.
Auf meinem Platz wartet schon José, mein Zimmerkollege mit einem Riesenproblem auf mich: „Karsten, Niko schnarcht. Also wenn das jetzt die ganze Woche auf dem Zimmer so gehen soll, dann ...!“
Ich verdrehe die Augen und meine nur zu ihm: „Dann tu Dir halt Oropax rein!“
José hat leider kein Oropax dabei und somit genauso ein Problem wie Carmen hinter mir, die nun schon seit einer halben Stunde versucht mit Romans Handy ihren Freund zu erreichen, dieser aber aus mir unerklärlichen Gründen nachts um halb zwei sein Handy ausgeschaltet hat. Ich gähne für Blitzmerker José einmal demonstrativ, er schaut aber an mir vorbei aus dem Fenster und meint dann: „Karsten, ist Dir schonmal aufgefallen, dass manche Verkehrsschilder in allen Ländern gleich sind?“
Irgendwie scheinen auf dieser Busfahrt bei allen Menschen um mich herum auf einmal mehr Gehirnzellen abzusterben als normal. Herrgott, was interessieren mich mitten in der Nacht in Österreich irgendwelche Verkehrsschilder.
„Das musst Du Dir mal reinziehen, Karsten“ fährt José unbeirrt fort „da kannst Du nach Burundi fahren oder auf die Philippinen und überall ist das Stopschild wie bei uns.“
Ich zeige ihm einen deutlichen Scheibenwischer und er gibt schließlich beleidigt Ruhe. Sogar die letzte Reihe schläft. Also dann, gute Nacht, Karsten! Noch ein letztes Gähnen und dann ...
Himmel sind diese Sitze unbequem ... und dann noch diese harte Scheibe. Da ich mein Kissen noch immer nicht gefunden habe, klemme ich ächzend meinen Pullover zwischen meinen Kopf und die Scheibe. So müde wie ich bin, ist der Sandmann garantiert mit dem Kipplader voll Sand gekommen! So ................................................... das war ja klar, jetzt kann ich natürlich nicht schlafen! Ich beginne Schäfchen zu zählen, aber als das dritte Schaf in Folge, anstatt über den Zaun zu springen, vor den Zaun knallt, beschließe ich statt dessen nur so zu zählen. Vielleicht hilft’s ja ... 21 ... 22 ... 23 ... Ich, impulsiv?! Unausgeglichen? Da lach ich doch drüber ... 103 ... 104 ... 105 ... Wovon träumt eigentlich ein Nashorn? Von einer sexy Nashörnin oder einer Savanne ganz für sich allein, oder träumen Nashörner gar nicht?
Ich genieße die Ruhe, die noch etwa fünf Minuten anhält. Dann höre ich, wie zwei Reihen schräg rechts vor mir zwei Mitschüler meines Mathe-LKs beginnen, darüber zu diskutieren, ob man ein normales Gleichungssystem mit drei Unbekannten in der Ebene durch Substitution auch bei ungeradem Exponenten noch theoretisch lösen kann. Ich greife unter meinen Sitz, und mit einem gezielten Wurf segelt eine Juniortüte schräg rechts nach vorne.
Das Fachgespräch verstummt, dafür meldet sich José wieder:
„Ich dachte Du schläfst?!“
„Mach ich auch“, grummele ich mit geschlossenen Augen. José macht die Leselampe über mir an. „Muss das jetzt sein?“ frage ich mit meinem letzten Rest Selbstbeherrschung, während José weiter in einer portugiesischen Autozeitung blättert.
„Ja, wenn Du sowieso nicht schläfst, kann ich ja wohl auch lesen.“
Also suche ich mir einen neuen Schlafplatz und vier Reihen weiter vorne finde ich tatsächlich eine freie Reihe. Ich will gerade noch mal kurz auf Toilette gehen, als sich Corinna, die cleverste Blondine mit dem besten Charakter, die ich kenne, auf dem freien Platz neben mir niederlässt und mir erzählt, dass sie auch nicht schlafen könne. Wir unterhalten uns über dies und das, Sominoten und Horoskope.
„Findest Du, das ich wie alle Löwen impulsiv und unausgeglichen bin?“, frage ich Corinna.
„Du bist der ausgeglichenste Löwe, den ich kenne“ meint sie und lehnt sich gähnend an mich. „Ich finde auch, dass dieser ganze Horoskopkram total überbewertet wird“ fahre ich fort „zum Beispiel, warum sollten Löwen und Krebse nicht zusammenpassen? Man müsste das doch einfach nur mal probieren, nicht wahr Corinna? Corinna?“ Sie ist eingeschlafen.
Das einzig Dumme ist nur, dass ich unbedingt auf Toilette muss. Vielleicht hätte ich die zwei Milchshakes mit denen ich Aspirin Nummer 5 und 6 runtergespült habe nicht auf ex trinken sollen. Wenn ich eine Massenpanik vermeiden, und nicht nachher alleine den Bus aufwischen möchte, sollte ich jetzt auf’s Klo. Allerdings möchte ich Corinna, die leider am Gang sitzt, auch unter keinen Umständen wecken.
Vorsichtig befreie ich mich von ihrer blonden Mähne, und klettere aus meinem Sitz bis ich mich in einer nicht sehr anmutigen Position, ein Knie auf der Lehne, ein Fuß auf Corinnas Armlehne und einer Hand am Gepäckablagefach, befinde. Als ich mich mit dem linken Fuß, rittlings auf meiner Kopfstütze hängend am Aschenbecher abstützen möchte, um in den Gang zu klettern, muss Waldemar plötzlich bremsen.
Ich verliere das Gleichgewicht, ein Umstand der mir immer wieder widerfährt, und stürze in die hintere Reihe. Dort liegt leider jemand.
„Ah! Was zum Teufel ...“
Nach der Stimme und der Farbe des Pullis auf dem mein Gesicht liegt und auf den ich kopfüber geplumpst bin, scheint es sich um Claudia zu handeln.
„KARSTEN, NIMM DEINE DRECKSPFOTEN SOFORT RUNTER VON MIR!“
Es ist Claudia!
„Danke für die weiche Landung.“, meine ich leicht benommen zu meiner Ex-Flamme, während ich mich mühsam aufrappele. Sofort knallt mir Claudia ein Kissen mit der Kraft von Mike Tyson an den Kopf. Mein Kissen!
Corinna schläft noch immer tief und fest, Claudia zetert noch ein bißchen weiter und ich wanke mit dem Kissen vor dem dröhnenden Kopf zur Toilette. Nachdem ich mich meines Milchshakes entledigt habe, begebe ich mich wieder zu meinem Platz. José ist weg, dafür scheint eine Chipstüte explodiert zu sein. Ich kann nicht mehr!
4 : 52 , kurz hinter Innsbruck (fast 46 Stunden kein Auge mehr zugetan)
Es ist zum Heulen. Ich kann einfach nicht schlafen. Erst nachdem ich die Schachtel Aspirin leergemacht habe, waren die Kopfschmerzen weg Dafür war mir speiübel und ich hab mir alles auf dem Klo (mittlerweile mein zweiter Stammsitz) noch mal gründlich durch den Kopf gehen lassen, mit dem Ergebnis, dass ich eine Viertelstunde später wieder Hunger hatte. Also habe ich einen eiskalten Fish Mac gegessen (Wenn überhaupt dann nur warm bedingt empfehlenswert!), wovon ich dann Sodbrennen gekriegt habe. Nachdem ich jetzt, 24567 Schäfchen später, den Rest meiner Reiseapotheke mit dem letzten Milchshake heruntergewürgt habe, bin ich müde wie noch nie, die Kopfschmerzen und das Sodbrennen sind weg, dafür hab ich nun Schluckauf und davon ist die letzte Reihe wieder wach geworden. Im Osten (ist es Osten, ich weiß nicht einmal mehr mit Sicherheit wo vorne und hinten ist) geht langsam die Sonne auf und wir stehen mal wieder im Stau.
Roman kommt vorbei und schaut, ob sein Handy irgendwo noch liegt. Er findet es in der Schachtel eines Mc Chicken und leiht es Carmen, die ihrem Freund nun auf der Mailbox mitteilen kann, dass sie mit ihm Schluss macht. Während ich mich noch über die vier Irren wundere, die zwei Reihen vor mir ein Monopoly-Spiel aufgebaut haben, dass nach jedem Überholvorgang neu aufgebaut werden muss, stösst Gerold, Außenseiter unserer Jahrgangsstufe und der langweiligste Mensch in diesem Bus zu mir.
„Hallo, Karsten, kannst Du auch nicht schlafen?“ meint Gerold und putzt mit seinem T-Shirt seine von seinen Wurstfingern verschmierte Brille.
Da ich nicht reagiere, macht er weiter. „Machst Du jetzt eine Ausbildung bei Mc Donalds?“ Er deutet auf die tausend Tüten und Packungen auf dem Boden.
In einem Anfall von Ironie meine ich: „Nein, Gerold ich bin Testesser bei denen, und wenn’s mir nicht schmeckt, machen die den ganzen Laden dicht.“
„Echt?“
Herr schmeiß Hirn vom Himmel!
„Karsten, wusstest Du, dass wir seit Nürnberg genau 412 rote Autos überholt haben, davon allein 82 VW-Golfs und nur einen Nissan Primera.“
Mit letzter Kraft donnere ich seinen Kopf vor den Aschenbecher und Gerold gibt endlich Ruhe. Zwei Valium später beginnt draußen ein wildes Hupkonzert hinter und neben unserem Bus, was wohl damit zusammenhängt, dass die letzte Reihe seit ein paar Minuten ein Schild mit der Aufschrift „Österreicher – die Deppen Europas“ an die hintere Scheibe halten.
Mir ist dies alles ziemlich egal. Ich steige über den bewußtlosen Gerold, trete in den Mülleimer auf dem Gang und beschließe mich, wie einige andere auch, zum Schlafen in den Gang zu legen.
Hier ist es zwar hart, aber ich habe Platz. Ich drehe mich auf den Rücken und sehe wie die grüne Notbeleuchtung langsam vor meinen zufallenden Lidern verschwimmt. Kurz bevor ich die mittlerweile tonnenschweren Lider ganz schließe, bemerke ich noch wie sich auf Höhe meiner Hüfte ein paar Beine aus dem Sitz schwingen. Sekundenbruchteile später sehe ich eine verschlafene Sarah, die offenbar zur Toilette will, und dann ohne aufzublicken schwungvoll ihren rechten Plateuschuh auf mein kostbarstes Körperteil setzt.
„Aaaaaaaaaauuuuuuuuuu!“ brülle ich mit schmerzverzerrtem Gesicht, Waldemar erschrickt sich und bremst, Claudias Schminkkoffer rast aus dem Gepäckablagefach auf mich herunter und verfehlt mich nur knapp. Sarah, die meiner Ansicht nach in Asien eine große Sumo-Karriere vor sich hätte, verfehlt mich leider nicht, sondern landet klatschend auf mir.
Bei mir gehen kurz alle Lichter aus und kurze Zeit später wieder an, als Mrs Rumms versucht mich wiederzubeleben. „Warum lasst ihr mich nicht mal jetzt schlafen?“ wimmere ich und schleppe mich zu meinem Platz. Carmen setzt sich neben mich, gibt mir eine Kinderaspirin „gegen die Schmerzen“ und erzählt mir, warum dass mit ihrem Freund sowieso nichts geben konnte (Sie Löwe, er Krebs).
In meinem Kopf dröhnen Preßlufthämmer, die Anzahl der Ringe unter meinen Augen ist mittlerweile dreistellig und meine Eier sind mittlerweile auf die Größe Grönlands angeschwollen. „Ich weiß zwar noch immer nicht, wovon Nashörner träumen, aber ich weiß Dank Sarah, wie es sich anfühlt wenn eines auf einen drauffällt“, denke ich, während mir Carmen ihr Herz ausschüttet und ich geistesabwesend meinen letzten Hamburger verspeise.
9 : 14 , kurz vor Verona (nicht Feldbusch) (seit über 2 Tagen nicht mehr geschlafen)
Nachdem mir Carmen innerhalb der letzten drei Stunden alle ihre Beziehungsprobleme der letzten sechs Jahre geschildert hat, geht es ihr wieder viel besser.
„Karsten Du bist ein toller Zuhörer“, meint sie zu mir, während mein 1536478293847372. Schäfchen im Geiste über die Hürde springt.
„Danke“ murmele ich, wobei ich mich wundere, wieso der Boden unter meinem Sitz mir auf einmal so weich erscheint. Ich will dieses Phänomen gerade auf die vier Baldrian und die halbe Flasche Jack Daniels schieben, als sich herausstellt, dass das unter meinen Turnschuhen der ausgelaufene Nudelsalat von Tine ist. Ich kicke ihn zusammen mit meinem Mc Donalds-Müll kräftig nach vorne und Carmen meint zu mir:
„Karsten, hast Du Dich eigentlich schonmal gefragt, ob Tiere auch Beziehungsstreß haben können?“
„Nein, aber wenn ich in meinem nächsten Leben mal Zeit habe, denk ich garantiert mal drüber nach und jetzt Carmen, lass mich bitte schlafen!“, brumme ich und starte Einschlafversuch Nummer 134. In der Reihe vor mir hat Gerold sein Autoquartett ausgegraben und feilscht mit Jerome um Hubraumgrößen und PS, Camilla (1Pferd verloren) und Roger (2 Bauern, 1 Läufer) spielen noch immer, die letzte Reihe grölt bulgarische Weihnachtslieder. Ich schlafe ein.
Jemand wuschelt mir durchs Haar. „Karsten, Du siehst richtig süß aus, wenn Du schläfst!“
Moment! Es gibt nur eine Person, bei der das „ß“ von „süß“ klingt wie eine undichter Rasensprenger. SARAH, die sich neben mir auf dem Sitz lümmelt und mich interessiert betrachtet. Ich laufe gleich Amok!
Während ich noch überlege, wie ein Sitz allein Sarah überhaupt tragen kann ohne zusammenzubrechen, trifft mich ein Gummiball, mit dem die letzte Reihe gespielt hat, unglücklich am Hinterkopf.
Jetzt reicht`s!
Ich schleudere den Ball mit aller Kraft nach vorne.
„AUA! WER WAR DAS?“, brüllt Claudia.
Ein Glückstreffer, Herr Stoiber mein Sportlehrer, der mir für Basketball nur eine drei gegeben hat, wäre stolz auf mich.
„KARSTEN?!?“
„Dies ist mein Name, Claudia, nutze ihn bitte nicht ab.“ Brülle ich zurück.
„KARSTEN, DU (ZENSIERT). SCHMEIßT DIESEN IRREN SOFORT AUS DEM BUS!“
„Ja, schmeißt mich aus dem Bus, vielleicht kann ich dann endlich in Ruhe schlafen!“
„Schrei hier nicht so rum, Karsten, hier wollen Leute schlafen“, meint Herr Schmaltkowski von vorne.
„Was ist denn überhaupt los?“, fragt Corinna, die gerade erst aufgewacht ist.
„Ach, Karsten hat nur einen seiner üblichen Anfälle.“, tönt eine Stimme aus den hinteren Reihen,
Anke, meine einzige gute Freundin, kommt zu mir, wischt mir die Tränen ab, sammelt die Überreste des von mir zerfetzten Krümelmonsterkissens wieder ein und redet beruhigend auf mich ein.
„Ich wollte doch nur schlafen.“, wimmere ich.
„Ich weiß, ich weiß, ist ja gut.“ meint Anke und legt mir tröstend den Arm um die Schulter.
„War das denn vielleicht zuviel verlangt, Anke?“, frage ich kleinlaut und falle für kurze Zeit wieder in den Stimmbruch zurück.
„Ich, wollte, ich wollte, ich ...“ stammele ich aber Anke unterbricht mich bevor ich ein drittes Wort meines Satzes hervorbringen kann.
„Ich habe mit René, Annika, Nicole, Katja und Mario gesprochen, Du kannst die letzte Reihe ab jetzt ganz für Dich allein haben.“
Völlig überwältigt bedanke ich mich bei den Fünfen und lege mich hinten lang. Jetzt will ich nur noch eines, schlafen, und erst dann wieder aufwachen wenn Zypern Fußballweltmeister wird oder Corinna mir einen Antrag macht.
„Wer ist dafür, dass wir jetzt diesen Film guckääään? ... Okay, ihr habt abgestimmt. Wir schauen jetzt „Schlaflos in Seattle“!“
16 : 57, Rom, 27 °C, die Sonne brennt
„Karsten, schau mal! Das gibt’s doch gar nicht, Roger und Camilla spielen noch immer. Ich glaub’s einfach nicht! Karsten? Karsten?“
„Versuch’s noch mal!“
„KARSTEN!“
„Mann, wie fest schläft der denn.“
„Vor allen Dingen, wie kann man in Rom ausgerechnet mitten auf der Spanischen Treppe einschlafen?!“
„Und das, wo er doch sicher die ganze Fahrt im Bus geschlafen hat.“
„Sonderbar!“