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Der Schirm
Der Schirm
Wieder einmal war Sonntag. Wieder einmal war er im Museum.
David, ein mittelgroßer, unauffälliger Mann, gerade 25 geworden. Er kam gerne an diesen Ort; genoß die Umgebung, die Ruhe. Besonders jedoch die Farbenpracht und Ausdrucksstärke der Bilder. Das vollkommen gedankenlose Betrachten der Bilder gab ihm ein wohliges Gefühl der Entspannung.
Wie jeden Sonntag verweilte er still stehend im Ausstellungsraum und schaute auf das vor ihm hängende Bild. Von Woche zu Woche wechselte David den Standort. Zufällig, ohne Sinn und System.
So stand er da, an der Wand vor ihm das Bild eines Mannes in einem Garten. Der Mann war ganz in schwarz gekleidet. Er trug ein weißes Hemd, darüber einen Anzug. Auf dem Kopf, ein schwarzer Hut, eine Melone. In seiner linken Hand hielt er einen ungeöffneten Schirm. Auch dieser war, wie sollte es auch anders sein, schwarz. Dem Betrachter den Rücken zugewand stand der Mann im satten Grün des Gartens und beobachtete, wie die Vögel, Schmetterlinge und Insekten sich inmitten der blühenden Pflanzen tummelten. Wunderschöne Blüten in leuchtendem Gelb, Rot und Weiß zierten die kräftig grünen Büsche.
Zur Linken des Mannes lag ein kleiner See, voll klarem Wasser, das das Blau des Himmels widerspiegelte. Weiße Wolken, die aussahen wie zerzauste Wattebäusche, hingen am Himmel.
David betrachtete die Idylle stillschweigend. Wie schon so oft zuvor, schien er vollkommen im Spiel der Farben zu versinken.
Und so geschah es, dass die weißen Wände der Austellungsräume alles umliegende verhüllen, in einer weißen Leere. Davids gesamte Umgebung und die Menschen darin verblichen mehr und mehr.
Alleine das Gemälde, welches er gerade noch betrachtet hatte wurde vom Schleier des Nichts verschont und die Farben strahlten, wie um ein Vielfaches verstärkt.
Der junge Mann und die kleine bunte Insel mit ihrer Fülle von Figuren und Farben schwebten im endlosen, sonst völlig leeren Raum.
Alles war still, alles war ruhig.
Das ehemals plane Gemälde war nun ein prächtiger Garten.. David stand inmitten dieser Szenerie und blickte sich um. Alles ihn umgebende schien wie erstarrt. Er atmete tief ein. Die Luft war geschwängert durch den Geruchs des saftigen Grases und dem süßen Duft der Blüten, und er spürte die Wärme der über ihm stehenden Sonne.
Plötzlich fing einer der Schmetterlinge inmitten dieser Oase seine Flügel zu bewegen. Er erhob sich und flog geradewegs auf den jungen Mann zu, der gerade diese fremde Welt betreten hatte. David hob die Hand und der Schmetterling nahm darauf Platz.
„Hallo, mein junger Freund.“, hörte man eine freundliche Stimme sagen. David sah sich erschrocken um. Die Tiere waren nun allesamt mit Leben erfüllt. So summten die Bienen und zwitscherten die Vögel, während die Fische im See im Sprung nach Fliegen schnappten. Doch niemand war da, der zu David hätte sprechen können.
So richtete er seinen Blick wieder suf seine Hand, auf der der Schmetterling saß. Aber sie war leer.
„Hier drüben bin ich.“, erklang wieder die Stimme. Zur Rechten Davids stand nun der Mann, vom Gemälde. Er lächelte und sprach zu seinem Gast: „Ich bin glücklich, dich zu sehen.“ Und mit einem Ausdruck von Freude im Gesicht fügte er hinzu: „Endlich! So lange ist es her, dass jemand den Weg zu diesem Ort gefunden hat.“
Der Mann reichte David seinen Schirm. „Nimm ihn und öffne ihn einfach, wenn du wieder das Bedürftnis hast, zu diesem Ort zurückzukehren. Doch verzeih bitte! Ich habe vergessen mich vorzustellen.“, sprach der Mann und reichte seinem Gegenüber die Hand. „Mein Name ist Bastian, und ich bin der Bewohner dieses kleinen Paradises. Seit einiger Zeit, ich habe die Tage und Jahre nicht gezählt, verbringe ich schon mein Leben mit der Aufgabe auf den einen zu warten, der als nächster den Weg findet und meinen Plazt einnimmt.“
Als David das hörte fühlte erschrak er kurz. Er dachte: „Ich soll seinen Platz einnehmen? Warum denn gerade ich? Was wird aus meinem bisherigen Leben? Bin ich der einzige, der es geschafft hat, dieses Paradis zu finden?“ So stand er da, und es schienen ihm tausende von Fragen durch den Kopf zu schießen.
„Ich finde es zwar wirklich schön hier“, antwortete David seinem Gegenüber, „doch möchte ich hier nicht auf ewig bleiben. Zumindest fühle ich im Augenblick so. Ich habe doch mit Sicherheit noch eine Aufgabe, die es zu erfüllen gibt.“
Bastian sah ihn mit verständnisvollem Blick an. „Ich weiß sehr wohl, was du meinst.“, sprach der schwarz gekleidete Mann. „Damals, als ich zu diesem Ort fand und ich ebenso überrascht war, da fühlte ich genau so.“ Und er deutete auf den Schirm und erklärte: „Deshalb gebe ich dir diesen Schirm. Öffne ihn und du wirst dorthin zurückkehren, von wo du gekommen bist. Dort kannst du verweilen, bis zu jenem Tag an dem du deine Aufgabe erfüllt hast. Du wirst spüren, dass du bereit bist, und mich wieder besuchen.“
David sah auf den schwarzen Schirm. Plötzlich schien es als seien sämtliche Ungewißheiten aus seinem Kopf verschwunden. Er war befreit von allem Unwichtigen, das ihn doch eben noch so bewegte. Alleine die letzten, wichtigen Fragen waren präsent, und suchten eine Antwort.
Dann blickte er zu dem Mann, der ihm so fremd und geheimnisvoll, und gleichzeitig so vertraut erschien. Er fragte ihn: „Weshalb finden so wenige den Weg zu dir? Es ist doch so einfach.“ Da lachte Bastian und sagte: „Mein junger Freund, das wirst du sicher bald herausfinden. Und es wird dir klar werden, dass der Weg zwar einfach ist. Aber was es braucht, ihn zu gehen, ist nicht jedem gegeben.“
Die beiden verabschiedeten sich und David öffnete den Schirm. Und als fiele eine schwere Last von ihm, trug ihn der Schirm in die Höhe. Immer höher, immer weiter, bis der Mann unter ihm nicht mehr als ein schwarzer Punkt war. Und er tauchte in eine der Wolken am strahlend blauen Himmel. Das Weiß umgab ihn, und hüllte ihn ein und es war nichts weiter zu sehen als die Leere eines endlosen Raumes.
Nach und nach verschwand der undurchblickbare Schleier und gab den Blick auf das Museum, die Menschen darin und die Gemälde an den Wänden wieder frei.
David war an jenem Platz, an dem er vor seiner Reise in die grüne Oase bereits stand. Er blickte auf das Bild vor ihm. Auf dem ein schwarz gekleideter Mann stand, mit einem Hut auf dem Kopf. Auf seiner linken Hand saß ein Schmetterling.
David blickte sich um. In seiner Hand hielt er dein schwarzen Schirm. “Es war, wohl doch nicht nur ein schöner Traum“, dachte er für sich selbst und lächelte. Als er wieder auf das Gemälde sah, war an Stelle des Schmetterlings wieder ein schwarzer Schirm in der Hand des Mannes zu finden.
David wollte gerade gehen, als der ein Dutzend Leute bemerkte, die gerade zu dem Bild kamen, vor dem er stand.
„Kommen wir nun zum Gemälde „Der Garten“. Der Künstler ist leider unbekannt.“, hörte man den Führer mit einer Mischung aus Wichtigtuerei und Langeweile vortragen.
„ Auch hier handelt es sich um ein Werk in Öl.“, erklärte der Führer der ihm interessiert zuhörenden Gruppe. „Wie sie sehen, trägt der Herr einen Anzug, vermutlich Maßarbeit, was zeigt, dass er aus reichen Verhältnissen.stammt und Erholung in einem Park oder auf seinem Landsitz sucht.“ Und mit einem besonders wichtig klingenden Ausdruck sprach er weiter: „Sie sehen, den Schirm in der linken Hand des Herrn. Er trägt ihn, obwohl der Himmel gutes Wetter verspricht.“
Einer der Teilnehmer der Führung fragte: „Worin besteht der Sinn einen Schirm bei solch gutem Wetter bei sich zu tragen?“, worauf einige der Gäste Vermutungen anstellten.
„Er ist vielleicht nicht mehr als ein Statussymbol, der Schmuck des Mannes.“, meinte der eine.
„Vielleicht ist ja auch darin Angst und Unsicherheit dargestellt. Der Mann fürchtet nur, es könne regnen.“, mutmaßte der nächste.
Der Führer der Gruppe wollte in seiner doch etwas überheblichen Art nun natürlich auftrumphen und den rätselnden Besuchern nach seiner Auffassung die Augen öffnen: „Die Interpretation dieses Gegenstands läßt sich unter Anwendung von kunstgeschichtlichen Erfahrungswerten folgendermaßen verstehen...“
David wollte den wirren Erklärungsversuchen des selbsternannten „Kunstexperten“ nicht weiter zuhören. Nun hatte er begriffen, weshalb die Menschen nicht in jene wunderbare Welt gelangen konnten, die er gerade erst verlassen hatte. Die Leute waren viel zu sehr damit beschäftigt einen Sinn in diesem Schirm zu erkennen, und vergaßen vollkommen, auf die eigentliche Bedeutung des Bildes zu achten.
„Vermutlich werden diese Menschen nie erfahren, weshalb er einen Schirm trägt.“, dachte David und dann sprach er: „Ich habe verstanden, Bastian.“
Er war bereits im Begriff zu gehen, als er einen kleinen Jungen, von vielleicht gerade sechs Jahren bemerkte. Der Junge sah ihn an und sagte leise: „Mir ist egal, warum der Mann einen Schirm hat. Ich finde den Garten schön, mit den ganzen bunten Farben. Da wäre ich auch gerne.“
David sah den kleinen Kerl an. Ihn erfüllte ein Gefühl der Glückes und der Hoffnung und er versprach ihm: „Stell es dir nur vor. Lass einfach nur das Bild auf dich wirken und du wirst eines Tages wissen, warum der Mann einen Schirm hat.“
Dann zwinkerte er dem Jungen zu und öffnete den Schirm, worauf er, unbemerkt von den immer noch diskutierenden Besuchern, verschwand.