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Der Schatz - Der Vagabund und die Diebin
Am nächsten Morgen erinnerte sich keiner von uns an diese Nacht. Die meisten Nächte haben es so an sich, dass sie spätestens bei Sonnenaufgang nur noch ein einziger verschwommener Brei aus Eindrücken sind. Am nächsten Morgen blieben meist nur vage Erinnerungen, Männer mit losen Börsen, zu viel Met, der eklige Geschmack im Mund, und immer wieder Tyvar, wie er die Nacht in einer Art und Weise genoss, zu der ich niemals fähig sein würde. Jeden Morgen schwor ich mir, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren, und jeden Abend brach ich diesen Schwur aufs Neue.
Aber in dieser Nacht war etwas anders als sonst, denn als wir am nächsten Morgen aufstanden, war Gregor fort. Das hatte er noch nie getan, denn anders als ich hatte er immer allein geschlafen, und anders als Alrik hatte er es auch noch nie versucht. Wir wussten nicht, ob irgendjemand auf ihn wartete. Er war wie eine Katze, man konnte ihn nicht an Ort und Stelle halten, und manchmal hatten wir den Verdacht, dass er nur bei uns war, weil wir ihm von Zeit zu Zeit etwas menschliche Nähe zukommen ließen. Er ging, wohin er wollte - trotzdem, vor Tag und Tau kehrte er zurück, wenn wir gerade ins Bett gingen, und spätestens dann, wenn wir uns aus den Betten quälten, war er da, saß im Schankraum und trank Met. Er war immer da. Nur jetzt war er fort.
Tyvar und ich saßen im Schankraum, rührten traurig Zucker in unseren Kaffee und hörten Alrik zu, der versuchte, eine sinnvolle Vorgehensweise zu entwickeln. „Wo könnten wir nach ihm suchen? Ich meine, wir wissen gar nichts über ihn!“, fasste Alrik die Situation zusammen und demonstrierte wieder einmal sein unnachahmliches Talent, das Offensichtliche zu kommentieren, das ihn so menschlich machte. „Eigentlich können wir nur hier auf ihn warten.“
„Er ist unser Freund“, erinnerte Tyvar sich selbst und den Rest der Welt. „Wir dürfen ihn nicht hängen lassen. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen? Wir können ihm hier eine Nachricht hinterlassen, und dann reisen wir weiter und kontaktieren die Diebesgilde.“
„Ihm etwas zugestoßen? Du weißt doch, wie er kämpft“, protestierte Alrik.
„Was denn, wenn es mehr waren als er? Können nützt nichts gegen eine Überzahl. Völlig egal, was mit ihm ist, wenn wir ihn suchen wollen, führt an deinen Kollegen nichts vorbei“, sagte Tyvar und lächelte mir zu.
„Hier gibt es aber keine Diebesgilde“, warf ich ein. „Hier gibt es nicht einmal einen Hahn.“
„Deshalb müssen wir auch weiterziehen.“
Es gab noch einen anderen Grund, warum wir weiterziehen mussten, aber den verschwieg ich meinen Freunden. Wenn ich zu lange an einem Ort bliebe, würde ich der Gilde in die Hände fallen, und dann wäre ich genau so verschwunden wie Gregor.
Unser Weg hatte uns weit nach Norden geführt, weg von den warmen, sternenklaren Nächten der südlichen Lande hin zu klirrendkalter Finsternis, in der eisige Winde klägliche Wolkenfetzen über den Himmel peitschten. Hier lebte Tyvars Prinzessin. Sicher saß sie den ganzen Tag in einem hohen Turm, kämmte ihr bodenlanges goldenes Haar und verzehrte sich nach ihm. Tat sie das?
Es war nicht weit von dieser Frage bis hin zu einer anderen, die ich mir nicht stellen wollte.
„Wir gehen weiter nach Norden. Einen Tagesmarsch von hier ist die Stadt Calderan, da sollte es ein paar nützliche Leute geben.“
Alrik nippte an seiner Milch. „Wenn du meinst...“
„Mir ist es hier zu kalt, Tyvar. Ich würde lieber wieder nach Süden gehen.“
„Sobald wir Gregor gefunden haben. Versprochen.“ Ich wusste, dass er sich an das Versprechen erinnern würde, und ich wusste auch, dass ich ihm, wenn es dazu kommen musste, auch zum Nordpol folgen würde.
Wir wanderten die Straße entlang nach Norden. Obwohl ich zwei Mäntel und einen gestohlenen Pelzumhang trug, biss die Kälte gnadenlos in meine Haut. Meine Hände waren so kalt, dass sie schon lange nicht mehr wehtaten, und meine Wangen spürten die Schneeflocken nicht mehr, die am Morgen noch so sehr in meine Haut gebissen hatten. Gregor stieß nicht zu uns, obwohl wir halb und halb damit rechneten, ihn aus dem Schneetreiben auftauchen zu sehen. Wir wanderten nach Norden, und meine Füße taten weh. Ich bemitleidete mich ein wenig und war deshalb sehr froh, als die Stadtmauern von Calderan in Sicht kamen.
Wir schlüpften in letzter Sekunde durch die Tore und stiegen in einer der besseren Tavernen ab. Das Vierbettzimmer war zu groß für drei.
Hier war es warm. Ich warf die Mäntel zu Boden und kuschelte mich in mein Etagenbett, froh, meine schmerzenden Füße entlasten zu können.
„Wir sollten uns gleich auf den Weg machen, zur Diebesgilde“, schlug Tyvar vor. Ich musste ungefähr zehn Jahre jünger sein als er – ich kannte mein Geburtsjahr nicht – aber in diesem Moment fühlte ich mich, als sei ich mindestens hundert.
„Ich bleib dann hier“, sagte ich mit erstickter Stimme und spürte zu meinem Entsetzen, wie Tränen in meine Augen stiegen.
Tyvar setzte sich auf die Bettkante und strich mir sanft übers Haar. „Ist alles in Ordnung mit dir, Kleines?“
„Ich hab nur Kopfschmerzen, und mir ist kalt...“, log ich. „Ich werde ein bisschen schlafen. Amüsiert euch gut, aber nicht zu gut.“
„Dann gehen wir jetzt“, antwortete er und ich fühlte einen Stich bei der Erleichterung, die in seiner Stimme mitschwang. „Wir bleiben nicht lange weg.“
Ich kuschelte mich in die Decke und vergrub meinen Kopf im Kissen. Die beiden rumorten noch ein Weilchen herum, riefen mir einen Gruß zu, dann schlug die Tür und sie waren weg.
Tyvar würde zu seiner Prinzessin gehen. Er würde sie heiraten wollen, obwohl er nur ein armer Vagabund war – einer von den Spielleuten, wie Funke gesagt hätte. Aber wenn er sie fragen würde, würde sie mit ihm fortgehen. Das wusste ich. Ich wusste es, weil ich es getan hatte, und weil ich ihm bis in die Hölle gefolgt wäre, wenn er mich gebeten hätte. In der Hölle wäre es wenigstens warm... Ich zitterte.
Sie würde mit ihm gehen, und er mit ihr, und wir wären allein.
Bereits jetzt war es nicht mehr dasselbe, weil Gregor fehlte mit seiner beruhigenden stummen Präsenz und seinem Bogen, seinem Messer, immer zur Stelle, wenn Gefahr drohte und erbarmungslos gegen alle Feinde. Aber wenn Tyvar ginge, wäre nichts mehr.
Wir waren ein Körper und er war das Herz. Wir waren ein Geist, und er war die Idee, wir waren der Zunder, und er war der Funke. Ohne ihn war nichts. Wir hatten Gregor verloren, Tyvar würde gehen und wir wären allein, ich wäre allein.
Schluchzer brachen aus mir heraus, schüttelten mich erbarmungslos. Ich zog mir die Decke über den Kopf und biss ins Kissen, um nicht laut loszuschreien. Ein Wimmern entfuhr mir, und ich hasste mich dafür.
Irgendwann hatte ich keine Tränen mehr. Der Schlaf kam, wie eine weiche Decke aus Vergessen, und ich wehrte mich nicht, sondern schlief ein.
Ich träumte von früher, von meiner Zeit auf der Straße, als dilettantische Taschendiebin, die nichts von der Gilde wusste. Ich war wieder ein Kind, reckte mich nach Geldbeuteln, die viel zu hoch für mich hingen, sammelte heruntergefallenes Essen vom Boden schmutziger Schenken und schlief nachts zusammengekauert an Orten, die einen Hauch von Wärme versprachen. Den ganzen Tag lang suchte ich, und wenn es Nacht wurde, weinte ich mich in den Schlaf. Ich wusste nicht mehr, wen ich suchte oder wonach, ich hatte vergessen, was danach passiert war. Vergessen, dass Tyvars warme Hand sich um meine gelegt hatte, als ich gerade seinen prall gefüllten Münzbeuten aufschneiden wollte. Vergessen, dass er mir etwas zu essen gegeben hatte, und dass wir Stiefel gestohlen hatten, zusammen. Ich war allein, barfuß, auf einer kalten Straße im Norden und sah, wie eine Prinzessin ihr goldenes Haar kämmte. Ich war ein Straßenkind, voller Angst vor dem nächsten Morgen.
Als ich wieder aufwachte, wusste ich zuerst nicht, wo ich war. Das hatte ich mir schon lange abgewöhnt, aber in einem panischen Moment der Desorientierung war ich verloren und allein auf der Welt; erst dann fiel es mir wieder ein. Ich richtete mich auf und schlurfte zum Tisch. Die Wasserschale zeigte mir ein rotgeweintes, fleckiges Gesicht, mein Mund fühlte sich an, als sei etwas darin gestorben, und die Kopfschmerzen, von denen ich Tyvar erzählt hatte, waren jetzt Wirklichkeit und hämmerten gegen meine Schläfen.
Ich spritzte mir gerade Wasser ins Gesicht, als ich das Poltern hörte. Schwere Schritte näherten sich, blieben vor der Tür stehen. Als sie sich öffnete, sah ich Tyvar.
Er sah so aus wie ich mich fühlte. Seine Augen waren rot, seine Haare zerzaust, und es schien, als wäre er noch unrasierter als sonst. Mit müden Schritten ging er zum Bett und ließ sich darauf fallen.
Vorsichtig legte ich ihm die Hand auf die Schulter. Er drehte sich weg von mir, zur Wand.
„Tyvar?“
Er antwortete nicht. Ich konnte spüren, dass er litt. Ich kannte ihn gut, und sogar, wenn er ein völlig Fremder gewesen wäre, hätte ich es nicht übersehen können, der Kummer hing über ihm wie eine große, schwarze Wolke.
„Geh fort“, bat er schließlich. „Lass mich allein!“ Die letzten Worte hatte er geschrien, als hätte er sie viel zu lange zurückgehalten.
„Ich gehe nicht. Liebster Freund, bester Tyvar – was ist passiert? Bitte, sprich mit mir!“
Ich spürte, wie seine Schultern zuckten, als er zu weinen begann. Ich tat, als würde ich es nicht bemerken und begann, sanft seinen verkrampften Nacken zu massieren.
„Sie ist verheiratet“, brach es aus ihm heraus. „Ich war bei ihr, und da saß sie, mit einem Ring am Finger und einem Kind auf dem Schoß!“
Jetzt weinte er laut, unterdrückte Schluchzer, die klangen, als hätte er sie abgebissen.
Ich schubste ihn ein Stück von der Bettkante weg, streckte mich neben ihm aus und hielt ihn fest. Ich fühlte unendliches Bedauern, als er sich zu mir drehte und sich an mir festklammerte. Er weinte immer noch.
Es war das Selbstverständlichste der Welt, ihm einen sanften Kuss auf die Stirn zu geben, ihm übers Haar zu streichen und ihn festzuhalten, bis er irgendwann, Jahre später, aufhörte zu weinen.
„Das hast du nicht verdient“, flüsterte ich, als er sich beruhigt hatte. „Sie ist undankbar und dumm. Sie wird niemals erfahren, was sie ausgeschlagen hat. Du bist ein wunderbarer Mensch, sie weiß gar nicht, was sie weggeworfen hat.“
„Ich habe sie nicht geliebt“, wisperte er tonlos. „Ich habe nur von ihr geträumt, aber ich habe sie nie geliebt.“ Wieder begann er zu weinen.
Ich drückte ihn an mich, roch seinen Duft und das Salz seiner Tränen. Um was weinst du jetzt, Tyvar? Es ist mein Blut, das aus deinen Wunden fließt.
Meine rechte Hand war taub. Er lag auf meinem Arm, meine Schultern verkrampften sich zusehends, aber ich hätte diesen Moment für nichts in der Welt aufgegeben, und wenn ich aus dem Bett gefallen wäre. Irgendwann wurden seine Atemzüge gleichmäßiger, und nach einer Weile löste ich mich von ihm und deckte ihn zu.
Ich hatte ihn schon oft beobachtet, wenn er schlief. Normalerweise schlief er auf der Seite, den Kopf ins Kissen gedrückt und die Decke so sehr hochgezogen, dass man außer ein paar zerzausten Haaren nichts von ihm sehen konnte.
Ich beugte mich über ihm und gab ihm noch einen Kuss, dieses Mal auf die Wange. Seine Bartstoppeln piekten meine aufgesprungenen Lippen, aber seine Haut war warm. Sein Gesicht entspannte sich, und er kuschelte sich mit einem leisen Seufzer ins Kissen.
Ich blickte auf ihn herunter. Ein Sturm aus Zuneigung zeichnete weich, was ich sah. Er hätte niemals von sich behauptet, gut auszusehen. Aber ich hätte ihn stundenlang anschauen können. Die Sonne malte goldene Lichter in sein Haar, wenn sie die Gelegenheit dazu bekam, und seine Augen strahlten manchmal blauer als der Himmel. Ich wusste, wenn er die Augen wieder aufschlüge, würden sie mich verzaubern, mich an das glauben lassen, was er sagte. Ich wusste, wenn es nötig wäre, würde ich ihn verteidigen bis zum letzten Blutstropfen.
Mit einem letzten Blick schlich ich mich aus dem Zimmer.
Alrik saß im Schankraum und trank Ziegenmilch. „Wie geht’s ihm?“
„Er schläft“, gab ich zurück und rief nach einem heißen Met. Eine eisige Kälte hatte ich um mein Herz gelegt, und als der Alkohol heiß meine Kehle herunterlief, spürte ich, wie es langsam zu tauen begann.
„Es hat ihn wohl schwer getroffen“, vermutete er.
„Ja. Es muss hart für ihn gewesen sein, die ganze Zeit von ihr geträumt zu haben und sie jetzt wiederzufinden - so.“
„Glaubst du, er kommt drüber weg?“
„Er muss“, antwortete ich und spürte, wie die kalte Hand sich wieder um mein Herz krampfte und mir die Luft abschnürte. „Er muss.“
Es vergingen einige Tage, und von Abend zu Abend machte ich mir größere Sorgen um Tyvar. Er hatte seit jenem Tag nicht mehr in unserem Zimmer geschafen. Ich wusste nicht, ob er die Nächte in den Armen einer jener Frauen verbrachte, die ihn umflatterten wie Motten das Licht, oder ob er auf der Straße geschlafen hatte. Er tauchte irgendwann am nächsten Morgen wieder auf, hungrig, müde und schmutzig. Wir zwangen ihn dann, etwas zu essen und sich zu waschen. Dann fiel er aufs Bett und schlief ein. Ich deckte ihn zu und bewachte seinen Schlaf, bis er abends wieder aufstand und weitermachte. Er trank nicht viel, er tanzte nur, tanzte sich so weit fort, dass wir ihn nicht mehr erreichen konnten, bis er morgens, müde vom Fliegen, vor uns auf den Boden schlug, am Ende seiner Kräfte.
Dann kam der Abend, an dem das erste Mal eine Frau ihr Desinteresse kundtat und sich stattdessen dem blonden, schwer gerüsteten Nordländer an den Hals warf, der ihr auch schon den ganzen Abend hinterhergesabbert hatte. Zunächst widmete Tyvar sich seinem Becher, bis er ihn schließlich in den Kamin schleuderte und aus der Taverne stürmte.
Ich fand ihn an der Stadtmauer, in einem verborgenen Winkel. Meine Füße und mein Herz hatten mich zu ihm geleitet. Ich näherte mich möglichst leise, wollte nicht, dass er mich schon bemerkte. Er hatte die Stirn gegen die kalten Steine gestützt, als würde er umfallen, wenn er seinen Halt losließe. Sein Anblick brach mir das Herz. Ich flüsterte seinen Namen, aber er hörte nicht.
Es war nur ein Schritt, der uns trennte, aber es war der schwerste, den ich je gegangen war. Meine Hand fand seine Schulter. „Geht es dir gut?“ Es war eine dämliche Frage, aber die einzige, die ich ihm stellen konnte.
Er schüttelte den Kopf. Lehnte sich gegen die Mauer und seufzte. Ich machte einen Schritt, umarmte ihn, lehnte den Kopf an seine Schulter. „Was ist mit dir, mein liebster Freund?“
Unwillig machte er sich los. „Ich weiß es nicht!“
Es tat weh, so weh, aber ich schluckte den Schmerz herunter. „Bitte, red mit mir. Ich möchte dir helfen.“
Jetzt ließ er es zu, dass ich ihn in den Arm nahm. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es doch nicht!“
„Wir machen uns Sorgen, Alrik und ich. Was ist nur los? Was kann ich tun, damit es dir besser geht?“
„Ich weiß nicht. Irgendetwas... ich weiß nicht!“
Er wehrte sich nicht, als ich seinen Kopf an meine Schulter zog. Sanft streichelte ich ihm übers Haar. „Bitte, zieh dich nicht zurück. Wir sind deine Freunde!“
Ein Seufzer. „Wenn ich nur wüsste, was los ist. Irgendetwas fehlt mir. Vielleicht ein Ziel...“ Er löste sich von mir, ging ein paar Schritte.
"Wir müssen immer noch Gregor finden", erinnerte ich ihn. "Er ist unser Freund, und vielleicht braucht er unsere Hilfe."
"Ja, und vielleicht hatte er nur die Schnauze voll von diesem Leben und hat sich abgesetzt." Seine Stimme war dunkel vor Bitterkeit.
„Komm, setzen wir uns auf die Stadtmauer“, schlug ich vor. „Der Mond ist so schön heute Nacht...“
Wir stiegen die Treppe empor, ich direkt hinter Tyvar. Er setzte sich auf eine der Zinnen, den Rücken zur schlafenden Stadt, baumelte mit den Beinen. Ich nahm neben ihm Platz.
„Wie tief es hier wohl runtergeht?“, fragte er geistesabwesend. „Sieben Meter? Zehn?“ Er spannte sich, rutschte ein Stück nach vorn.
„Tyvar.“
„Hm?“
„Denk nicht mal dran!“
„Warum nicht? Es ist doch sowieso alles sinnlos! Wir ziehen durch die Gegend und feiern! Jede Nacht dasselbe Muster. Immer dieselben Gestalten, nur die Gesichter sind austauschbar. Ich kann doch auch einfach springen, niemand würde es merken. Irgendwo auf dieser Welt gibt es noch andere wie mich. Niemand würde es merken!“ Seine Stimme hallte in der Nacht.
„Tyvar?“
„Was!“
„Du kannst das nicht tun...“, meine Stimme versagte.
„Warum nicht?“
„Weil ich dir folgen müsste.“
„Warum?“
„Weil ich“, es war der schwerste Satz, der mir je über die Lippen gekommen war, und erst als ich ihn aussprach, wusste ich, dass er stimmte, „dich liebe.“
Er sackte zusammen. „Ich weiß.“
Ich lächelte matt. „Alrik wird sagen, er hätte es immer gewusst. Ich wusste es nicht. Ich habe dich niemals um etwas gebeten, mein Liebster. Aber ich bitte dich jetzt – bleib bei mir!“
Er nickte. „Ja, keine Angst. Das werde ich.“
„Versprochen?“
Ein Versprechen war bindend, und er sah aus, als hätte er es lieber nicht gegeben. Aber er nickte.
Wir gingen zurück. Der Schankraum hatte sich beinahe geleert, Alrik war fort, in seinem Bett oder in der Wohnstube irgendeiner Frau, auf dem Sofa. Wir setzten uns auf eine der Bänke an der Wand und bestellten heißen Met, um die Kälte der Nacht aus unseren Knochen zu treiben. Ich war weit jenseits der Müdigkeit. Die Welt um mich herum war niemals klarer gewesen.
„Ich mache das schon seit einer Weile“, brach Tyvar irgendwann das Schweigen. „Aber bei Licht betrachtet hat es mir nichts gebracht.“
Ich rutschte ein Stück näher und nahm seine Hand zwischen meine beiden. „Immerhin bist du frei“, sagte ich. „Keines Anderen Knecht. Und du bist nicht allein.“
„Man kann auch zu zweit allein sein, oder zu viert“, winkte er ab. „Und was nützt einem Freiheit, wenn man nicht einmal die Möglichkeit hat, sie aufzugeben?“
„Tyvar?“ Er war sehr nahe und sehr warm, ich konnte ihn spüren. „Du bist nicht allein. Ich bin bei dir, jetzt und für immer. Vertrau mir.“
Er beugte sich vor, legte die Stirn an meinen Hals. „Ich weiß.“
Ich ließ seine Hand los und strich ihm über den Kopf, den Nacken, kraulte seine Schultern. In meinem Magen kribbelte es, als hätte der Blitz eingeschlagen, und ich fragte mich ungläubig, ob all das gerade tatsächlich passierte. Hatte ich ihn gestern schon geliebt? War dieser Tag gestern schon eine Möglichkeit gewesen?
Ich fühlte seine Finger in meinem Haar, es war kurz, und für eine Sekunde wünschte ich mir, ich hätte lange, wallende Locken, in denen er seine Hände vergraben könnte. Aber dann hob er den Kopf, und als