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Der Schattenmann
Thesha lag mit angewinkelten Beinen seitlich in ihrem Bett. In ihrem Zimmer war es glühend heiß. Passend dazu schien es, als würde aus dem Boden ihres Raumes Dampf aufsteigen. Hatte sie etwa Fieber? Mit ihrer linken Hand fasste Thesha sich an die Stirn um die Temperatur zu prüfen, doch sie konnte keine ungewöhnliche Wärme feststellen. Alles in allem wirkte der Raum unreal, als würde sie in der ersten Reihe eines Kinosaals sitzen und alles nur durch eine Leinwand sehen.
Ihre Zimmertür öffnete sich, doch sie konnte niemanden dahinter stehen sehen. Das beunruhigte sie.
„Hallo?“, fragte sie.
Keine Antwort.
Sie fühlte sich, als wenn ein dickes Seil sich um ihre Brust schlingen würde und sie an ihr Bett fesselte. Dann hörte sie Schritte. Schwere, langsame Schritte, die sie an einen Elefanten erinnerten. Ein Schatten stand nun hinter der Türschwelle. Sie war sich nicht sicher, doch er sah aus wie eine menschliche Gestalt. Ihr Herzschlag wurde schneller. Noch immer hielt sie etwas davon ab, sich zu bewegen. Der Schatten kam näher und nach einer Weile bemerkte Thesha wie aus den Augenhöhlen des Wesens rotes Licht schien, als wenn dieses Wesen glühende Kohlen anstatt Augen besaß. Kurz vor dem Fuß ihres Bettes hielt dieses Wesen abrupt an. Es murmelte etwas Undeutliches vor sich hin. Wenn Thesa die Augen dieses Schattens nicht aufgefallen wären, hätte sie wohl vermutet, es würde sich wirklich um einen Menschen handeln. Dann streckte das Wesen seinen rechten Arm aus und packte Thesha an ihrem Fuß. Thesha begann zu schreien.
Sie wachte sie auf. Langsam erhob sie ihren Kopf von einem hölzernen Tisch. Schon bei der ersten Bewegung fiel ihr der pochende Schmerz an ihren Schläfen auf. Vorsichtig versuchte sie diese zu massieren und kniff dabei vor Schmerzen leicht die Augen zu.
An der Tafel standen die Hausaufgaben mit weißer Kreide angeschrieben. Wie lange hatte sie geschlafen? War bereits Schulschluss? Da die Holzstühle in ihrem Klassenzimmer alle leer waren, konnte sie sich die Frage selbst beantworten. Des Weiteren war ihre Schule bereits von Dunkelheit eingehüllt, wie sie durch das Doppelfenster links von ihr erkennen konnte. Mit einem Stöhnen räumte sie ihren Tisch frei und packte ihren Collegeblock, den sie sowieso nie benutzte, in ihre Schultasche. Ihr fiel auf, dass sie nicht einmal einen Stift dabei hatte. Sie erhob sich von ihrem Holzstuhl und begab sich mit gesenktem Kopf, der sich anfühlte wie ein schweres Stück Blei, in Richtung Flur.
Als sie ihren Kopf wieder aufrichtete, befand sie sich bereits auf dem Flur und inmitten des Ganges stand jemand. Fast hätte sie aufgeschrien, doch im letzten Moment erkannte sie, dass es ihr Lehrer Anton war.
„Guten Morgen Thesha. Hast du gut geschlafen?“ Antons Augen waren ausdruckslos. Sie konnte nicht erkennen, ob er sauer war oder ob es ihm egal war.
„Es tut mir leid.“, sagte Thesha mit wieder gesenktem Blick.
„Wärst du bitte so freundlich mir in das Lehrerzimmer zu folgen?“
„Habe ich denn eine Wahl?“
„Nein.“
Thesha seufzte. „Na gut.“
Anton hielt ihr die Tür zum Lehrerzimmer auf und forderte sie mit einer einladenden Geste dazu auf, einzutreten. Als sie an ihm vorbeiging, lächelte er sie an. Dennoch erleichterte das Anna in keinster Weise. Sie hatte keine Ahnung, worauf Anton hinauswollte.
„Setz dich bitte“, sagte Anton.
Thesha setzte sich auf einen schwarzen Schreibtischstuhl, der am Ende des Tisches vor der Tür zum Lehrerzimmer stand. Der Stuhl passte zu Theshas Kleidung, was ihr gefiel.
„Also Thesa, würdest du mir nun bitte sagen, was mit dir los ist?“, fragte Anton, während er am anderen Ende des Schreibtisches auf einem identischen Stuhl Platz nahm.
„Was soll schon sein?“
Anton verdrehte die Augen. „Nun komm schon Thesha, du verschwendest unsere Zeit. Wir wollen doch beide nach Hause, oder etwa nicht?“
„Nein.“
Eine Weile starrten sich beide schweigend in die Augen. Im Hintergrund hörte Thesha das Ticken einer Uhr. Von draußen prasselten Regentropfen gegen das Fenster. Antons Mundwinkel begann ein wenig zu zucken. Thesha merkte, dass sein Geduldsfaden wohl bald reißen würde. Dennoch versuchte sie mit aller Kraft, ihr kleines Geheimnis für sich zu behalten. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, wäre es, wenn ihre Mitmenschen sie jetzt auch noch als geisteskrank ansehen würden.
Antons Kiefer entspannte sich wieder, ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen.
„Thesha - ich kenne dich seit deiner Geburt. Ich war immer ein guter Freund deiner Mutter. Wir alle wissen, dass du sehr unter dem Tod deines Vaters leidest, aber denkst du, deiner Mutter geht es anders? Ich habe sie letztens beim Einkaufen getroffen und sie sah schrecklich aus. Sie hat mir erzählt, dass sie bestimmt eine Woche nicht mehr mit dir gesprochen hat. Wenn du nach Hause kommst, schließt du dich im Zimmer ein und ernähren tust du dich hauptsächlich von Chips oder Erdnussflips, wenn du überhaupt noch etwas isst. Ich meine, schau dich doch mal an. Deine Figur erinnert an ein magersüchtiges Pariser Model, deine Haut ist kreidebleich und dann hat sie dich letztens noch mit deinen aufgeschlitzten Pulsadern gefunden. Thesha, versteh doch bitte, sie hält es nicht mehr aus, dich so zu sehen.“
Thesha schreckte plötzlich auf. Er wusste also von ihren aufgeschlitzten Pulsadern. Verdammt, er könnte sie wahrscheinlich einweisen lassen, wenn er wollte. Außerdem war alles, was er sagte, wahr. Ihre Mutter hatte sie bei ihrem eigenen Leid komplett vergessen. Sie wollte gerade etwas antworten, als Anton ihr zuvorkam.
„Es ist der Mann, nicht wahr?“
Thesha konnte ein schreckhaftes Zucken ihres Körpers nicht verhindern, versuchte dennoch so unbekümmert wie möglich zu wirken. „Welcher Mann?“ Sie merkte, wie Schweißperlen ihren Rücken runterliefen. Wusste er etwa von ihren Alpträumen oder dem, was sich nachts in ihrem Zimmer abspielte?
„Der Mann, der dich nachts heimsucht.“
Langsam schien sich Theshas Souveränität zu verabschieden. Woher wusste er davon?
„Ich glaube, ich sollte gehen.“ Thesha wollte gerade aufstehen, doch ehe ihr das gelang, griff Anton nach ihrer Hand. Sein Griff war stark, fast schmerzhaft.
„Ich will dir helfen.“ Antons Augen waren nun weit aufgerissen, sein Oberkörper war über den Tisch gebeugt. Sein Blick erinnerte Thesha an den eines Kinderschänders.
„Und das weiß ich zu schätzen, aber ich muss nun wirklich los.“ Thesha versuchte ihre Hand wegzuziehen um aus Antons Griff zu entkommen. Zu ihrem Erstaunen gelang ihr das sogar. Als sie sich befreit hatte, lief sie rückwärts auf die Tür zu. Sie ließ Anton nicht aus den Augen, auch wenn dieser sich wieder entspannt zurücklehnte. Nachdem sie gegen die Tür stieß, drehte sie sich um und verließ den Raum.
Mittlerweile war es dunkel. Das half Thesha nicht gerade dabei, den Schock zu verarbeiten, den sie gerade erlitten hatte. Tatsächlich kannte sie Anton schon seit ihrer Geburt und wenn sie aktuell noch irgendwem vertraute, dann war er es. Dennoch war ihr das Gespräch gerade äußerst seltsam vorgekommen.
Langsam bewegte sie sich in Richtung des Ausganges. Dabei löste sie den Bewegungsmechanismus des Lichtes aus und der lange Flur erhellte. Die Türen vieler Klassenzimmer waren geöffnet. Nirgendwo war eine Spur von einem anderen Menschen, außer ihr und Anton, der hoffentlich in seinem Zimmer bleiben würde. Dann fing auch noch das Licht an zu flattern. Sie spürte wie sich ihre Muskeln verkrampften. Kein Problem, das Flackern hat doch rein gar nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich würde der Hausmeister sich gleich darum kümmern. Aber war der Hausmeister überhaupt im Gebäude? Thesha versuchte verzweifelt, weitere Fragen hinunterzuschlucken und ging weiter den, wie es schien, immer länger werdenden Flur entlang in Richtung des Ausganges.
Vor der Tür eines geöffneten Klassenzimmers blieb sie abrupt stehen. Sie spürte einen leichten Windstoß durch den Flur wehen, der ihr Haar flattern ließ. Ihr Blick war weiter nach vorne gerichtet, doch im linken Augenwinkel war sie sich sicher, in der Türschwelle des Klassenzimmers jemand stehen zu sehen. Nervös bewegte sie die Zehen an ihren Füßen auf und ab. Das hatte ihre Tante ihr empfohlen, um Nervositäten zu bekämpfen. Dann wandte sie ihren Kopf langsam nach links. In der Türschwelle stand niemand. Erleichtert atmete Thesa aus. Sie ging einen Schritt näher an das Klassenzimmer, um einen Blick in das Zimmer zu werfen. Direkt fiel ihr das Schild an der Wand vor dem Raum auf: R225
Der Raum sagte ihr etwas, doch sie wusste gerade nicht, was es war. Sie entschied sich dafür, doch keinen Blick hineinzuwerfen. Ihre Gedanken waren gerade zu sehr damit beschäftigt herauszufinden, woher sie diese Raumnummer kannte. Dabei folgte sie dem Gang in Richtung Ausgang.
In Raum 225 ertönte ein Klopfen, das sich langsam in ein Hämmern gegen einen Gegenstand aus Holz entwickelte. Thesha hörte dieses Geräusch nicht mehr. Sie war fast am Ausgang angelangt.
Kurz vor dem Ausgang hielt sie noch einmal abrupt an. Jetzt hörte sie ein Flüstern. Es kam ihr sogar so vor, als wenn jemand ihren Namen sagte. Wieder fiel ihr der aufkommende Wind auf. Hatte etwa jemand ein Fenster offen gelassen? Dieses Mal war der Wind sogar warm. Es fühlte sich an, als wenn es ein Atem war, der in ihren Nacken hauchte. Sie überlegte kurz, ob sie sich umdrehen sollte, doch sie traute sich nicht. Stattdessen entschied sie sich hinauszurennen, sich auf ihr Fahrrad zu schwingen und so schnell wie möglich nach Hause zu fahren, wo sie sich zugegebenermaßen auch nicht mehr sicher und schon gar nicht wohl fühlte.
Wie immer saß Carlo, der neue Freund ihrer Mutter, vor dem Fernseher. Seine Füße hatte er auf dem kleineren hölzernen Tisch abgelegt, der sich zwischen seinem Ledersessel und dem Röhrenfernseher befand. Neben seinen Füßen, die Thesha fast bis zur Haustür riechen konnte, standen drei leere Bierflaschen. Auf seinem dicken Bauch ließ er eine weitere balancieren.
Aus der Küche hörte Thesha das Geräusch derr Dunstabzugshaube. Ihre Mutter Linda war wohl wieder mit dem Kochen einer Mahlzeit beschäftigt, von der sie selber am wenigsten abbekommen würde. Sie überlegte, ob sie ihre Mutter begrüßen und ihr einen Kuss auf die Wange geben sollte, entschied sich dann aber doch für ihr übliches Vorgehen, sich unbemerkt in ihr Zimmer zu schleichen und die Tür hinter sich abzuschließen. Es war für sie noch immer nicht der richtige Zeitpunkt, sich einer anderen Person anzuvertrauen, auch wenn es sich bei der Person um ihre Mutter handelte.
Auf ihrem Bett befand sich ein aufgeklapptes Fotoalbum. Das hatte sie sicherlich nicht dorthin gelegt. Es war das Fotoalbum von ihren familiären Urlauben und Ausflügen. Direkt auf der ersten Seite fiel ihr das Foto mit ihrem Vater, ihrem Bruder und ihrer Mutter vor dem schiefen Turm von Pisa ins Auge. Ihr Vater hielt dabei ihren Bruder im Arm, wie er genüsslich an seinem Erdbeereis schleckte. Dieser musste zu dem Zeitpunkt ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Der Kamera schenkte er dabei keine große Aufmerksamkeit, im Gegensatz zu allen anderen Familienmitgliedern. Sie alle lächelten mit einem breiten Grinsen in die Kamera. In ihren eigenen Augen erkannte sie die pure Lebensfreude eines achtjährigen Kindes. Tatsächlich war sie damals sehr sehr glücklich. Als ihr das bewusst wurde, lief ihr eine Träne die Wange hinunter. Wie konnte ihr Leben nur so ins Negative abrutschen? Die Nachricht, die ihre Mutter ihr mit diesem Fotoalbum übermitteln wollte, war ihr klar. Sofort wollte sie sich aufrappeln, um endlich mal wieder mit ihrer Mutter zu sprechen.
Dann aber hörte sie, wie es im Erdgeschoss laut wurde. Zerbrochenes Glas, wahrscheinlich Bierflaschen. Vielleicht bräuchte ihre Mutter Hilfe. Doch bevor sie die Türklinke betätigen konnte, ließ ein Geistesblitz ein Gefühl von Übelkeit in ihr aufsteigen.
Sie schloss ihr Zimmer immer ab, auch wenn sie nicht Zuhause war, da sie nicht wollte, dass jemand in ihren Sachen herumschnüffelte. Ihr wurde schwindelig. Niemand konnte in ihrem Zimmer gewesen sein, es sei denn jemand hätte die Tür aufgebrochen, sie danach perfekt wieder eingesetzt oder wäre durch das Fenster geklettert. Beides hielt sie für unwahrscheinlich.
Langsam und mit einem quietschenden Geräusch öffnete sich ihre Schranktür. Daraufhin entglitt ihr ein lauter Schrei. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals lauter geschrien zu haben. Doch niemand befand sich im Schrank. Trotzdem konnte sie sich gerade nicht beruhigen. Sie rannte zu ihrem Bett und kauerte sich in ihre Bettdecke ein. Dabei hielt sie diese so stark fest, dass ihre Fingerkuppen weiß wurden.
Im Erdgeschoss wurde es derweilen still. Zu still. Was hatte das zu bedeuten? Dann hämmerte etwas gegen ihre Tür.
„Thesha du Schlampe, wie kannst du es wagen so laut zu schreien?“ Thesha erkannte die Stimme von Carlo.
„Nenn sie nicht Schlampe, du Mistkerl!“
„Du hast Recht, du bist ja die Schlampe hier in diesem Haus, du scheiß Fotze!“
Danach hörte Thesha ein klatschen, vermutlich eine Backpfeife. Kurz darauf wurde es noch lauter. Die Tür knallte, als wenn etwas dagegen geworfen wurde, ehe sich der Schlüssel wie von Geisterhand selbst drehte und die Tür sich öffnete. Ihre Mutter fiel hinein und landete auf dem blauen Teppichboden. Die zu Thesha liegende Gesichtshälfte war angeschwollen, aus ihrer Nase floss dunkles Blut.
Carlo betrat nun den Raum. An seiner rechten Hand klebte Blut und die Knöchel von Ring- und Mittelfinger waren dick. Er schaute Thesha an und schien völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass sich die Tür gerade geöffnet hatte und Thesha dort in ihrem Bett lag. Er ging auf Thesas Bett zu. Sein Mundwinkel wirkte verkrampft, in seinen Augen erkannte Thesha Zorn. Er hielt kurz vor Theshas Bett an. Das Blut von seiner Hand tropfte nun auf ihren Teppichboden. An seinem Unterhemd befand sich ebenfalls ein Blutfleck. Dann umklammerte er Theshas Hals. Sein Griff war kräftig, sie konnte nicht mehr atmen. Vor ihren Augen bildeten sich langsam Punkte und sie begann alles verschwommen zu sehen. Leise nahm sie das Geschrei und Weinen ihrer Mutter im Hintergrund wahr.
Dann flog Carlo plötzlich gegen die Wand. Schnell schnappte sie nach Luft. Als sie sich zur Wand umdrehen wollte, gegen die Carlo gerade geschmettert war, hörte sie ein Geräusch, das sich anhörte wie das Zerschlagen eines Eies, das man gegen eine Hauswand warf. Passend dazu platzte Carlos Kopf, genau in dem Moment, in dem Thesha ihn dort neben ihrem Bett vor der Zimmerwand wieder in ihrem Blickfeld hatte und Blut spritzt in alle Ecken seiner nahen Umgebung. Auch in Theshas Gesicht.
„Oh mein Gott, Thesha!“ Linda stand auf und rannte mit ausgestreckten Armen auf das Bett ihrer Tochter zu. „Geht es dir gut?“
Noch bevor Thesha irgendetwas erwidern konnte, umklammerte Linda die Brust von Thesha so fest sie konnte. Thesha gab dabei ein Glucksen von sich und antwortete leise „Ich kriege keine Luft.“
Sofort ließ Linda von ihr ab. „Tut mir leid.“
Mutter und Tochter starrten sich eine Weile in die Augen. Thesha bemerkte, wie Linda mit den Tränen kämpfte. Sie wollte wieder die starke Mutter spielen, das tat sie in der Gegenwart ihrer Tochter immer. Thesha sah das entsetzlich entstellte Gesicht ihrer Mutter nun genauer.
„Was hat er dir angetan?“, fragte Thesha.
„Ach, gar nichts.“
Zuerst wollte Thesha gereizt auf diese Frage reagieren doch dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter einfach nicht anders konnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sie so fest zu umarmen wie sie konnte. Das fühlte sich gut an. Das erste Mal seit langer Zeit spürte sie wieder diese körperliche Nähe zu einer Person. Kurz danach bemerkte Thesha, wie Tränen auf ihre Schulter purzelten. Ein Lächeln bildete sich auf Theshas Lippen und wenige Sekunden später brach auch sie in Tränen aus.
Nach einer Weile fiel ihr ein, dass sie ja nicht alleine im Zimmer sein konnten…
„Was zur Hölle ist gerade passiert?“, fragte Thesha während sie sich mit einer Hand die Tränen aus den rot angelaufenen Augen wisch.
Die Frage brachte auch Linda aus ihrer Ekstase. Gerade als sie ihren Mund öffnen wollte, unterbrach Thesha sie. „Hast du ihn gegen die Wand geschubst?“
„Ich bitte dich, hältst du mich für so stark?“
„Nein, aber was war es dann?“ Thesha spürte, wie ihr Herzschlag wieder schneller wurde. Tief im Inneren wusste sie die Antwort auf die Frage, doch ihr Gehirn kämpfte immer noch darum, logische Erklärungen zu finden.
„Du glaubst es mir wahrscheinlich nicht, aber es sah aus wie ein großer Schatten.“
Zu Theshas Überraschung reagierte ihr Körper gelassen auf diese Antwort. Vielleicht lag es auch daran, dass sie unter der Bettdecke ihre Zehen wieder auf und ab bewegte.
„Hattest du Angst?“
„Nein, er kam mir vertraut vor. Eine Weile kam es mir sogar so vor, als hätte er mit mir gesprochen.“
Linda nickte. „Wo ist eigentlich Julian?“
„Dein Bruder? Ich weiß es nicht. Er kam vorgestern nicht mehr aus der Schule. Ich habe ihn gestern nach achtundzwanzig Stunden als vermisst gemeldet. Eigentlich wollte ich dich noch fragen, ob du ihn in der Schule gesehen hast.“ Linda hielt sich nun die Hände vor das Gesicht „Aber du sprichst ja nie mit mir.“ Danach fing sie wieder an zu schluchzen.
„Tut mir leid, Mama“ sanft strich Thesha ihrer Mutter über die Schulter. Sie war gerade unheimlich sauer auf sich selbst. Wie konnte ich nur so egoistisch sein, dachte sie sich.
Über die Schulter ihrer Mutter fiel ihr wieder das Fotoalbum auf. Eine andere Seite war nun aufgeschlagen.
„Warte kurz, Mama. “
Sie kroch nun auf ihrem großen Himmelbett an ihrer Mutter vorbei und betrachtete die neue Seite. Fast wäre sie dabei vor Schock in Ohnmacht gefallen. Eigentlich war das komplette Fotoalbum voll, jetzt waren nur noch wenige Fotos dort drin. In der Mitter der aufgeschlagenen Seite sah sie ein Klassenfoto, das in einem Klassenraum im Jahre 1970 aufgenommen wurde. Sie sah noch in ihrem geistigen Auge vor sich, wie ihr Vater, während sie auf seinem Schoß saß, ihr gezeigt hatte wer ihre Eltern waren und was die anderen Mitschüler heute für Berufswege eingeschlagen hatten. „Zweite Reihe ganz links, mittlerweile Lehrer.“, sagte ihr Vater damals in einem strengen Tonfall. Dabei zeigte er auf Anton Gibberson, der heute Theshas Klassenlehrer war. Anton schaute mit einem ziemlich strengen Blick hinab auf Theshas Mutter, die eine Reihe vor ihm stand. Ein Arm rankte sich um sie, ausgehend von Theshas Vater, Mark. Das war ihr vorher noch nie aufgefallen, musste sie sich eingestehen. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Das Bild wurde vor einer Tafel aufgenommen. An ihr stand mit Kreide angemalt: Klasse 10a – Raum 225
Ringsherum verschönerten aufgemalte Blumen den Anblick. Ihr wurde warm und ihre Kehle schnürte sich zu. Sie hoffte, dass ihre Mutter keine Fragen stellen würde, denn sie war vermutlich gerade nicht in der Lage ihr zu antworten. Sie blätterte um. Auf jeder Seite befanden sich nur noch Fotos, auf denen ihr Bruder abgebildet war.
„Ruf die Polizei, Mama“, Thesha spürte, wie sie sich mit aller Kraft zusammenreißen musste, um etwas aus ihrer Kehle zu bringen und dabei gleichzeitig so ruhig wie möglich zu klingen.
„Wie bitte? Was ist denn los, Thesha?“
Doch Thesha antwortete nicht mehr. Sie sprang auf, verließ das Zimmer und rannte so schnell sie konnte die Treppe hinunter in Richtung der Eingangstür. Von oben hörte sie noch ihre Mutter rufen, die sich sogar hinunter auf die mittlere Stufe der Treppe gewagt hat, doch sie war gerade viel zu sehr in ihren Gedanken versunken, um genau zu verstehen, was sie sagte.
„Ich muss weg. Ruf dir am besten einen Krankenwagen und lege dich hin bis er da ist. Bitte überanstrenge dich nicht.“
Mit diesen Worten verließ sie das Haus, schloss die Eingangstür hinter sich und begab sich mit ihrem Fahrrad auf den Weg zur Schule. Dabei trat sie so stark in die Pedalen wie noch nie zuvor.
Als es nur noch wenige hundert Meter bis zu ihrer Schule waren entschied sie sich dafür, abzusteigen um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre Kleidung war für dieses Vorhaben schon einmal ideal. Am besten wäre es sogar, so dachte sie sich, wenn sie ihr Fahrrad irgendwo hinter einem Baum verstecken würde. Neben sich fand sie eine Reihe von Ulmen. Nicht das beste Versteck, doch sie ging davon aus, dass in der Dunkelheit niemand hinter einer Ulme nach einem Fahrrad suchen würde. Also legte sie es hinter der zu ihr am nächsten stehenden Ulme ab und bewegte sich in Richtung der Eingangstür. Dabei streifte sie sich ihre Kapuze über den Kopf und bewegte sich in einer Bewegung, die einer Mischung aus dem Gang einer gebückten Oma und dem Schleichen eines Taschendiebs des 17. Jahrhunderts erinnerte.
Natürlich war die Eingangstür abgeschlossen. Doch das ließ sie nicht aus der Ruhe bringen, damit hatte sie schon gerechnet. Also versuchte sie es mit ihrem zweiten Plan, die Schule nach einem offenen Fenster abzusuchen, obwohl auch das ihr unrealistisch erschien. Dabei kam in ihr ein Gefühl hoch, das sie nicht so recht verstand. Es kam ihr vor, als würde sie das erste Mal in ihrem Leben etwas Sinnvolles tun. Sie würde ihren Bruder aus den Klauen ihres verrückten Klassenlehrers befreien. Jedenfalls hoffte sie das. Worauf hätte sie das Fotoalbum sonst hinweisen sollen? Es war zweifelsohne ein Tipp von einer Person, die sie mehr liebte als alles andere auf dieser Welt. Eine Person, die nicht mehr auf diesem Planeten weilte. Und nun würde sie verhindern, dass ihr eine weitere Person genommen wird. Wenn es dafür nicht schon zu spät war.
Nachdem sie ungefähr fünf Minuten die rechte, geradlinig verlaufende Gebäudeseite abgelaufen war, stand tatsächlich ein Fenster offen. So offen, dass es fast einladend wirkte. Sie griff mit beiden Händen nach dem Fensterabsatz, zog sich ein paar Zentimeter hoch, um sich danach mit einem Fuß den Absatz hinauf zu drücken. Danach betrat sie das Gebäude durch das Fenster und musste feststellen, dass sie erwartet wurde.
Kurz nachdem sie dort in dem Raum stand, den sie als ein Klassenzimmer vermutete, ging das Licht an. Ihre Vermutung wurde bestätigt und darüber hinaus war es auch noch genau der Raum, den sie suchte. An der Tafel waren mit weißer Kreide Blumen angemalt. Die Blumen umkreisten einen Schriftzug: Klasse 10a – Raum 225.
Dann ertönte eine helle Stimme.
„Schönen guten Abend, Thesha. Zu so später Stunde noch in der Schule? Sehr vorbildlich.“ Ein Lachen ertönte.
Thesha wand ihren Kopf von der Tafel ab. Mit hin und her springenden Augen suchte sie den Raum ab, um den Ursprung der Stimme zu finden. Sie fand ihn vor einem Schrank, aus dessen geschlossener Tür Blut sickerte, in der ihr schräg gegenüber liegenden Ecke des Klassenzimmers. Sein gelbes Lacoste Hemd vermischte sich fast mit der ebenfalls gelb gestrichenen Wandfarbe des Klassenzimmers, so dass sie ihn zuerst an seiner blauen Jeans und den Blutflecken an seinen Klamotten erkannte. In seiner rechten Hand hielt er ein gezacktes Messer, von dem Blut auf den Laminatboden des Klassenzimmers tropfte. Instinktiv ging sie einen Schritt nach hinten. Aber mit jedem Schritt, den sie nach hinten ausweichte, kam er ihr näher. Seine Augen waren so ausdruckslos und undurchschaubar wie immer.
„Warum?“, fragte Thesha mit aller Mühe, ein Zittern in ihrer Stimme zu verhindern.
„Aber Thesha, hast du denn gar nichts gelernt? Du weißt doch, wie sehr mich solche kurzen Sätze auf die Palme bringen.“
„Wieso hast du sie getötet?“
„Sie? Du meinst deinen Vater und deinen Bruder?“ Er bewegte sich nun schneller auf Thesha zu, die mittlerweile an der Wand angelangt war und zu Boden sackte.
„Weil es Spaß gemacht hat.“ Antons Lächeln verschwand. Seine Augen weiteten sich und es wirkte auf Thesha so, als wenn sich ein Feuer darin entfacht hätte. Sie spürte, dass er nicht log. Aber das war noch nicht die volle Wahrheit, das wusste sie ebenfalls.
„Du hast meine Mutter geliebt, nicht wahr?“
Das Feuer aus Antons Augen verschwand. Auf seinen Lippen formte sich wieder ein Lächeln. „Ich hatte ganz vergessen, was für ein schlaues Mädchen du doch bist“ Er war jetzt nur noch eine Fußlänge von Thesha entfernt und bückte sich zu ihr hinunter. Er schaute ihr tief in die Augen. Nun war sein Gesicht so nah an ihrem, dass sie seinen Atem spüren konnte. „Ja, ich habe sie geliebt und dein verdammter Vater hat sie mir weggeschnappt.“ In seinen Augen spiegelte sich nun Qual. Es wirkte fast so, als müsste er mit den Tränen kämpfen. Noch nie hatte Thesha ihren Lehrer so emotionsvoll erlebt. „Ich habe deiner Mutter ständig gesagt wie sehr ich sie liebe, doch sie hat mich immer ignoriert. Ja, sie hat noch nicht einmal mit mir gesprochen. Kannst du dir vorstellen, wie schmerzhaft es für mich war, wenn ich gesehen habe wie sie und dein Vater sich geküsst haben? Und das jeden verdammten Morgen in unserem geliebten Klassenzimmer, eine Reihe vor mir? Es war unerträglich! Aber das Schlimmste war, als sie mir auf einmal gesagt hat, dass sie und Mark sich getrennt hätten, weil Mark ein Arschloch war und sie sich gerne mit mir im Café treffen wollte. So naiv wie ich war, habe ich ihr das natürlich geglaubt. Ich konnte vor unserem Treffen tagelang nicht schlafen und habe mir extra ein neues Hemd gekauft. Sogar Rosen habe ich ihr mitgebracht. Aber als sie dann da saß, saß neben ihr dein Vater und darüber hinaus noch unsere halbe Klasse. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr sie über mich gelacht haben.“ Antons Augen liefen rot an. „Zwar sind wir mittlerweile Freunde und sie hat sich entschuldigt, doch unsere Freundschaft diente mir nur zu einem Zweck.“ Er hielt einen Moment inne und rieb sich mit einem Taschentuch durch die Augen.“ Ich wollte herausfinden, was sie am meisten verletzten würde.“
Antons Gesichtsausdruck nahm langsam wieder seine gewöhnliche Ausdruckslosigkeit an. Er hob langsam das Messer und wedelte damit vor Theshas Augen, die dem Messer gebannt folgten, hin und her.
„Weißt du, was ich an gezackten Messer am liebsten mag? Sie verursachen noch gewaltige Schmerzen, bevor sie töten.“
Thesha fing an hysterisch zu atmen.“ Bitte Anton, nein. Ich habe dich immer gemocht!“
„Ich dich auch, Thesha. Eine Weile habe ich in dir sogar einen Ersatz für deine Mutter gesehen. Aber dann wurde mir klar, dass auch du sie nicht ersetzen kannst.“ Anton seufzte. „Ich muss dich töten. Genauso wie ich deinen Bruder und Vater getötet habe. Ihr müsst alle leiden.“ Mit jedem Wort wurde Antons Stimme lauter, sie hatte mittlerweile schon einen gewissen Nachhall in sich. „Eure ganze Familie muss leiden!“ Antons Gesicht lief rot an und seine Halsschlagader wurde dick.
„Papa, hilf mir!“, rief Thesha.
Anton fing an zu lachen. „Hast du diese romantische Geschichte mit deinem Vater wirklich geglaubt? Türen, die nachts bei dir auf und zu gehen? Ein Mann der plötzlich im Schatten deines Zimmers steht? Das war alles Carlo, meine Liebe. Er hat auch dafür gesorgt, dass dich dein Fotoalbum zu mir führt, damit ich dich ebenfalls töten kann. War leicht zu beeindrucken, der Idiot. Ein paar Hunderter, das hat gereicht. Bestimmt hat er das Geld mittlerweile wieder versoffen. Er hatte die ganze Zeit einen Ersatzschlüssel für dein Zimmer, das hat dir nur niemand erzählt. Kann mir gut vorstellen, dass er auf deine Unterwäsche onaniert hat, wenn du nicht da warst. Was er dabei natürlich nicht bedacht hat, ist, dass ich ihn auch aufschlitzen werde, wenn ich mit dir fertig bin. Immerhin hat deine Mutter ihn ja sogar lieber gefickt als mich!“
Thesha fühlte sich, als hätte sich all die Wärme und Zuversicht, die sie vor dem heutigen Zeitpunkt ewig nicht mehr erlebt hatte, innerhalb von wenigen Sekunden in Luft aufgelöst.
Sie schloss ihre Augen. Obwohl sie nicht sehen konnte was Anton, der mittlerweile auf ihren Brüsten saß und seine Geschlechtsteile genüsslich auf und ab bewegte, ansonsten mit ihr machte, spürte sie, wie er zu seinem ersten Stich ansetzte.
Doch bevor er zustechen konnte, wehte wieder ein Wind durch das Zimmer. Er war stärker als je zuvor. Sie hörte, wie das Fenster hinter ihr auf und zu sprang.
„Wo kommt der Wind her?“, fragte Anton.
Dann plötzlich wurde der Wind so stark, dass er Anton, der gerade aufspringen wollte, in vollem Tempo gegen die gegenüberliegende Wand prallen ließ. Thesha blieb davon unberührt, es wirkte so, als hätte hinter Antons Rücken jemand mit einem starken Laubbläser gestanden, der ihn wie ein Blatt weggeweht hatte. Anton prallte mit dem Kopf an die gelbe Wand des Klassenzimmers, die danach um einen roten Fleck bereichert wurde. Sein Kopf zersprang und zurück blieb nur sein lebloser Unterkörper.
Ein entsetzter Schrei entglitt Thesha.
Danach wurde es still. Auch der Wind hörte schlagartig auf zu wehen.
Thesha brauchte eine Weile um zu realisieren was gerade geschehen war, doch dann stand sie langsam auf. Sie ließ ihren Blick in dem Raum umherschweifen, der ihr nun auf einmal unendlich groß vorkam. Dabei blieb ihr Blick an dem Holzschrank in der Ecke stecken, aus dessen Rillen noch immer Blut tropfte. Langsam bewegte sie sich auf den Schrank zu, am ganzen Körper angespannt und gefasst auf das, was sie dort drinnen erwarten würde. Als sie mit feuchten Augen gerade die Tür öffnen wollte, hörte sie eine Stimme hinter sich.
„Thesha.“
Thesha spürte wie es urplötzlich eiskalt im Raum wurde. Es war, als hätte sie jemand mit einem kalten Eiswürfel im Nacken berührt. Ihre Kehle schnürte sich ein, sie bekam kaum noch Luft. Thesha erkannte die Stimme ihres Bruders.
Langsam drehte sie sich um und das, was sie dort sah, löste in ihr ein Feuerwerk von Gefühlen aus. Sie brach in Tränen aus, sowohl vor Freude als auch vor Trauer. Vor ihr stand ein kleiner Junge, mit schwarzen Haaren und einem blutdurchtränkten Iron Maiden T-Shirt. Sein Gesicht war blass und seine Mundwinkel waren so neutral, dass sie fast einem waagerechten Strich glichen. Thesha wollte zu ihm hinrennen und ihn umarmen, doch als sie bei ihm ankam war er verschwunden. Als hätte er sich in eine Staubwolke aufgelöst. Thesha fiel nun auf ihre Knie. Tränen kullerten ihre Wangen hinunter und tropften auf den Laminatboden.
„Es tut mir so leid.“ Thesha fasste sich mit ihren Händen ins Gesicht und weinte bitterlich. „Es tut mir so leid.“