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Der Schütze
Regungslos starrte Hydra ihn an. Er hatte ihn noch nicht entdeckt. Hydra hatte befürchtet, dass ihn die tief stehende Sonne verraten könnte. Aber er hatte Glück.
Die Person machte in Seelenruhe sein Training. Selbst die drei Gorillas, die auf ihn aufpassten, brachten Hydra nicht aus dem Konzept. Wenn er seinen Job gemacht hat, wäre er schon über alle Berge, bevor sie überhaupt in seine Nähe kommen würden.
Hydra hatte alles schon Tage vorher ausgekundschaftet. Er wusste alles, was er über diese Person wissen musste: Vormittags mähte er den Rasen, kümmerte sich um den Garten oder putzte sein Auto. Von zwölf bis dreizehn Uhr ging er in die Stadt, erst zum Lunch und hinterher an einer Eisdiele ein kleines Dessert – vier Kugeln Eis. Von vierzehn bis sechzehn Uhr macht er immer Sport. Unter der Aufsicht seiner Gorillas. Die Abende verbrachte er entweder im Kino, im Theater oder zuhause. Dort spielte er mit seinem Sohn Schach oder saß stundenlang vor dem Computer und checkte seine Börsenkurse und die Nachrichten.
Hydra hatte den Tagesablauf studiert und verinnerlicht. Jetzt saß er hier auf dem alten, verlassenen Hochhaus. Trotz der Entfernung konnte er das fette Schwein gut sehen. Es widerte ihn an, diesen Fleischkloß zu beobachten. Jetzt begann er auch noch, Kniebeugen zu machen. Hydra wunderte sich, dass diese Person überhaupt Knie hatte. Er hatte ihn mal beim zufälligen Spazieren gehen in kurzer Hose gesehen.
Hydra kannte ihn schon mehr als diese paar Tage. Nicht persönlich, aber von früheren Jobs, die Hydra erledigt hatte. Seine Arbeit war nicht billig, aber seine Klienten waren stets mit ihm zufrieden und bezahlten brav die Summe, die Hydra aufgerufen hatte. Reklamationen duldete Hydra nicht.
Er hatte sich auch darauf spezialisiert, seine Opfer in möglichst peinlicher Position oder Tätigkeit abzuschießen. Und so ein Fettkloß wie dieser war geradezu prädestiniert dazu, beim Sport dran glauben zu müssen. Peinlicher ging es nicht mehr.
Ein Lächeln huschte über Hydras Gesicht, als er daran denken musste.
Sein Opfer stützte sich jetzt bei einem seiner Gorillas ab. Er schien außer Atem zu sein. Dabei hatte er nicht mal mit seinem Trainingsprogramm angefangen.
„Da hat wohl einer beim Lunch zu viel gegessen“, dachte Hydra und sah gebannt durch den Zielsucher.
Aus knapp 100 Meter Entfernung konnte er dadurch sogar die Schweißperlen auf der Stirn erkennen. Sein Kumpel, der ihm das Zubehör organisiert hatte, hatte nicht gelogen. Das Teil hat zwar fünfzehntausend Euro gekostet, aber es war jeden Cent davon wert. Sein Opfer hatte plötzlich einen hochroten Kopf und keuchte. Nach fünfzehn Kniebeugen war er schon außer Atem – Hydra hatte jede einzelne mitgezählt. Am liebsten wäre er zu ihm gelaufen und hätte ihm gezeigt, wie man Kniebeugen richtig macht. Aber er durfte sich nicht selber verraten.
Weder seine Opfer noch seine Auftraggeber wussten, wie Hydra aussieht. Er arbeitete im Verborgenen. Hydra war ein Schatten, ein Phantom, ein Geist. Seine Aufträge bekam er anonym und die Bezahlung wurde über mehrere Konten auf sein richtiges Konto transferiert. In ganz seltenen Fällen ließ er seine Bezahlung in bar begleichen. Irgendeinen Dummkopf, der für ein paar Euro sein Honorar holte, fand er immer.
Sein Opfer stieß seinen Atem aus – es keuchte. Jetzt sprach dieses Fett-Monster mit seinem Gorilla. Dieser antwortete. Hören konnte Hydra es nicht.
Nach ein paar Sätzen setzte sich dieser Berg Fett in Bewegung. Dieser hässliche rote Trainingsanzug, in den sich diese Person gequetscht hatte, war ihm mindestens drei Nummern zu klein. Er schien nicht nur unsagbar fett zu sein. Er war auch noch geizig dazu.
Er schnaubte, bei dem, was nur entfernt an Joggen erinnerte, wie eine Dampflok. Schleichend langsam entfernte er sich von Hydra.
Hydra nutzte die Zeit und kontrollierte noch einmal sein Werkzeug. Das Magazin ist die geladen, sein Zielsucher ist scharf gestellt und das Fadenkreuz zielt genau auf seinen Kopf.
„Dreh dich schon um, du fettes Schwein“, bettelte Hydra in Gedanken.
Nach ein paar Minuten, die Hydra wie Stunden vorkamen, drehte sich sein Opfer um.
Sein Auftraggeber hatte verlangt, dass er ihn von vorne erwischt. Hydra hätte es eh nicht anders gemacht. Das war sein Markenzeichen und das wollte er nicht ändern.
Sein Opfer legte zufällig den Kopf ein wenig in den Nacken und starrte somit direkt in Hydras Fadenkreuz.
Er drückte gleich mehrmals ab. Sein Auftraggeber wird für diese Schüsse sehr dankbar sein.