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Der Schößling
Immer, wenn der kleine Franklin sich nach vorne neigte, brodelte und rumorte es in seiner Magengegend. Das ging noch nicht lange so, vielleicht seit etwa einer halben Stunde, nur konnte er es gerade jetzt beim gebückten Griff in den Kühlschrank wieder klarer erkennen und stellte nun also mit einiger Verwunderung fest, dass sich da irgendetwas tief in ihm drinnen anders verhielt als sonst. Beinahe war es, als buhlte dort etwas um Aufmerksamkeit, als hätte sich etwas eingenistet und würde auf seltsame Weise von innen heraus Anspruch auf ihn erheben. Natürlich wog er das Ausmaß jener inneren Veränderungen ab, schüttelte sich und legte sich auf den Rücken, nur half es alles nichts und konnte er beim besten Willen nun auch nicht mehr irren: Irgendetwas breitete sich da in ihm aus und es fühlte sich gar nicht gut an.
Bald blubberte es, wie eine köchelnde Suppe, und bald war es auch, als werfe es sich roh und klumpig von innen an die flächige Bauchwand. Und wahrlich schien der Begriff der Fläche hier angebracht, denn der kleine Franklin war ein richtiger, ein kleiner Pummel, ein offensichtlich überernährtes Lausebalg und Mutterknuffelchen und nicht zu knapp also ward seine Haut bereits gedehnt und strapaziert und schien gerade in den letzten Minuten immer mehr noch an fleischigem Inhalt verwalten zu müssen. Und als es nun auch in regelmäßigem Abstande begann zu zerren und zu stechen, so schob sich also die eine oder andere Hautschicht auf seiner Stirn zu einigen Falten der Unruhe zusammen und verlieh damit dem sonst zwar fülligen, jedoch durchaus kindlich harmonischen Gesichtszug eine erwachsene Schärfe.
“Mama...“, fing er jetzt vorsichtig an in sich hinein zu brabbeln -
“Mama, Mama...”, als bedürfe er jenes Kosewortes frühkindlicher Geborgenheit zunächst als einer Art Formel zur Verständigung mit sich selber, zur ausdrücklichen Vergegenwärtigung der eigenen, sich anbahnenden misslichen Lage.
“Mama. Mama,...Mama…”, sagte er immer wieder, wobei seine Stimme mit jeder geäußerten Silbe zusehends zittriger wurde und er nun auch begann dem Kosewort eine entsprechende Lautstärke beizumessen, die endlich auch eine unmittelbare Adressierbarkeit ermöglichte –
„Mama!“
Die Mama pflegte zur fortgeschrittenen Stunde des gewöhnlichen Sonntagnachmittags sich vom seichten Unterhaltungsprogramm der wohnzimmerschen Mattscheibe berieseln zu lassen und eilte unversehens ihrem Schößling herzu, zumal sie anhand der Frequenz seiner Stimme eine gewisse Ernsthaftigkeit auszumachen glaubte. Und auch die schwerhörige Oma, die sich gerade im Bad für den abendlichen Ausgang mit dem Hund bereitete, wurde nun hellhörig, denn das Gerenne im Flur versetzte das Haus in einige ungewöhnliche Vibration. Das Gefiepe des Enkelkindes vermochte sie nicht zu vernehmen, aber irgendetwas war jetzt hier und so eilte sie hinterdrein.
Als die Mama in die Küche platzte, staunte sie nicht schlecht, denn nie hatte sie das Kind in einem solchen Zustand der völligen Starre, nie ein derlei bleiches Gesicht gesehen. Wie einzementiert stand der gute Franklin da, vor der offenen Kühlschranktür – mit beiden Händen hielt er sich den angeschwollenen Bauch, als wolle er dem Einhalt gebieten, was dort offensichtlich in ihm vorwärts drang.
„Mama, Mama. Mama!“, rief er immer wieder und obgleich die Mama doch längst vor ihm stand, ließ er nicht ab vom Kosewort und rollte nervös mit den Augen. Die Mama ihrerseits schlug die Hände über dem Kopf zusammen und war so perplex von jenem gar gruseligen Anblick, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte und selber in eine Art Starre verfiel, kein Vor und kein Zurück mehr wusste. Wär der Papa jetzt hier gewesen, er hätte ganz bestimmt einen kühlen Kopf bewahrt und kurzen Prozess – in welche Richtung auch immer – gemacht. Doch hatte der Papa die Familie vor einigen Jahren verlassen – in welche Richtung auch immer.
Als die Oma die Schwelle zur Küche übertrat, wär sie beinahe über den Hund gestolpert, der es nicht selten pflegte den Leuten vor die Beine zu laufen, sie schwanzwedelnd zu umspielen und zu tunneln. Das hatte nicht die Grazie einer Katze, aber ähnelte im mechanischen Ablaufe doch bereits recht auffällig seinem augenscheinlichen Vorbild, obgleich gewiss um einiges aufgeregter, zuckender. Hunde tragen immer auch etwas nervöse Vorfreude auf der hechelnden Zunge und das sollte an jenem Tage gewiss nicht anders sein. Die Oma aber konnte sich fangen und stieß einen jaulenden Laut des Entsetzens aus, als sie den armen Franklin erblickte, - wie er dort stand, mit stetig wachsendem Bauchumfang und zitternden Gliedmaßen. An seinen Mundbewegungen konnte sie lesen, wie er, scheinbar gebetartig, abwechselnd nach der Mama nunmehr wie entartet schrie, um dann den Kosenamen wieder und wieder nur leise vor sich hinzumurmeln.
Und da ging es los. Und beinahe war es, als wüsste Franklin bereits was ihm nun gebühre, was ihn unausweichlich nun ereilen würde. Der Schrecken und die böse Vorahnung waren jetzt derartigen Ausmaßes, dass er seltsamerweise allmählich immer ruhiger wurde und nach und nach auch von dem mittlerweile leerlaufenden Gebrabbel und Gestammel ließ. Sekunden nur noch konnte es dauern und klar – jetzt blieb ihm nichts, als zu akzeptieren, es einfach geschehen zu lassen. Er wusste es, er wusste was passieren würde, stand jedoch völlig hilflos in der Küche herum und seine Augen blähten sich auf, zu zwei silbernen Kugeln erhöhten sie sich, und es tat auch gar nicht weh, als seine Bauchdecke sich vom ganzen Druck befreite und mit einem klatschenden Ruck auseinander ging wie ein mit Wasser gefülltes Kissen. Vom Schwunge der Entladung flatterten die noch lose am Körper baumelnden Hautfetzen nach allen Richtungen und ließen somit die rote, klumpige Masse gewähren, die sich nun in einem Schwall auf den Boden ergoss. Wie eine Hülle stand der Junge nur noch da, wedelte mit den Händen, aber spürte noch immer keinen wirklichen Schmerz, nur eben diese seltsame Form der Entlastung, dieses Loslassen, die Befreiung - wie sein Kinderkörper sich bei vollem Bewusstsein vor ihm aufdröselte und sein Innerstes entlud. Wie eine springende Schallplatte stand er da, seine fuchtelnden Arme rissen gleichmäßig Löcher in die Luft und seine silbrigen, übergroßen Augen ließen unsichere Blicke an willkürlichen Stellen im Raum, an den Wänden, Punkten an der Tapete, am Kühlschrank, zerschellen und verenden - und da war nicht eine Träne.
Die Mama schaltete am schnellsten und nichts blieb ihr übrig. Schluchzend warf sie sich ihrem zittrigen Schößling entgegen und drückte ihn ganz fest an sich, ganz ganz fest und ihre Lippen auf seine kalte Stirn. Ein wenig überdeckte ihre Nähe gar die klaffende Wunde und als ihre vom Schock zerzausten Haare von oben wie ein Vorhang ihm ums Gesicht und auf die Schultern fielen, da war es fast, als hörte es ein wenig auf, aus ihm heraus zu tröppeln. Sie hielt ihn fest und übertrug ihm ihre Wärme und heulte auch ein wenig und legte ihm die Hände auf die feisten, armen Kinderwangen und setzte ihre Stirn an seine Stirn und wusste und wusste nicht weiter. Der Hund bellte und konnte nur mit dem Schwanz wedeln, die Oma hingegen ward verschwunden.
Einige Sekunden nur hielt sich dieses Bild, als der Junge mit einem Ruck die Arme flach am Körper entlang nach unten stemmte, um die Hände zu zwei prallen Fäusten zu verkrampfen. Da zeigte auch die Mama eine Regung, hob ihren Kopf, sodass sich der Vorhang auf dem Gesichte des Sohnemannes wieder lichtete und sah, wie langsam sich die Hautschichten in den feisten Zügen wie pressend ineinander schoben und der ganze Kopf zu köcheln begann. Sein Gesicht ward wie ein Knäuel; ineinander gekräuselt verharrte es an jener Position, bis es sich kurz nur entspannte und auflud, sich zu reorganisieren und schließlich neu noch anzusetzen, nach noch mehr Kraft und Krampf zu ringen und da war es endlich, als hätte er die letzte große Last in sich gefügig gemacht.
Als sein Gedärm wie ein in sich gefalteter, zappelnder Aal auf den Boden flatschte, schienen ihm die Augen wie zwei angelaufene Geleekugeln aus dem Hohlraum zu quellen und eine knochige Leere zu hinterlassen. Da war nichts mehr, was es zu sehen gab, als sich das verklebte Gekröse allmählich wie ein sich lösender Schwitzkasten zu Füßen der Mama entkräuselte. Der Hund wedelte teilnahmslos mit dem Schwanz, begann dann aber scheu, obgleich durchaus ambitioniert, an dem fleischigen Inhalt zu schnuppern und kurz darauf seine pelzige Zunge am schimmernd-benetzten Gewebe zu wetzen.
Und da war auch schon wieder die Oma und wie eine silberne Fee, als wäre sie aus Franklins zerfließendem Aug‘ entsprungen, kam sie mit einem Stapel Kerzen unter dem Arm hereingeweht und eine der Kerzen stellte sie auf die alte Küchenzeile und eine weitere auf den Kühlschrank, flugs eine auch auf den Küchentisch und eine auf den Boden. Dann kniete sie sich nieder, betrachtete die Beschaffenheit des Sterins, schlug ein Streichholz an die raue Fläche der Schachtel und führte vorsichtig die Flamme an den Docht, sodass nur einen Augenblick später der warme Kegel weich und flackernd um ihre faltigen Züge strich.