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Der Sarkophag

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03.11.2001
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Der Sarkophag

Der Sarkophag

Der Sarkophag war schlicht. Er war aus einem mächtigen Granitblock herausgearbeitet worden und Sam schätzte, dass er bestimmt einige Tonnen wog. Die Seitenflächen waren glatt poliert und von einem seltsam dunklen Glanz angehaucht. Der Felssockel, auf dem der Sarkophag stand, war schätzungsweise einen halben Meter hoch, sodass sich die steinerne Deckplatte ungefähr auf Sams Augenhöhe befand. Sie war von der selben Machart wie der übrige Sarkophag und lastete mit ihrem Gewicht schwer auf dem Grab. Sam konnte keine Verzierungen oder der gleichen erkennen. Seine Augen waren starr auf den Stein gerichtet, nahmen diesen seltsam düsteren Glanz wahr, der Sams Sinne überflutete und keinen anderen Gedanken, keine andere Sinnesregung zuließ. Er fühlte sich wie im Traum, der Sarkophag verschwamm vor seinen Augen, wurde bald größer, bald kleiner. Ihm war schwindelig, er hatte das Gefühl, die Grenzen würden verschwimmen, auf einmal war er ganz klein und der Stein vor ihm wuchs zu gigantischer Größe, wie ein riesiges schwarzes Felsmassiv, das nie ein Mensch erklommen hat. In der nächsten Sekunde schaute er in einen Abgrund, tiefer als alles, was er je gesehen hatte, und ganz unten am Grund, hunderte von Kilometern entfernt, da sah er ihn und mit ihm seinen fürchterlichen Glanz. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, eins zu sein mit dem steinernen Sarg, es gab kein Hier und kein Dort mehr, alles war gleich.

„Hey, Sam, was ist los?“, rief Greg. Wie von einem Blitzschlag getroffen, erwachte Sam aus seiner Trance. Die Trugbilder verschwanden so plötzlich wie sie gekommen waren. Was war nur los mit ihm? Seit letzter Woche fühlte er sich seltsam verändert, so als ob er von Zeit zu Zeit träumen würde. Er versuchte, sich zu orientieren. Der Sarkophag stand, wo er schon seit Jahrhunderten stand, in der schmalen Kammer etwa zehn Meter unter dem Hochaltar. Die Kammer, die nur wenig breiter als der Sarkophag selbst war, und gerade mal für eine Person Platz bot, war erst letzte Woche entdeckt worden. Bei Restaurierungsarbeiten an der Krypta stieß ein Arbeiter auf den zugeschütteten Eingang zur Grabkammer. Dieser bestand im Wesentlichen aus einem schmalen Treppengang, der in den Felsen gehauen war und in einen engen Raum, direkt unter der Krypta, führte. Dieser Gang war vor Jahrhunderten mit Schutt und zerbrochenen alten Lehmziegeln zugeschüttet und mit einer Bodenplatte bedeckt worden. Seit unerdenklichen Zeiten sind Mönche und Pilger darüber gelaufen ohne von dem Gang und der Kammer etwas zu ahnen. In der Mitte dieses Raumes stand der Sarkophag. Sam konnte sich noch gut daran erinnern, wie er zum ersten Mal sprachlos und mit offenem Mund vor ihm gestanden hatte. So ein Glücksfall erlebt man als Archäologe nur einmal, darin waren sich er und sein Assistent Greg einig.

„Hey, Sam!“ rief Greg jetzt lauter. Sam erwachte nun vollends aus seinem düsteren Dämmerzustand. „Nichts. Alles okay. War nur in Gedanken!“, beeilte er sich zu sagen. „Ich wollte Feierabend machen, und du solltest auch bald nach Hause gehen. Du arbeitest viel zu viel. Das Kartografieren kannst du auch mir überlassen“, sagte Greg und schaute seinen Chef streng an. „Ja, ja, ich weiß. Ich gehe auch gleich. Bis Morgen!“ „Bis Morgen!“, verabschiedete sich Greg und lief den düsteren Gang nach oben. Seine Schritte hallten seltsam dumpf in der Kammer wieder und schienen sich im Unendlichen zu verlieren. Von der Öffnung des Ganges in der Krypta schien ein schwaches silbernes Licht herunter, fast wie Mondlicht, das sich in sternenklarer Nacht auf uralten Grabplatten bricht.

Sam war erleichtert. Endlich wieder allein. Allein bei seinem Schatz. Er lauschte. Kein noch so leises Geräusch drang an sein Ohr. Es war totenstill. Ihm kamen wieder dieselben Gedanken in den Kopf, mit denen er sich schon seit einer Woche rumquälte, sich das Gehirn bis in die letzte Synapse zerfaserte und auf die er keine Antwort fand.
Warum wurde die Grabkammer an einem so ungewöhnlichen Ort angelegt, so tief unter der Krypta? Warum der schmale Zugang zur Kammer, der wie eine Kellertreppe unter die Krypta führte? Warum wurde er verschüttet und mit einer Bodenplatte abgedeckt, die den anderen Platten aufs Haar glich, ohne eine Inschrift oder dergleichen. Von wem wurde die Kammer angelegt? Und wann? Warum findet sich kein einziger Hinweis in den alten Kirchenbüchern?

Sam traf die Frage wie ein Donnergrollen von weit her, dass ein nahendes Unwetter ankündigt: WER liegt in dem Sarkophag? Diese Frage hatte Sam immer wieder verdrängt. Aber jetzt kam sie ihm in den Sinn, biss ihm mit scharfen Zähnen ins Hirn und ließ ihn nicht mehr los. „Wer bist du?“ flüsterte er in den düsteren Raum ohne sich dessen bewusst zu sein. Wen musste man so tief begraben und vergessen? So sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, er fand keine auch nur einigermaßen passende Antwort. Vor wem hatte man soviel Angst gehabt, Angst, dass er... Sam lief es eiskalt den Rücken herunter. Wer es auch immer war, Sam war jetzt alleine mit ihm.
Er verlor jedes Zeitgefühl, vielleicht stand er schon seit Jahren oder Jahrhunderten hier, vielleicht aber auch erst seit ein paar Sekunden. Aber das war auch nicht wichtig. „Zeit gibt es in der Welt draußen, nicht hier unten. Hier ist keine Zeit.“ Sam starrte den Sarkophag mit weit aufgerissenen Augen an, starrte den schwarzen Stein an. Er hatte das Gefühl zu schweben, durch Raum und Zeit zu fliegen. Und der Raum durch den er flog war so groß wie ein Universum und das Universum war ... war die Grabkammer. Und der Sarkophag war das Zentrum des Universums, der Sinn des Universums. Und er fiel in die Finsternis im Zentrum des Universums, in die Finsternis, die kein Lichtstrahl zu erhellen wagt, und fiel, und fiel... Die Finsternis legte sich um ihn, griff nach ihm mit gierigen Klauen, durchdrang ihn, webte sich in jede Zelle seines Körpers und wurde eins mit ihm, indem sie seine Existenz total und endgültig verneinte.
Sam machte die Augen auf. Seine Lider waren so schwer, dass er seinen ganzen Willen aufbringen musste, um sie offen zu halten. Er schaute sich in der Kammer um. „Nein! Das kann nicht sein!“, stöhnte er. Der Sarkophag schien seine Stimme zu verschlingen, als ob niemand sie hören dürfe. „Diese Kammer...Nein...Ich...der Sarkophag...“ Er presste sich, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, mit dem Rücken an die Wand. Ihm wurde wieder schwindelig. Der Sarkophag drehte sich vor seinen Augen und er verlor das Bewusstsein für Oben und Unten.
Sam konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen und trotzdem war ihm jetzt alles bewusst. Etwas war hier geschehen, etwas, dass über seine Vorstellungskraft hinaus ging. Niemand hatte hier jemanden beerdigt. Der Sarkophag war schon VOR der Kammer und dem Gang dort. Jemand hatte ihn gesucht und gefunden. Die Kammer war um den Sarkophag herumgegraben worden.

Sam war schwarz vor Augen, noch ein paar Sekunden und er würde ohnmächtig werden, vor Angst den Verstand verlieren. Aber die Ohnmacht kam nicht, sie wurde ihm nicht gegönnt.
Er war nicht mehr in der Welt, er brauchte keine Logik mehr, keine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, keine Zeit. Der Sarkophag war schon immer hier, er war...Etwas riss. Etwas in Sam Seele riss unwiederbringlich entzwei. Vielleicht war es der letzte Rest seines Verstandes oder die verkümmerte Hoffnung in einem bösen Alptraum gefangen zu sein. Sam Seele war schutzlos und nackt dem ewigen Grab ausgeliefert, das sie mit seiner Finsternis anschrie.
Der Sarkophag war offen.
Zwischen Grabplatte und Sarkophag klaffte ein großer Spalt. Sam nahm es gleichgültig hin. Er folgte dem Befehl und näherte sich mechanisch langsam dem Grab. Die Dunkelheit in seinem Inneren war schwärzer als die tiefste Finsternis, drohend und vernichtend. Sie befahl Sam, näher, immer näher zu kommen. Er folgte willenlos.

Sam blickte in den Sarkophag.

Ihre Blicke trafen sich.

Oliver, November 2001

 

Hey, wirklich gut!
Ließ sich spannend und flüssig lesen. Wie ich erkennen kann, bist du ein Freund der offenen Enden, oder?
Auf jeden Fall wirklich gut.

 

Vielen Dank! Das offene Ende lädt zum gruseligen Grübeln ein... :)

 

Jo, fand ich auch gut.
Erzeugt beim Lesen so was nettes Düsteres! :D
Allerdings hatte ich kurz mal Probleme mit den verschachtelten Sätzen.
Äh, und zum Schluss war es beim ersten Lesen leicht verworren, aber das liegt sicher an meinem tüddeligen Tag.
:rolleyes:
Muss der Satz nicht so

Sams Seele war schutzlos und nackt dem ewigen Grab ausgeliefert, das ihn mit seiner Finsternis anschrie.
heissen,
oder habe ich da mal wieder was nicht kapiert?
Ansonsten kann ich nur sagen, super, klasse, weiter so! :thumbsup:

Grüsele,
Maja.

 

@JumpinBedBug: Vielen Dank für Dein Lob! Das "sie" in dem Satz bezieht sich auf Sams Seele (wie sagt man, äh, Akkusativobjekt, oder so?). :rolleyes:
Das mit dem verschachtelten Sätzen ist mir schon in der Schule immer nachgesagt worden...
Gruß
Oliver
;)

 

Die Geschichte ist ausführlich erzählt, der Schreibstil wirkt ziemlich professionell, trotzdem ist es schade dass die Geschichte dann abbricht, wenn es richtig spannend wird. :cool:

 

Gute Story!

Erinnert mich - und das ist jetzt ein Lob auch wenn's auf den ersten Blick nicht so aussieht - ein wenig an die alten Gespenstergeschichten-Comics.

Stilistisch habe ich (es geschehen noch Zeichen und Wunder) kaum etwas auszusetzen. Nur eine Sache: Bitte quetsche die Dialoge nicht in einen Absatz. Das liest sich schrecklich. Jeder Dialog hat eine eigene Zeile verdient. Dann weiß ich immer, wer gerade redet und Du must das nicht dauernd mit einem "sagte derunder" erklären.

Inhaltlich muss ich aber mäkeln: Die Story ist zu kurz. Idee gut, Ausführung gut, Länge ungenügend. Der Leser kann sich nicht mit Sam identifizieren (er ist Archäologe und mehr weiß ich von ihm nicht, was ihn weder sympathisch noch seine Handlungen in irgendeiner Weise nachvollziehbar macht) und aus diesem Grund kommt der Horror nicht so rüber, wie er rüberkommen könnte. Normalerweise schreie ich ja ständig "kürzen" (die meisten Storys sind mit einer Menge unnützem Zeug gefüllt) aber hier muß ich ausnahmsweise mal eine Streckung fordern. Wer ist Sam? Was macht er da? Wo kommt er her?

 

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