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Der Sandsack
Der Tag, an dem die Flut kam, war auch der Tag an dem der Port gelegt werden sollte. Die Ärzte hatten mir direkt gesagt, dass meine Venen zu zart seien und es einfacher ist, die Chemo über den Port zu geben. Auch diese Information nahm ich hin, wie alle anderen, die ich seit der Diagnosestellung drei Wochen zuvor, hinnahm. Es rauschte alles nur noch an mir vorbei, so wie die Unmengen von Wasser, die an diesen zwei Sommertagen unsere Städte und Dörfer fluten sollten. Am Vortag hatte es stundenlangen Starkregen gegeben und die Lage war durch die bereits überlaufenden Talsperren, Bäche, Rückhaltebecken und eben unseren namensgebenden Fluss, sehr angespannt. All das nahm ich auf, aber meine Gedanken waren auch bei meiner ersten OP am Folgetag. Der Termin für den Eingriff war auf 8h30 im nächsten Kreiskrankenhaus angesetzt. Der Taxifahrer war mir gleich auf Anhieb unsympathisch. Er stank am frühen Morgen nach Nikotin und fuhr zu schnell durch unsere Kleinstadt. Beides für mich ein No-Go! Smalltalk brauchte ich mit dem Typ definitiv nicht. Nach kurzer Zeit meldete sich die Zentrale per Funk. Wir sollen auf keinen Fall die übliche Strecke nehmen, da sei alles dicht, stattdessen eine andere über die Autobahn. Daraufhin tickte der Fahrer zum ersten Mal richtig aus und meinte: „Wegen so ein bisschen Wasser und überhaupt..was für eine Scheiße!“ Wir fuhren also Richtung Autobahn und standen schnell im Stau. Der Fahrer hatte sich mittlerweile in einen rot angelaufenen Choleriker entwickelt, der nur noch fluchte oder das Taxi verließ, um eine weitere Zigarette zu rauchen. Stinkend kam er nach einer Weile wieder zurück und ignorierte mich komplett. Ich bat ihn, sich zu beruhigen. Immerhin sei ich sein Krankentransport mit Krebs, auf dem Weg zu seiner OP und dass er nicht wirklich zu meiner Ruhefindung beitragen würde. War ihm natürlich egal! Nach ca. einer Stunde kam dann ein Polizist, um uns mitzuteilen, dass alle Zufahrtsstraßen blockiert seien und wir umdrehen müssten. Bei mir Erleichterung ( auch dass meine Blase bis dahin gehalten hatte) , bei ihm natürlich ein weiterer Grund auszuflippen. Auf dem Weg zur Ausfahrt, nahm er dann noch einem LKW Fahrer die Vorfahrt. Die Krönung dieser Horrorfahrt war aber, als er sich spuckend und geifernd zu mir umdrehte und den LKW Fahrer laut brüllend mit allen möglichen Schimpftiraden titulierte. Für mich Anlass, ihm mitzuteilen, dass er das Taxifahren besser sein lassen sollte und ich nie wieder mit ihm fahren werde. Er setzte mich nach weiteren fünfzehn Minuten zu Hause ab und ich verließ wortlos und erleichtert das Taxi.
Am nächsten Tag kamen immer mehr Nachrichten über das Wasser. Einige Ortsteile waren schon überflutet und es wurde dringend Hilfe benötigt. Ich schickte also meinen starken, hilfsbereiten Sohn auf den Marktplatz, wo er mit Freunden und vielen anderen Freiwilligen Sand in Sandsäcke füllte. RTL und sogar ein Korrespondent der New York Times waren zugegen und berichteten unter anderem auch von dieser Hilfsaktion. Ein Foto von einer vollgelaufenen Kiesgrube, in der man Häuser, Autos und Teile der Autobahn sah, war viral gegangen. Mein Sohn war abends in den Nachrichten und ich, an der das ganze Leben nur noch vorbeischwamm, war trotz der schlimmen Ereignisse, stolz auf ihren zupackenden Sohn.
Am Folgetag tauchten andere Bilder auf, die erst das ganze Ausmaß der Katastrophe zeigten. Bilder aus Hubschraubern, Drohnen und von Brücken. Die Brücke, die über die Bundesstraße führt, die ich zwei Tage zuvor auf dem normalen Weg ins Krankenhaus genommen hätte. Das DHL Auto , dessen gelbes Dach aus dem braunen Wasser rausschaut. Ein LKW plus Auflader, dessen Fahrerhaus überflutet ist, der weiße Kurierfahrer und ein Taxischild, dass noch soeben aus den Wassermassen herausschaut .Dieses Bild einer überfluteten Bundesstraße mit Autos, die eventuell noch komplett unter Wasser stehen, kann ich in diesem Moment noch nicht greifen. Immer noch bin ich einer Seifenblase, im luftleeren Raum, nicht fassen könnend, was wenige Wochen zuvor, mein ganzes Leben und das meiner Angehörigen verändert hatte.
Vier Tage später ist mein neuer Termin, für die Verlegung meines Ports. Ich wurde erstmal in einem Zimmer auf der Geburtsstation vorbereitet und musste dann noch aufgrund eines Kaiserschnitts auf meinen Eingriff warten. Die Schreie der Gebärenden ging mir durch Mark und Bein und ich dachte auch wieder an die Flut, und hoffte, dass die werdenden Mütter noch ein intaktes zu Hause hatten. Irgendwann wurde ich dann incl. Bett von zwei Schwestern abgeholt und in den OP gebracht. Auf dem Weg sagte dann die eine Schwester zur anderen auf einmal, ob sie auch den Sandsack dabei habe. Geprägt von den Ereignissen der letzten Tage, ging bei mir sofort das Kopfkino los. Sandsack ??? Was wollen die jetzt mit einem Sandsack? Dringt irgendwo Wasser ins Krankenhaus und sie müssen noch schnell was dicht machen? Alles war möglich, aber irgendwie auch seltsam und völlig absurd. Tausend Fragen begleiteten meinen Weg in den OP Saal. Dort angekommen wurde ich aber durch die Routinehandlungen der Pfleger und Ärzte abgelenkt und alles ging seinen Gang. Eine sehr kompetente Chirurgin setzte mir meinen wunderbaren Port. Ich wurde zum Wachwerden wieder in das Zimmer gebracht und irgendwann kam ein netter junger Pfleger: „Hier ist noch der Sandsack, legen Sie ihn bitte auf den Port, damit die Stelle nicht anschwillt“, verließ er den Raum. Ich betrachtete das kleine braune Ledersäckchen und musste erstmal laut lachen!