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Der Sammler
Verloren in der Dunkelheit
Russell’s Brust brannte in dem Feuer, das seine Lungen schürten und sein Herz pumpte sein Blut mit solch unnachgiebigem Druck durch seinen Körper, das seine Ohren das Rauschen des strömenden Regens nicht mehr von seiner Blutzirkulation unterscheiden konnten. Es gelang ihm nur knapp und mit mehr Glück als Verstand aus dieser modrigen Holzhütte zu entkommen und er wusste, dass er noch lange nicht in Sicherheit war. Der angrenzende Wald, der die Hütte umgab, war so dicht bewachsen, das er selbst am Tag bei guten Sichtverhältnissen Schwierigkeiten gehabt hätte, sich zu orientieren. Die undurchdringliche Schwärze der Nacht und der enorme Niederschlag verweigerten ihm eine klare Sicht und nur wenn der Sturm über ihm einen Blitz Richtung Erde entsandte war es ihm vergönnt, seine Umgebung für den Bruchteil einer Sekunde deutlicher wahr zu nehmen. Außer den Blitzen am Horizont war das einzige, das seinen Augen half, die Dunkelheit zu durchdringen, der fahle Schein des Mondes, der zumindest die Silhouette des Waldes am Horiont zum Vorschein brachte. Als er nach einem weiteren Blitzstrahl erneut versuchte sich zu Recht zu finden, befiel ihn plötzlich ein Gefühl von Schwäche und seine Knie gaben nach. Er suchte Halt an einem der Bäume, glitt an diesem mit dem Rücken an den Stamm gelehnt in die Hocke und fasste sich an den rechten Oberbauch.
„Dieser Dreckskerl hat mich gut erwischt. Ich hab keine Ahnung wie lange ich hier draußen noch durch halten kann. Wenn ich mir nicht schnell was einfallen lasse, war’s das für mich.“
Zum ersten Mal, seit dieses grässliche Monstrum in sein Fleisch geschnitten hatte, spürte er den brennenden Schmerz, der von der Wunde ausging.
„Entweder das Adrenalin fährt runter oder die Lokalanästhesie, die mir dieser Metzger verpasst hat lässt nach.“
Eine Rast war ihm trotz seiner Verletzung nicht vergönnt, denn die Chance, dass ihn sein Verfolger bald einholen würde, stand gut. Der Regen, der erbarmungslos durch das Geäst über ihm auf den Boden des Waldes fiel, machte es ihm unmöglich, andere Geräusche in der Umgebung auszumachen. Die Lautstärke war so extrem, das er seinen Peiniger wahrscheinlich nicht einmal hören würde, wenn er direkt hinter ihm stünde, bereit, sein Werk zu vollenden. Er wusste, wer ihn verfolgte. Und deswegen wusste er auch, dass er in massiven Schwierigkeiten steckte.
Seit Monaten versetzte eine Serie grausamer Morde die Kleinstadt Brownsville in Angst und Schrecken. Zwischen den Opfern konnte keine Verbindung hergestellt werden, eine Tatsache, die es den ermittelnden Beamten schwer machte, den Kreis der Verdächtigen einzugrenzen.
Allerdings wiesen alle Leichen eine Gemeinsamkeit auf, nämlich das Fehlen bestimmter Organe. Die Taten an sich waren laut Presse an Brutalität und Grausamkeit nicht zu übertreffen, doch die ebenfalls in der Presse veröffentlichten gerichtsmedizinischen Obduktionen der Leichen ergaben, dass der Täter zumindest beim entfernen der Organe äußerst sorgfältig zu Werke ging. Während die Körper der Opfer zumeist massive Verletzungen und stellenweise sogar Verstümmelungen aufwiesen, wurden die Organe stets mit der Sorgfalt eines Chirurgen entfernt. Daher wurde vermutet, dass der Täter über medizinische Kenntnisse verfügen musste. Tatsache war, das er, so animalisch und grausam er auch sein mochte, intelligent genug war, seine Spuren zu verwischen – falls er je welche hinterließ.
Aufgrund der fehlenden Organe tauften ihn die Schlagzeilen der örtlichen Klatschpresse bald „Den Sammler“. Bis jetzt gingen alle Ermittlungen ins Leere, der Mörder schlug zu ohne großes Aufsehen zu erregen und an den Tatorten selbst war auch für das Team der Forensik nichts zu finden, was den Ermittlern wenigstens ein Fundament für Mutmaßungen hätte geben können. Alles was man bis jetzt mit Sicherheit wusste war, dass noch niemand eine Konfrontation mit diesem Ungetüm überlebt hatte. Eine Tatsache, die Russell nicht gerade optimistisch stimmte.
Die Frage die er sich nun stellen musste war, welchen Plan dieser blutrünstige Wahnsinnige verfolgte, damit er seine eigene Strategie entwerfen konnte. Er war geschwächt, hatte hier draußen keinerlei Ortskenntnisse und der Sammler hätte so gesehen leichtes Spiel, falls er einen direkten Angriff in Erwägung zog. Allerdings konnte er nicht wissen, wie stark er Russell verletzt hatte und aufgrund seiner kräftigen Statur und dem Adrenalin, das in solchen Extremsituationen ungeahnte Kräfte verlieh, bliebe immer noch ein relativ hohes Restrisiko, das sich Russell – vielleicht sogar erfolgreich – zu Wehr setzen könnte. Weitaus angenehmer für den Mörder wäre es abzuwarten, bis sein potentielles Opfer entweder verbluten oder vor Erschöpfung zusammen brechen würde.
„Ich muss schleunigst hier weg!“
Sichtlich angeschlagen wuchtete er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück auf die Beine, den stark blutenden Schnitt versuchte er dabei so gut es ging mit seiner rechten Hand abzudrücken. Russell wurde klar, dass er nicht viele Optionen hatte. Mit dieser Verletzung, verloren in diesem riesigen, undurchsichtigen Wald, war es unmöglich, das ganze auszusitzen. Er würde verbluten noch bevor ihn jemand retten könnte – oder der Sammler würde ihn vorher finden. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder er würde diesen Psychopathen frontal attackieren, solange er körperlich dazu noch in der Verfassung war, oder er würde versuchen aus dem Wald zu fliehen und Hilfe zu holen. In beiden Fällen müsste er sich jedoch beeilen, denn er spürte, wie ihm die offene Wunde an seinem Bauch Stück für Stück die Kraft raubte. Wenn er Pech hatte, wurde ihm diese Entscheidung jedoch ohnehin von seinem Verfolger abgenommen. Er tastete sich in fast völliger Dunkelheit vorsichtig nach vorne. Seine Augen starrten angestrengt in die Finsternis die vor ihm lag. Er konnte nicht viel erkennen doch er wollte nicht gerade dann blinzeln, wenn der nächste Blitz den dichten Wald in grelles Licht tauchte.
Nach ein paar Sekunden fuhr ein weiterer Blitzschlag wie der Zorn Gottes gen Erdreich und verdrängten die Schwärze der Nacht für eine Sekunde. Er konnte sich das Bild, das dadurch offenbart wurde, einprägen und flotten Schrittes ein paar weitere Meter hinter sich bringen, bevor er wieder langsamer werden und sich im schwachen Mondlicht behutsam voran tasten musste. Die Panik die seit Anbeginn seines Erwachens Besitz von ihm ergriffen hatte, ließ ihn auch jetzt nicht los, jedoch lockerte sie ihren Griff ein wenig und er fing an, die Kälte des Regens und das peitschen des Windes auf seiner Haut zu spüren.
„Das ist nicht gut… Das ist gar nicht gut… Die Kälte wird mich ausbremsen, mich langsam machen. Dazu der Blutverlust… wenn ich Pech habe kann ich meinen Vorsprung nicht mehr lange halten. Ich muss aus diesem beschissenen Wald raus!“
Er hatte Recht. Viel schlimmer war jedoch, dass seine Verletzung und die schlechte Witterung nicht die problematischsten Dinge waren, denen er sich in dieser Nacht noch würde stellen müssen.
Im Reich des Schlächters
(früher am Abend)
Nachdem Russell in diesen fauligen Unterschlupf verschleppt wurde, entrissen ihn Geräusche, die nur sehr dumpf an sein Ohr drangen, aus dem Griff der Ohnmacht, in die ihn der Sammler früher am Abend mit Hilfe von Chloroform getrieben hatte. Er versuchte seine Augen zu öffnen, um der Finsternis der Besinnungslosigkeit zu entfliehen, doch alles was sie ihn wahr nehmen ließen war ein grelles Licht, das sich direkt über ihm befand. Geblendet von dem strahlenden Weiß wendete er seinen Blick ab und konnte an der gegenüberliegenden Seite des Raumes einen kleinen Altar erkennen. Dieser wurde von Kerzen beleuchtet, deren züngelnde Flammen tanzende Schatten an die modrige Holzwand hinter ihnen warfen und den Opferstein in warmes, unruhiges Licht tauchten.
Mittig auf ihm positioniert, befand sich ein Götzenbildnis aus Holz, dem von Hand geschnitzt die Form einer grotesken, gar abstoßenden Kreatur gegeben wurde. Ihr bloßer Anblick bescherte Russell Unbehagen. Sie breitete ihre mächtigen Flügel, die denen eines himmlischen Wesens nachempfunden waren, in voller Spannweite aus und stand dabei auf circa einduzend voluminösen Tentakeln, die den Fangarmen eines Oktopuses ähnlich sahen und nicht das geringste mit menschlichen Extremitäten gemein hatten. Ihrem muskulösem Oberkörper wurde eine menschliche Form gegeben, jedoch wies er die Beschaffenheit eines Reptils auf und die kräftigen Arme waren mit den Handflächen nach vorne gerichtet vom Körper parallel zu den Flügeln abgespreizt, ganz so, als würde dieses Monstrum jemanden – oder etwas - herausfordern. An den Händen konnte er lange Krallen erkennen, die sich unsauber geschnitzt hinter den Fingerspitzen nach vorne schoben. So scheußlich dieser Anblick auch war, er wurde durch den Kopf der Bestie zu einer Beiläufigkeit degradiert. Der Schädel ähnelte dem eines Ziegenbocks, dessen bis zum Schlüsselbein ausgetreckte Zunge den Eindruck erweckte, er würde nach Russell lechzen, sich nach ihm verzehren. Auf der Stirn befanden sich links und rechts zwei knochige Auswüchse, die sich in einem welligen Halbkreis Richtung Hinterkopf bogen. Zwischen den beiden Auswüchsen lag die Schädeldecke offen und Russell sah etwas von dem er annahm, dass es sich um lodernde Flammen handeln könnte. Dort, wo sich eigentlich die Augen dieses Wesens hätten befinden sollen, erkannte er zugenähte Augenlieder deren Stichnähte so aussahen, als wären sie auf den Kopf gestellte Kruzifixe. Trotzdem kam es Russel so vor, als würde ihn dieses teuflische Fabelwesen anstarren.
Die Geräusche, die ihn aus der Bewusstlosigkeit zurück geholt hatten, wurden allmählich klarer. Wie auch sein Blick, der sich langsam an das Licht gewöhnt hatte und den blendenden Strahl über ihm einer alten emaillierten Deckenlampe zuordnen konnte. Russell versuchte die Quelle der rhythmischen Klänge ausfindig zu machen und sah ein antikes Grammophon, das nur wenige Meter neben ihm auf einem hölzernen, ebenfalls antik wirkenden Beistelltisch stand. Die sanfte Melodie die es von sich gab, wurde auf einmal von einem Summen begleitet, dessen Ursprung er nicht ausmachen konnte.
„Mozarts 21. Klavierkonzert, Andante. Eine meisterhafte Symphonie, finden Sie nicht auch?“ Er riss seinen Kopf in die Richtung aus der er die Stimme vermutete. Seine Augen sahen auf größere Distanz noch immer verschwommen, doch als die nebelhafte Silhouette näher kam und in den schwachen Schein der Kerzen trat, wünschte er sich wieder in die alles verschlingende Umarmung der Bewusstlosigkeit zurück.
Das Erscheinungsbild dieses groß gewachsenen, breitschultrigen Mannes erinnerte an eine Mischung aus Doktor und Metzger. Er trug einen weißen Kittel der bis zum Hals reichte, darüber hatte er eine schwarze Lederschürze angelegt, ähnlich denen, die Fischer trugen, wenn sie ihren Fang ausnahmen. Seine Hände waren von Handschuhen umhüllt und hielten eine rostige Sichel vor seine, mit einer schwarzen Schweißerbrille bedeckten Augen. Die Kieferpartie war von einem medizinischen Mundschutz bedeckt, weshalb seine Worte nicht sehr klar nach außen drangen und sein langes, bereits ergrautes Haar hing offen und ungepflegt über seine Schultern.
Russell selbst fand sich mit dem Rücken auf einem Holztisch liegend wieder. Seine Beine waren unterhalb der Kniescheiben mit einem Lederriemen fixiert, seine Hände teilten das gleiche Schicksal. Ein weiterer Riemen spannte sich streng um seinen Hals und fesselte so seinen Torso und seinen Kopf an den Tisch. Obwohl ihm die Nebenwirkungen der Betäubung noch nicht erlaubten, einen klaren Gedanken zu fassen, so war sein Gehirn doch in der Lage, diese prekäre Situation zu interpretieren und er fiel einer kontinuierlich ansteigenden Panik anheim.
Seine Augen suchten den Raum in dem er gefangen war hektisch ab und trotz des schwachen Kerzenlichts, konnte er ein ganzes Sammelsurium an scharfkantigen und spitzen Folterinstrumenten ausmachen. Äxte, Heckenscheren, Feilen, Eispickel, Schaufeln, Sicheln und Sensen, egal in welche Richtung er blickte, es schien kein Ende zu nehmen. Russell hatte die Zeitungsberichte gelesen, in denen die Rede von verstümmelten Leichen war und daher wusste er auch, dass zumindest die Organe mit großer Sorgfalt entnommen wurden. Deswegen vermutete er, dass diese Werkzeuge dem Sammler wohl nur eine Möglichkeit zur Befriedigung seiner perversen Gelüste offerierten, allerdings würde er mit ihnen nicht die chirurgische Präzision an den Tag legen können die nötig war, um Organe unbeschädigt zu entwenden.
Inmitten dieser martialischen Ansammlung zweckentfremdeter Gärtnerutensilien konnte er einen kleinen schwarzen Koffer ausmachen. Der Sammler legte die Sichel beiseite, blickte Russell durch die dicken schwarzen Gläser seiner Schweißerbrille hindurch an und ging langsam auf den Koffer zu. Als er ihn öffnete, gab er den Blick auf ein fein säuberlich sortiertes und sauberes (vielleicht sogar steriles) chirurgisches Besteck frei. Russell’s größte Aufmerksamkeit galt den spitzen Skalpellen und scharfen, langen Scheren aus rostfreiem Edelstahl, die vermutlich für jene Eingriffe bestimmt waren, bei denen dieser Schlächter die Organe entnahm.
„Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen mein Bester. Und glauben Sie mir, wir beide werden heute eine außerordentlich vergnügliche Nacht miteinander verbringen.“ „Wo zur Hölle bin ich hier? Was will dieses Arschloch von mir?“ Russells Gedanken überschlugen sich, dennoch war er noch nicht in der Lage, alles was um ihn herum geschah in eine sinnvolle Beziehung zueinander zu setzen. Der Sammler breitete das Besteck auf einem kleinen Teewagen aus, der neben dem brüchigen Gestell, an das Russell gefesselt war, stand. Dieses marode Gebilde sollte wohl als Operationstisch fungieren. Seine behandschuhten Finger griffen nach einer der Edelstahlscheren. Er schnitt Russell’s Hemd bis auf Höhe des Brustbeins auf und legte somit seinen Bauch frei, während er wieder summend in Mozart’s musikalische Untermalung einstimmte. Die Nachwirkung der Betäubung hatte Russell’s Sinne bisher fest im Griff und ließ ihn weder klar denken, noch handeln. Doch die Panik, die seit seinem Erwachen unaufhaltsam in ihm aufstieg, schien nur ihr volles Potential zu entfalten und befreite ihn von seiner inneren Blockade.
„Hilfe! Hallo, hört mich jemand?! Hilfe! Helft mir doch, gottverdammt!“ Seine Schreie waren markerschütternd und übertönten die melodischen Klänge im Hintergrund mit Leichtigkeit, doch alles was sie ihm einbrachten, war das diabolische Gelächter seines Peinigers.
„Aufgrund der spartanischen Einrichtung und meines Vorhabens, das sich Ihnen mittlerweile erschlossen haben dürfte, sollte Ihnen klar sein, dass Ihre bedauernswerten Hilferufe niemanden erreichen werden.“
„Fick dich du kranker Bastard! Was willst du von mir?!“
Russells Panik wich nun purer Angst. Er dachte an seine Frau Carol, seine Tochter Maggie und an die Tatsache, dass er keine der beiden jemals wieder in seinen Armen halten könnte, wenn er diesem Schlachthaus nicht schleunigst entfliehen würde.
„Sie haben einen äußerst durchtrainierten Körper, makellos in jeder Hinsicht.“ Der Sammler streifte einen seiner Handschuhe ab und fuhr mit seinen blanken Fingerspitzen sanft über Russells nackten Bauch, fast so, als verspürte er dabei sexuelle Erregung. „Ihre muskuläre Struktur ist phänomenal und Ihr niedriger Körperfettanteil zeugt von einer gesunden Ernährung, genauso wie Ihre makellose Haut. Daher vermute ich, das sich Ihre Leber bester Gesundheit erfreut.“ Er streifte seinen Handschuh wieder über und griff nach einer Spritze, die sich noch in dem schwarzen Koffer befand. „Keine Sorge, Sie werden den Eingriff nicht spüren. Zumindest anfangs nicht. Aber ich werde dafür sorgen, dass Sie ihn mit erleben.“ Es bereitete ihm Freude, seine Opfer leiden zu sehen, daher nutzte er für die Eingriffe auch keine Vollnarkose. Er wollte, dass sie bei vollem Bewusstsein mit ansehen konnten, was er ihnen antat, bis sie in die erlösende Leere des Todes glitten. Die Nadel der Spritze versank in Russells rechtem Oberbauch und binnen weniger Sekunden war jegliches Gefühl aus dieser Region verschwunden. Die Lederriemen, die vor ihm noch mindestens sechs weitere Opfer an ihr Schicksal banden, waren über Stahlplatten fest mit dem Holztisch verbunden, auf dem er lag. Sie waren die stärksten Komponenten der Konstruktion und selbst wenn er bei vollen Kräften gewesen wäre, würde seine Körperkraft, so austrainiert er auch war, nicht genügen, um sie ernsthaft zu beschädigen. Die einzige Chance zur Flucht lag in der maroden Struktur des Tisches. Das Chloroform verlor immer mehr an Wirkung und er konnte fühlen, wie sein Körper Stück für Stück zu alter Stärke zurück fand.
Seine Augen ließen den Sammler keine Sekunde unbeobachtet, er verfolgte jede seiner Bewegungen und versuchte so unauffällig wie möglich eventuelle Schwachstellen an seinen Fesseln auszumachen.
„Die linke Platte an meinem Handgelenk ist locker. Wenn ich mich zusammen nehme, könnte ich die Platte samt dem Riemen ausreißen, dann hätte ich zumindest eine Hand frei. Ich könnte dann die anderen Riemen öffnen, aber er steht zu nahe an mir dran. Sobald er sieht was passiert, wird er versuchen mich aufzuhalten und mir wird die Zeit fehlen, um mich zu befreien.“ Er sah auf das chirurgische Besteck neben ihm. „Das ist es! Sobald ich meine Hand aus der Fessel bekommen habe muss ich eines dieser scharfen Dinger zu fassen kriegen! Damit könnte ich mich zumindest für wenige Sekunden zur Wehr setzen! Dass muss reichen um hier raus zu kommen... Wenn nicht....“ Der Sammler nahm nun selbst ein Skalpell in die Hand, sein Summen verstummte und er blickte konzentriert auf die Stelle, die er gerade eben betäubt hatte.
„Mögen die Qualen der Menschheit die Seelen der schwarzen Fürsten nähren.“
Russell konzentrierte seine gesamte Kraft in seinen linken Arm und tatsächlich gelang es ihm, die Stahlplatte aus dem Holz zu reissen. Im selben Moment schnitt die kalte, scharfe Klinge des Skalpells durch sein Fleisch, um die Bauchdecke frei zu legen. Durch Russells abrupten Ausbruchversuch glitt die Hand dieses Sadisten jedoch ab und stach das Skalpell dabei tief in seinen Bauch. Es wäre durchaus möglich, das die Leber dadurch Schaden genommen hatte. Das Werk dieses Unmenschen musste unvorstellbare Qual verursachen, doch Russell nahm sie nicht wirklich wahr. Das Adrenalin in seinem Körper und die Lokalanästhesie ließen ihn fast nichts spüren. Wutentbrannt schrie das Monstrum über ihm auf doch noch bevor er auf das, was sich hier abspielte, reagieren konnte, bekam Russell eine lange Schere zu fassen und rammte sie durch seine Hand. Der Schmerz und die Verwirrung, die sich in ihm ausbreiteten, gaben Russell genug Zeit, um die anderen Riemen zu öffnen.
Er hatte sich nun aus den Fesseln der Schlachtbank befreit, doch für die eigentliche Flucht blieb nicht mehr viel Zeit. Der Sammler fing sich langsam wieder und war gerade dabei, die Schere aus seiner Hand zu ziehen, als er sah, dass sich Russell befreien konnte. Er versuchte ihn zu packen doch Russell trat ihn mit solch einer Wucht in den Bauch, dass er rücklings über die brüchige Schlachtbank fiel. „Da hast du deine muskuläre Struktur, du Missgeburt!“ Angetrieben von Adrenalin rannte er mit seinem ganzen Gewicht gegen die einzige Tür im Raum, brach sie dadurch auf und konnte nun endlich aus diesem modrigen Schlachthaus fliehen. Draußen angekommen, ebbte seine Euphorie über die geglückte Flucht genauso schnell ab wie sie aufgekommen war. Er konnte zwar aus der Hütte fliehen, doch dafür fand er sich nun inmitten der stürmischen Dunkelheit des angrenzenden Waldes wieder.
Orientierungslos. Verwundet. Verzweifelt.
Gejagter
(Gegenwart)
Es hatte den Anschein, als würde der Sturm von Minute zu Minute an Stärke zunehmen, ganz im Gegensatz zu Russell, dessen Kräfte langsam aber stetig schwanden. Er konnte zwar trotz der Dunkelheit, der Witterung und seiner Verletzung eine beachtliche Strecke hinter sich bringen, aber er war nicht schnell genug. Angesichts der schieren Größe des Waldes konnte er nicht die Geschwindigkeit aufbringen die nötig war, um rechtzeitig Hilfe zu finden, bevor seine Wunde den ultimativen Tribut einfordern würde. Dazu kam noch die Orientierungslosigkeit, er wusste ja nicht ein mal genau, wohin er überhaupt rannte. Alles was er wusste war, das er sich immer weiter von der Holzhütte und damit hoffentlich auch von diesem blutrünstigen Fleischhacker entfernte. Er hatte den Sammler in diesem finsteren Dickicht bis jetzt noch nicht ausmachen können, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass er ihn einfach so entkommen lassen würde. Auch wenn sich der Jäger in besserer körperlicher Verfassung befand als seine Beute, so war auch er nur ein Mensch. Entweder, er würde sich genau so langsam vorwärts tasten müssen wie Russell, oder er würde eine Taschenlampe benutzen. Letzteres würde Russel seine Postion verraten, was er zu seinem Vorteil nutzen konnte.
Er ließ seinen Blick erneut durch die Finsternis wandern, um sich zu vergewissern, dass er immer noch alleine war, doch just in diesem Moment konnte er cirka vierzig Meter hinter sich den Strahl einer Lampe ausmachen. Der Lichtkegel verdrängte die Nacht zwar nur für wenige Meter und wies außerdem nur einen relativ kleinen Radius auf, aber das genügte vollkommen, um sich in diesem trostlosen Labyrinth aus Büschen, Dickicht und Bäumen zu recht zu finden. Es war auf jeden Fall mehr als Russell hatte.
Der Anblick dieses Lichtstrahls beschwor in ihm die gleiche brachiale Urangst herauf, wie er sie Minuten zuvor auf dem Holztisch verspürte. Der Sammler war Nahe, und mit ihm vielleicht auch sein Ende. Er durfte nicht zulassen, dass ihn dieses mordlüsterne Ungeheuer einholte. Wenn das geschah, war es vorbei. Ein Kampf kam aufgrund seines Zustands, der sich innerhalb der letzen Minuten drastisch verschlechtert hatte, nicht mehr in Frage und er konnte sich auch nicht schnell genug fortbewegen, um zu fliehen. Alles was er jetzt noch tun konnte war sich zu verstecken und seinen Häscher auf eine falsche Fährte zu locken. Sein Herz schlug mittlerweile wieder bedenklich schnell und seine Atmung war flach und angestrengt. Gerade als er dabei war, sich behutsam in Richtung eines Baumes zu stehlen, dessen Stamm ihn vor den verräterischen Strahlen der Taschenlampe verbergen sollte, erlosch das Licht wieder. Regungslos blieb er hinter dem Baum stehen, vor Angst versteinert unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Sein Jäger war nicht dumm. Er wusste, dass ihn der helle Strahl seiner Lampe im Dunkel der Nacht verraten würde und so nutzte er sie mit Bedacht und immer nur lange genug, um sich selbst zu orientieren. „Du verdammter Mistkerl! Zeig dich! Mach die Lampe wieder an, ich muss wissen wo du bist!“ Ein weiterer Blitzschlag vertrieb die Schatten aus dem dichten Unterholz und Russell’s Blick ruhte auf dem Punkt, an dem er den Strahl der Lampe zuletzt sah , doch er konnte niemanden erspähen.
„Ich kann mir das doch nicht eingebildet haben, Blutverlust hin oder her. Das war das Licht einer Taschenlampe, ich bin doch nicht verrückt!“
Als Russel gerade dabei war, seinen eigenen Verstand in Frage zu stellen, sah er das Licht wieder. Diesmal jedoch keine vierzig, sondern höchstens noch zwanzig Meter von ihm entfernt und nun nicht in gerader Linie - sondern schräg links hinter ihm. „Scheise, er kommt verdammt schnell voran! Zu schnell! Seine Taschenlampe reicht vielleicht nur ein paar Meter, aber wenn er nochmal so einen Sprint hinlegt, bin ich im Radius des Lichtkegels. Dann könnte er mich sehen!“ Angesichts seiner Situation und den Optionen, die ihm offen standen, entschloss er sich, den Sammler an sich vorbei laufen zu lassen. Anhand des letzten Standpunktes seines Verfolgers hielt er es für das Beste, nach rechts zu gehen und nach zirka zwanzig Metern einen Bogen zu schlagen. „Mit diesem Abstand könnte ich die Richtung wechseln und an ihm vorbei gehen, ohne dass er mich sieht! So könnte ich wieder etwas Distanz zwischen uns bringen!“ Im besten Fall käme er wieder zu der Hütte zurück, und konnte sich dort mit Waffen und vielleicht sogar einer Lampe ausrüsten, um diesem Alptraum nicht gar so wehrlos entgegen treten zu müssen. Im schlimmsten Fall würde ihn seine Verletzung auf dem Weg dorthin töten. Der Gedanke, die ganze Strecke in seinem Zustand wieder zurück zu marschieren, gefiel ihm gar nicht. Aber er würde tun was nötig war, um lebend hier raus zu kommen und eine andere Möglichkeit sah er nicht. Aufgrund der enormen Lautstärke, die dem stürmischen Wetter geschuldet war, musste er sich um die Geräusche, die er mit seinen Schritten auf Geäst und Laub erzeugte, keine Sorgen machen und so schlich er zügig weiter nach rechts. Er positionierte sich so, dass wieder ein Baumstamm zwischen ihm und dem letzten Standpunkt seines Verfolgers lag, falls er doch schneller als erwartet in den Radius des Leuchtkegels geraten würde. Auch wenn ein weiterer Blitz niederfahren würde, hinter dem Baum müsste er vor dem Sammler verborgen sein. Wäre er nur eine Sekunde langsamer gewesen, hätte dieser Moment sein Ende bedeutet. Der Strahl der Taschenlampe schoss erneut urplötzlich durch die Dunkelheit und tauchte den Baumstamm, hinter dem er sich gerade eben noch geschlichen hatte in helles Weiß. Der Sammler ging diesmal feldeinwärts und konnte sich so parallel zu Russell positionieren, der Abstand zwischen ihnen schrumpfte von zwanzig auf ungefähr zehn Meter. Damit hatte er die Distanz, die ihn vor wenigen Sekunden noch daran gehindert hätte, sein Opfer in diesem düsteren Gestrüpp ausfindig zu machen, hinter sich gebracht und Russel war nun in Reichweite der Taschenlampe geraten. „Verfluchter Mist…“
Er blieb wie versteinert hinter dem Baumstamm stehen und würde es nicht wagen sich zu bewegen, ehe der Lichtkegel wieder verschwunden war.
Seine Wunde schmerzte brachial und seine Beine fielen trotz dem Adrenalinschub, der ihn durchdrang, erneut der Schwäche anheim, die ihn schon zuvor zur Rast zwang. Er konnte sich gerade noch so aufrecht halten. Die Verletzung hatte ihm fast alles von seiner verbliebenen Kraft geraubt, wenn er nicht sehr bald Hilfe fand, würde er leblos zusammen brechen. Einen kurzen Moment lang brachte ihm dieser Gedanke Frieden. Immerhin hieße das Erlösung. Der Strahl der Lampe schwang wild von rechts nach links, suchte sogar die Baumwipfel ab, erhellte dann noch einmal das bereits abgesuchte Gebiet hinter ihnen und verschwand dann genauso schnell wieder, wie er gekommen war.
„Jetzt oder nie! Trotz der Lautstärke hier könnte er mich jetzt vielleicht hören, wenn ich zu laut bin. Zurück zur Hütte, vorsichtig, aber nicht zu langsam.“
Er war gerade dabei, sich hinter dem dicken Stamm hervor zu wagen und wie geplant die Fluchtrichtung zu ändern, doch just in diesem Moment schnitt das verräterische Licht der Lampe erneut wie ein Messer durch die Nacht und noch bevor er realisierte, was genau geschah, verriet ihm sein plötzlich vor ihm auftauchender Schatten, dass das Versteckspiel vorbei war. Dieser wurde so fein auf den Waldboden vor ihm gezeichnet, dass sein Häscher nicht weiter als fünf bis acht Meter hinter ihm stehen konnte. Erneut stieg Angst in ihm auf und er kämpfte dagegen an, zu erstarren. Als er sich umdrehte, wurde er augenblicklich von dem sich langsam nähernden Weiß des Lichtstrahls geblendet. Er würde sterben. Daran gab es keinen Zweifel. Der Sammler konnte sich genauso wenig wie Russell sicher sein, ob seine Leber nicht zu stark beschädigt war und anscheinend brauchte er ein intaktes Organ für sein Vorhaben, wie immer das auch aussehen mochte. Wenn ihm sein Opfer nicht mehr geben konnte, was er benötigte, so musste er auch keine Vorsicht mehr walten lassen. Außerdem wäre das Risiko, Russel bei dem Versuch, ihn erneut lebend gefangen zu nehmen, abermals die Flucht zu ermöglichen, für die geringe Wahrscheinlichkeit eines unbeschädigten Organs zu hoch. Was er jedoch mit Sicherheit nicht brauchen konnte waren Überlebende, die womöglich den Standort seiner Schlachterei verraten würden. Noch nie hatte es jemand geschafft, sich aus dem Griff dieses Monsters zu befreien. Und erst recht nicht auf die Art und Weise, wie Russell es tat. Er hatte nicht nur die Kontrolle des Sammlers über ihn gebrochen, er griff ihn sogar an, verletzte ihn, degradierte ihn von einem alptraumhaften Gott, der die Macht über Leben und Tod inne hatte, zu einem plumpen Fleischer, zu inkompetent sein Werk zu vollenden. So kultiviert sich dieser Metzger auch gab, Russell konnte sich sehr gut vorstellen, dass es in seinem Inneren vor Wut brodelte. Er wusste was jetzt geschah. Er wusste, dass es brutal und qualvoll – aber sicherlich nicht schnell - zu Ende gehen würde. Er erinnerte sich daran, wie grausam entstellt die Opfer des Sammlers laut den Zeitungsberichten aufgefunden wurden. Und die hatten ihren Henker nicht annähernd so verärgert wie er.
Dem Tode nah
Russell’s Sicht wurde von einer Mischung aus Schweiß und Regen, die über sein Gesicht lief, beeinträchtigt und der helle Strahl der Lampe blendete ihn zusätzlich. Der Sammler kam langsam näher, so nah, dass auch die Geräuschkulisse des Unwetters seine Schritte nicht mehr übertönte. Russel ging langsam rückwärts, ein armseliger Versuch, Distanz zu diesem fleischgewordenen Alptraum zu wahren. In diesem Moment erhellte ein Blitz das Gebiet aufs Neue und erlaubte ihm dadurch einen Blick auf die fast schon dämonisch wirkende Gestalt vor ihm. Die Lampe, die ihn verraten und seinem Schicksal ausgeliefert hatte, war eine Stirnlampe und wies Ähnlichkeiten mit denen auf, die Chirurgen bei Eingriffen trugen. Allerdings war diese hier um ein vielfaches leistungsstärker.
„Hast deine Werkzeuge wohl an die Umstände angepasst du krankes Stück Scheise, was?“
Er trug noch immer einen Mundschutz, hatte jedoch die schwarze Schweisserbrille abgelegt. Russel konnte für den kurzen Moment, in dem der Blitz die Nacht vertrieb, in die Spiegel seiner Seele blicken. Der fahle Glanz des Wahnsinns hatte den Blick dieses Scheusals überzogen und die weit aufgerissenen Augenlieder trugen den Hass, der in ihm brannte, angsteinflößend nach außen. Doch was ihn wirklich beunruhigte war das, was er in seinen Händen hielt. Als der Blitz erlosch und die Schatten der Nacht den Wald zurück erobert hatten, sah er wieder nur den Strahl der Stirnlampe, der seine Sicht weiterhin gnadenlos vernebelte. Doch diesmal konnte er auch etwas hören. Ein Seil, das an einem Motor gebunden versuchte, unter glucksenden Lauten das Instrument in den Händen des Sammlers anzuwerfen.
Er benötigte drei Versuche, dann sprang die Kettensäge unter ohrenbetäubendem Geheule an und war bereit, alles zu zerfetzen, was sich ihr in den Weg stellte.
Das Ungetüm kam weiter auf ihn zu. Fast simultan mit dem bestialischen Geräuschen, die dieses grausame Tötungswerkzeug von sich gab, tat Russell einen falschen Schritt und fiel vor Schreck aufschreiend rücklings über einen Ast auf den belaubten Boden, der nur noch wenige Sekunden davon entfernt war, mit seinem Blut getränkt zu werden.
„Du fauliges Stück Mist wirst den dunklen Fürsten dienen, so wie es dir vorherbestimmt ist! Deine armseligen Versuche dich aus deiner Verantwortung zu stehlen sind zwecklos! Ich lasse nicht zu, dass du unsere Herrscher erzürnst! Dein Schmerz wird ihre Seelen nähren, dein Fleisch wird Ihre Hüllen stärken!“
Maggie, Carol… es tut mir leid… bitte verzeiht mir… ich verspreche euch, das ich von oben auf euch aufpassen werde… Ich liebe euch…“
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„Siehst du schon was? Hast du schon ein‘ im Blick?“
„Halt dein beschissenes Maul, ich muss mich konzentrieren, du Idiot!“
„Wollt‘ doch nur wissen, ob du schon was vor‘m Lauf hast!“
Hank nahm den Blick von dem Zielfernrohr, das auf seinem Jagdgewehr montiert war und sah seinen fortwährend dreinredenden Freund entnervt an.
„Ja Jacob, ich hab‘ was gesehen. Grade eben da vorn auf der Anhöhe, war ziemlich fett und haarig, wollt‘ auch grade abdrücken aber dann war‘s doch nur deine Mutter die nach Trüffeln gesucht hat.“ Er brach über seinen eigenen Witz köstlich amüsiert in lautes Gelächter aus, doch ein Blick in das von einem Knicklicht schwach beleuchtete Gesicht seines Jagdgefährten verriet ihm, das dieser wohl kein Fan seines Humors war. „Ha…ha…ha… sehr lustig, n witziger Hurensohn bist du! Also was is‘ jetzt? Ich hab‘ keine Lust mir hier draußen noch länger n Arsch abzufrieren. Das Bier is‘ alle und du Volltrottel hast so viel davon gesoffen dass du Mama Elch nich‘ mal mehr abknallen könntest, wenn sie dir mitten ins Gesicht pisst!“ Jacob war gelangweilt, dazu kühlte er langsam aus und das schlug sich auf seine Laune nieder. Sie lagen nun schon seit drei Stunden auf der Pirsch, die Nachtsicht von Hanks Zielfernrohr fing bis jetzt allerdings nichts ein außer Regen, Bäume und einen einsamen Fuchs, der wohl Zuflucht vor dem Sturm suchte. An letzterem waren sie nicht interessiert. Und selbst wenn, Hank war so betrunken, das er das kleine, flinke Tier sowieso nicht erwischt hätte. „Mach dir mal nich‘ in‘s Hemd du Weib, wir gehen ja schon, ich hab‘ auch keine Lust mehr. Pack die Sachen zusammen, ab zum Auto und dann geht’s zu Lucy in die Bar. N paar Bier wären noch nett bevor’s wieder zu unseren alten Schabracken nach Hause geht, was?“ „Solange du die Finger von der Jukebox lässt, von mir aus.“ Jacob stand auf, half seinem übergewichtigen Kumpel auf die Beine und war gerade dabei, ihre Rucksäcke vom Boden aufzunehmen, als sich zum Rauschen des starken Niederschlages auf einmal ein weiteres Geräusch gesellte. „Sag mal, hörst du das?“ wollte Jacob von Hank wissen und dieser lauschte daraufhin angestrengt in den Wald. „ Ich hör‘ nix ausser den Regen plätschern. Könnte aber auch aus deiner Hose kommen, so wie du dich grade anpisst.“
„Ich mein’s Ernst verdammte Scheise, halt deine Fresse und konzentrier‘ dich! Kam wohl von da hinten!“ Jacob zeigte auf die Anhöhe, die gerade eben noch als Bühne für Hank’s fragwürdigen Humor diente und tatsächlich konnte er nun ein kleines, sich langsam hin und her bewegendes Licht erkennen. „ Siehst du, ich verarsch‘ dich nich‘, da is‘ wer! Und das grade eben hat sich angehört wie… Wie ne Kettensäge!“ gab Jacob leicht aufgeregt von sich. „Was zur Scheise soll das denn jetzt? Pack deinen Kram, wir müssen hier weg!“ Noch bevor Hank den Satz zu Ende bringen konnte, vernahm er trotz des Regens ein weiteres Geräusch, auch wenn es nur sehr leise an sein Ohr drang. „Hat da jemand geschrie’n?“ fragte er seinen Freund, doch dieser konnte ihm nur mit einem leichten Schulterzucken darauf antworten. Hank nahm daraufhin sein Gewehr erneut zur Hand, um durch das Zielfernrohr einen genaueren Blick auf die Szene dort oben werfen zu können. Er zielte in die Richtung, in der er gerade eben das kleine weiße Licht mit bloßem Auge ausmachen konnte. Durch den Restlichtverstärker bedingt, explodierte dieser kleine Punkt in einen hellen Nebel, der fast die Hälfte des Bildes in ein grelles Grün tauchte. Er konnte nicht viel erkennen, allerdings konnte er ohne Zweifel eine Kettensägte identifizieren, die neben zwei Beinen herabhing, welche wiederum von einer Schürze bedeckt waren. Es sah so aus als hätte Jacob recht gehabt. Wer auch immer das war, seine Körperhaltung ließ darauf schließen, das er auf etwas herab sah, das anscheinend vor seinen Beinen lag. Vielleicht blickte er aber auch über den Rand der Anhöhe hinunter, deren steiler Verlauf nach zirka acht Metern in einem Waldboden auf Ebene der beiden Jäger endete. „Holzfäller? Forstarbeiter? Nachts? Bei dem Sturm? Da stimmt doch was nicht!“ Hank mutmaßte, dass es sich um Waldarbeiter handeln könnte und gab Jacob daraufhin zu verstehen, dass sie schleunigst hier weg sollten.
„Pack dein‘ Scheis, mach auf Schuh und geh! Sofort!“ Er packte Jacob am Arm und schob ihn in Richtung ihres Wagens, den sie vor Stunden etwa dreihundert Meter weiter nördlich am Waldrand geparkt hatten. Sie waren keine Jäger, auch keine Mitarbeiter des Forstbetriebes. Sie waren Wilderer und wenn sie jemand hier draußen bei ihren Aktivitäten erwischen sollte, hätte das unschöne Konsequenzen zur Folge, zumal sie auch noch betrunken waren. Hank wollte keinen Ärger und im Schutz der Dunkelheit verschwinden.
„Was hast‘n da oben gesehen?“ Er gab Jacob keine Antwort darauf, stattdessen drängte er ihn immer schneller in Richtung ihres Wagens. „Hallo, Sackfresse, ich will wissen was du da gesehen hast und zwar jetzt, also mach’s Maul auf!“ Jacob riss sich von Hanks Griff los und blieb stehen. Er würde nirgendwo hingehen, wenn er nicht augenblicklich eine Antwort bekäme.
„Was los is‘ willst du wissen?“ Da oben steht irgend so n Typ mit ner Kettensäge und gafft die Anhöhe runter, als hätt‘ er seine Oma da unten verloren.“ Hank sprach unruhig, nicht lallend, wie es sein Alkoholkonsum hätte vermuten lassen, aber abgehackt und atemlos. Die juristischen Konsequenzen der Wilderei dabei tief im Gedächtnis verankert.
„Wie sah er denn aus?“
„Kann ich nich‘ sagen, das Licht das wir gesehen haben is‘ auf Höhe seines Schädels, die Nachtsicht macht da grünen Nebel draus, aber ich hab‘ die Kettensäge gesehen, die du gehört hast, die hielt er rechts neben seinen Beinen.“
Jacob fing an nach zu denken. Eine Sache, die er laut Hank lieber lassen sollte.
„Wenn du sein Gesicht nicht gesehen hast, woher willst du dann wissen wo der hinschaut?“
„Herr im Himmel, du selten dämliches Arschgesicht, wo sollte er denn sonst hin starren? Laub am Boden zählen oder was?! Außerdem ist das doch Scheis egal! Ich hab keine Ahnung was der da oben will, aber wenn der vom Forstamt is‘, sollten wir n Kopf aus’m Arsch kriegen und uns schleunigst verpissen!“ Hank ging stramm in die Richtung ihres Wagens weiter, Jacob drehte sich noch einmal um und starrte neugierig durch die Finsternis in Richtung Anhöhe, in der Hoffnung, etwas erspähen zu können. Das Licht war immer noch zu sehen, wenn auch nur schwach doch auf einmal fing es an, sich zu bewegen. Plötzlich hallte das Gebrüll der Kettensäge erneut durch den Wald, diesmal so laut, das selbst der anhaltende Sturm das Geräusch nicht mehr dämpfen konnte, genau so wenig, wie den ohrenbetäubenden Schrei, der kurz nach dem Getöse der Kettensäge einsetzte. Nun blieb auch Hank stehen, drehte sich um und obwohl er nur drei Meter von seinem Partner entfernt stand, konnte er ihn nicht mehr sehen. Die Dunkelheit hier im Wald war mit bloßem Auge nicht zu durchdringen. „Was zur Hölle is‘ da oben los?“ Langsam stieg Angst in ihm auf. „Hast du das gehört?“ Jacob stand wie versteinert da, die Augen weit aufgerissen, ungläubig in die Schwärze des Waldes starrend. „Kann man ja schlecht überhören oder?“ Hank war hin und her gerissen. Normalerweise würde er in seinen Wagen steigen und so schnell wie möglich verschwinden, einfach, weil er Ärger mit Jägern und dem Forstamt vermeiden wollte. Aber was an dieser Situation war schon normal?
„Kannst sagen was du willst, aber das da oben is‘ keiner vom Forstamt und nen Jäger mit ner Kettensäge hab ich auch noch nich‘ gesehen. Wir müssen da hin, da is‘ was nicht in Ordnung.“ Hank hatte seine Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, mit der Jacob allerdings Schwierigkeiten hatte. „Und was, wenn das der Typ is‘, über den die Zeitungen die ganze Zeit schreiben? Dieser… Sammler-Typ da? Na der verrückte, der die Organe klaut und so? Dem will ich nich‘ ans Bein pissen Hank, der is‘ irre!“ Er stand da wie ein ängstliches Häufchen Elend und das machte seinen Gefährten aggressiv.
„Ach da sieh mal einer an, der große allmächtige Jacob, der männlichste Mann auf dem ganzen Planeten, führt sich wie ne pinke Prinzessin mit Regelblutung auf, weil da oben jemand mit ner Kettensäge steht – im Wald! Wenn das der Freak sein sollte über den die Presse schreibt kriegt er n Knall-Bon-Bon aus meiner Doppelbüchse zwischen die Augen, noch bevor er mit seiner Drecks Säge überhaupt nah genug an uns ran kommt! Mach was du willst du feiges Schwein, aber ich bleib nich‘ einfach hier sitzen während da oben vielleicht jemand auseinander gebaut wird!“ Hank sah auf die Anhöhe und stellte fest, dass das kleine Licht relativ still stand. Der Sturm heulte weiterhin scharf durch den Wald, trotzdem hätte er schwören können, gerade ein unheimliches Gelächter vernommen zu haben. Blitzartig begann die Kettensäge, erneut aufzudrehen, zur gleichen Zeit schien das kleine Licht ziellos und unkontrolliert durch die Dunkelheit zu schweben und er konnte einen weiteren, durchdringenden Schrei hören, der sich jedoch nicht nach einem Hilferuf oder Angstschrei anhörte. Er klang hasserfüllt, wütend, gar monströs. Die Wilderer konnten sich keinen Reim darauf machen, alles was sie wussten war, dass es da oben Bewegung gab. Hank konnte erkennen, dass der Lichtkegel der kleinen Lampe nun definitiv die steile Neigung der Anhöhe bis hinab ausleuchtete. „Jetzt reicht’s mir aber!“ Er nahm seine Taschenlampe aus dem Rucksack, warf sich sein Gewehr über die Schulter und sah ein letztes Mal zu Jacob, den er mit seiner Lampe anleuchtete. „Ja verdammt, is‘ gut, ich komm mit. Aber erstens: Du gibst mir deine Knarre, die du immer für die Nachschüsse dabei hast. Mein Gewehr is‘ mir für sowas zu sperrig. Und zweitens: Wenn das jetzt wirklich dieser Verrückte sein sollte, wird der Clown kommentarlos weg geblasen, wenn er auch nur die geringsten Anstalten macht, is‘ das klar, Hank?“
„Was anderes hatte ich nicht vor.“
„Gut, ich nehm noch ne Lampe mit, dann kann’s los gehen.“
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Der Sammler stand nun über Russell, die Kettensäge brüllte markerschütternd durch die Finsternis des stürmischen Waldes und sein Henker, der sichtlich erzürnt über seine Flucht war, holte mit der Waffe bis weit hinter seinen Rücken aus. Nur noch wenige Sekunden und Russell würde Frieden finden. Dann wäre alles vorbei und er müsste keinen Schmerz mehr erdulden, keine Angst mehr verspüren. Er würde in den alles verzehrenden Schleier des Todes sinken und dort Erlösung finden. Obwohl er wusste, dass dieser Gedanke angesichts des geisteskranken Schlächters über ihm schon fast utopisch schien, hoffte er doch, dass er sich nicht zu sehr an seinem toten Leib verlustieren würde. Immerhin war seine geliebte Frau Carol diejenige, die ihn identifizieren musste, wenn - oder falls - man seine Leiche finden würde und das wünschte er sich nicht für sie. Das wünschte er niemandem. Vielleicht gab dieses Ungetüm seiner Gier nach Blut heute aber auch aufgrund seines Zornes, den Russell’s Fluchtversuch in ihm schürte, so ungebremst und impulsiv nach, dass nichts übrig blieb, was auf ihn hinweisen würde. Kurioser Weise stimmte ihn dieser Gedanke zufrieden. Er lag auf dem Rücken, stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Boden ab und versuchte, von der Kettensäge weg zu robben. Geblendet von dem Strahl der Stirnlampe konnte er immer noch nichts sehen, auch die Position der Säge konnte er nur vermuten, doch plötzlich sah er deren Schiene in dem Lichtkegel auf ihn zukommen. Von Todesangst erfüllt schrie er auf und rollte sich instinktiv zur Seite, um der Säge auszuweichen. Sie verfehlte ihr Ziel nur um Zentimeter.
„Halt still du räudiges Vieh!!!“ Diesen Gefallen würde ihm Russell nicht erweisen. Wieder auf dem Rücken liegend, versuchte er aufzustehen, um dem grausamen Schicksal, das dieses Monster für ihn vorgesehen hatte, vielleicht doch noch entgehen zu können. Doch es war vergebens. Er konnte auf dem Untergrund keinen festen Halt finden und seine Füße rutschten durch seine panischen und abgehackten Bewegungen immer wieder auf dem nassen Laub ab, noch bevor er sich erheben konnte. Er wusste, dass sein Ende gekommen war, aber sein Selbsterhaltungstrieb würde ihn bis zum letzten Atemzug leiten. Der Sammler ließ die Kettensäge neben seine Beine sinken und Russell vernahm das gleiche leise, diabolische Lachen, mit dem dieses Tier seine Hilferufe bereits früher am Abend schon kommentierte.
„Um ehrlich zu sein, fing ich langsam an, Gefallen an diesem kleinen Katz und Maus Spiel zu entwickeln. Doch wie heißt es so schön? Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Also wollen wir doch mal sehen, ob du noch einmal so viel Glück hast. Darauf wetten würde ich allerdings nicht.“ Er brach in wahnwitziges Gelächter aus, hob sein barbarisches Mordwerkzeug erneut gen Himmel und war bereit, den finalen Schlag auszuführen. Russel konnte nicht einmal den Umriss seines Peinigers ausmachen. Das grelle Licht der Lampe über ihm würde wohl das letzte sein, das er sehen würde, bevor er in einen Abgrund ewig währender Schwärze versank. In einem letzten verzweifelten Akt presste er sich mit seinen Beinen so stark vom Boden ab, das er gut einen halben Meter über das nasse Laub nach hinten rutschen konnte und auf einmal sah er, wie das blendende Licht des Sammlers verschwand und nur noch sporadisch für sehr kurze Augenblicke wieder kehrte. Jedes Mal, wenn er es wieder aufblitzen sah, schien es sich ein Stück weiter von ihm entfernt zu haben. Er war nicht in der Lage zu verstehen, was hier gerade geschah, doch kurz bevor ihn ein starker Schmerz am Hinterkopf traf, der ihn in wenigen Sekunden in den Frieden der Besinnungslosigkeit gleiten lassen würde, vernahm er noch einen letzten Schrei.
Schrill. Wutentbrannt. Hasserfüllt. Wie der Schrei eines verwundeten Tieres.
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Die beiden Wilderer nährten sich flotten Schrittes der Anhöhe, die noch etwa achtzig bis neunzig Meter von ihnen entfernt war. Hank suchte mit seiner Lampe die Umgebung um sie herum ab und Jacob leuchtete den Weg vor ihnen aus. Als die beiden nur noch dreißig Meter von ihrem Ziel trennten, leuchtete Hank den Rand der Anhöhe aus, um der Gestalt, die er vorhin durch das Zielfernrohr nur wage erkennen konnte, endlich ein Gesicht zu geben. Dabei musste er feststellen, dass das kleine weiße Licht und damit auch der Träger der Kettensäge verschwunden waren. „Wo is´ der Bastard hin? Jacob, leuchte du das Gebiet um uns rum aus, ich pack‘ meine Lampe weg und lad‘ das Gewehr. Wenn du was siehst, schieß!“ Jacob suchte in einem Radius von etwa zehn Metern alles um sie herum ab, konnte jedoch nichts und niemanden finden. Sein Licht strahlte gegen die Äste und Blätter der Flora um sie herum und warf dadurch wiederum weitere Schatten, die es ihm schwer machten, etwas in diesem Dickicht zu erkennen. „Als wenn man bei Nebel mit Fernlicht fährt.“ dachte er. „Ich versuch‘s mal mit der Nachtsicht am Zielfernrohr, vielleicht seh‘ ich so was.“ Hank legte sein Jagdgewehr an und ließ seinen Blick durch den Wald schweifen, fand jedoch ebenfalls nichts Außergewöhnliches. „Wer auch immer das war, er scheint sich verpisst zu haben. Hat wohl unsere Lampen gesehen und is‘ auf und davon. Lass uns zurück zum Wagen gehen. Aber sei vorsichtig bis wir da sind, will keine Überraschung erleben, klar?“. Jacob nickte, drehte sich um und wollte gerade wieder mit Hank in Richtung ihres Wagens marschieren, als sie einen schmerzerfüllten Schrei aus einem der Büsche am Fuße der Anhöhe vernahmen.
Flucht vor der Finsternis
Erneut dem friedvollen Nichts der Besinnungslosigkeit entschwindend, fand sich Russell mit dröhnenden Kopfschmerzen am Waldboden liegend wieder, unfähig zu begreifen, was in den letzten Sekunden geschehen war. Er versuchte die Augen zu öffnen und sich zu bewegen, doch seine Gliedmaßen wollten ihm nicht gehorchen. Allein die Anstrengung des Versuches, seinen geschundenen Leib vom Boden zu hieven, ließ in vor Schmerz laut aufschreien. Sein Blick konnte außer einer undurchdringlichen Schwärze, die wie dichter Nebel um ihn herum zu wabern schien, nichts erkennen. Das stimmte ihn trotz seiner körperlichen Qualen optimistisch, gar euphorisch, da die ungebrochene Dunkelheit mit der Abwesenheit des grellen Lichtstrahls einherging, der ihn noch vor wenigen Momenten an ein nasses, kaltes Grab hätte binden sollen. Kaum wieder bei Bewusstsein vernahmen seine Ohren dumpfe Laute. Seine Sinne waren vernebelt doch binnen weniger Sekunden konnte er die Geräusche zumindest klar genug wahr nehmen, um sie als Stimmen zu identifizieren.
„...du Arschloch, ist das klar? Handflächen nach vorne und die Arme weit vom Körper abgespreizt, sonst schießen wir dir n zweites Loch in den Arsch, verstanden?“
Russel konnte die Lage in der er sich befand noch immer nicht deuten, doch er verstand, das er nicht mehr alleine war und seine Augen konnten nun etwa fünf Meter von ihm entfernt zwei Lichtkegel ausmachen, die von Lampen zu stammen schienen. Jede für sich um ein vielfaches leistungsfähiger, als es die Stirnlampe seines mörderischen Verfolgers war.
„Hil.... Hilf.... Helft.... Hilfe…”
Russell hatte Schwierigkeiten sich zu artikulieren und der Schmerz in seinem Schädel erreichte neue Dimensionen, als er erneut erfolglos versuchte aufzustehen.
„Der hört sich nich’ fit an Hank, glaub nicht das der `n Problem sein wird.“ Jacob nahm seine Waffe herunter und sah seinen Freund an. Der jedoch konzentrierte seinen Blick weiterhin auf das Dickicht vor ihm. „Kann auch n Trick sein. Nimm gefälligst deine beschissene Knarre wieder hoch und halt drauf bis ich dir sag, das du’s lassen kannst!“ Jacob tat, was ihm Hank auftrug und näherte sich mit erhobener Waffe dem Dickicht, aus dem die Geräusche kamen. „Pass bloß auf, nich’ das der plötzlich aus’m Busch springt und dir n Messer ins Gesicht rammt!“ Daran hatte Jacob nicht mehr gedacht. Seine Bewaffnung sicherte ihm einen absoluten Reichweitenvorteil gegenüber demjenigen, der sich in diesem Gestrüpp befand. Er war in der Lage, einen eventuellen Angriff im Keim zu ersticken, noch bevor sich der Unbekannte in eine für ihn gefährliche Reichweite manövrieren könnte. Und diesen überlebenswichtigen Vorteil gab er jeden Zentimeter, den er sich dem Gebüsch näherte, ein Stück weit auf. Bis er nicht mehr relevant sein würde. Und das sich derjenige, der sich hinter diesem Buschwerk verbarg, nicht zeigen wollte, entfachte bei beiden Wilderen gleichermaßen eine gefährliche Mischung aus stetig ansteigender Panik und Nervosität.
„Mir reicht’s jetzt, du kommst sofort da raus oder ich entlad’ das ganze beschissene Magazin in diesen gottverdammten Busch, ist das klar?“ schrie Hank über Jacobs Schulter hinweg in Richtung des Gesträuchs.
“Keine Ahnung wer das ist, aber ich brauche ihre Hilfe! Ich muss irgendwie aus dem Busch raus. Oder ihnen wenigstens zu verstehen geben, das ich keine Bedrohung bin!“
Russell wurde allmählich wieder Herr seiner Sinne und begriff nun zumindest, dass er es entgegen aller Wahrscheinlichkeit vielleicht doch geschafft hatte, zu überleben. Der Sammler war allem Anschein nach verschwunden und bei den beiden Männern schien es sich um Jäger oder ähnliches zu handeln, auf jeden Fall ließen ihre Drohungen darauf schließen, dass sie bewaffnet waren. Sie würden sicherlich keinen Sympathiepreis gewinnen und ihr aggressives Verhalten machte Russell nervös, aber er wusste, dass dieser ganze Alptraum ein Ende finden würde, wenn er den beiden nur klar machen konnte, dass keine Gefahr von ihm ausging. „Ich zähl bis drei, bis dahin kommst du entweder raus oder verreckst da hinten an ner Bleivergiftung, verstanden?“ Hank wurde zunehmend nervöser.
„EINS!“
„Ist das euer Ernst? Ich bin diesem Verrückten entkommen nur damit ihr mich jetzt unter die Erde bringt?“
Russell konnte sich nicht sicher sein, ob sie wirklich abdrücken würden, allerdings würde er die Geduld der beiden Männer angesichts dieser angespannten Situation auch nicht auf die Probe stellen wollen. Seine Gliedmaßen gehorchten ihm letztendlich wieder und er konnte sich unter Aufbringung seiner letzten Kraftreserven und auch dann nur unter brachialen Schmerzen zuerst auf seine Knie und dann auf die Beine wuchten. Diese waren schwach und konnten sein Gewicht nicht lange aufrecht halten, daher stolperte er sehr unsanft aus dem Gebüsch. Sein Schädel dankte ihm das mit einer schmerzhaften Explosion, die ihren Ursprung am Hinterkopf hatte und sich einen Weg über die Schädeldecke bis hin zu den Augen bahnte. Gleichzeitig wurde seine Sicht von kleinen weißen Sternchen getrübt, die sich in sein Blickfeld schoben und er musste sich zusammen nehmen, um bei Bewusstsein zu bleiben. Der Anblick, der sich den beiden unfreiwilligen Rettern bot, war nichts für schwache Gemüter. Das grelle Licht ihrer Lampen offenbarte ihnen ein blutgetränktes, bis zum Brustbein aufgeschnittenes Hemd und sie konnten die klaffende Wunde an seinem rechten Oberbauch erkennen. Die Mitleid erregende Gestalt vor ihnen war von oben bis unten verdreckt und mit Kratzern überzogen, manche davon so tief und lang, das man meinen konnte, sie wären Schnittwunden. Darüber hinaus lief Blut aus seinem rechten Mundwinkel.
„Bitte... helft mir...“
Am Ende seiner Kräfte angelangt, brach Russell erneut zusammen
und blieb regungslos vor den beiden Männern liegen.
„Scheise, was machen wir jetzt? Hast du den gesehen? Der is’ erledigt!“
Jacob war außer sich und wusste nicht wohin mit seinen Gedanken. „Wir müssen den schleunigst hier weg bringen, der macht’s nich‘ mehr lange, wenn er überhaupt noch ne Chance hat.“ gab Hank zur Antwort, der im Gegensatz zu Jacob relativ gefestigt wirkte. Vielleicht hatte er das der Erleichterung zu verdanken, die in ihm aufstieg, als fest stand, dass es sich um die Person im Gebüsch nicht um einen Kettensägen schwingenden Psychopathen handelte. Er näherte sich Russell's Körper und musterte ihn unter dem Strahl seiner Lampe.
An seinem Hinterkopf war eine klaffende Wunde auszumachen, deren starke Blutung schon den gesamten oberen Rücken in ein dunkles Rot tauchte.
“Der hat’s fast hinter sich. Die Platzwunde am Schädel, die Kratzer am ganzen Leib, die Anhöhe... Wenn du mich fragst hatte der Kerl Glück im Unglück und is’ die Anhöhe runter gekracht, bevor ihn der Typ mit der Säge zerfetzen konnte. Wenn der Irre hier noch rum rennt sollten wir zusehen, das wir Land gewinnen.“
Jacob dachte über das, was Hank gesagt hatte nach, und fing an, ein Szenario zu entwerfen. „Wenn’s schnell gehen muss brauchen wir n Krankenwagen! Der kommt schneller ins nächste Krankenhaus als wir. Außerdem macht der ne Erstversorgung. Aber so wie der Typ aussieht werden sich die Bullen sicher auch dafür interessieren und wenn
Sheriff Dixon fragt was wir nachts bei dem Wetter im Wald wollten was sagen wir dann? Picknick oder was?“ Jacob dachte dabei an die rechtlichen Konsequenzen der Wilderei und obwohl Hank eigentlich die gleichen Gedanken hegte, konnte er den Mann nicht einfach so zum sterben zurück lassen. „Ich hab ne Idee. Wir bringen den Kerl aus’m Wald und rufen den Notarzt an. Noch bevor die anrücken sind wir weg und niemand kann uns an n Arsch kriegen.“
Jacob gefiel Hank’s Idee und fragte, wie sie ihn am besten zum Waldrand bringen könnten. „Ganz einfach, du nimmst ihn an den Beinen, ich an den Armen und dann los.“
„Vergiss es! Auf gar keinen beschissenen Fall!“ Jacob konnte nicht glauben was sein Freund da von sich gab.
„Wer leuchtet dann den Weg aus? Ich seh’ meine Hand vor Augen nich’, ohne Licht kommen wir hier nie raus.
Und wenn das dieser Sammler war und der mit ner Kettensäge Leute abschlachtet will ich was anderes als nur den Arsch von Captain K.O. hier in den Händen halten, falls er uns n Besuch abstattet.“ Jacob hatte recht. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Sammler hier noch irgendwo im Schutz der Dunkelheit lauerte, war hoch.
„Ok, ich pack ihn unter den Armen und zieh ihn dann eben bis zum Waldrand wenn’ sein muss, du nimmst die Glock und die Mag-Lite und leuchtest den Weg aus. Falls du was siehst weißt du was du zu tun hast.“ Jacob war einverstanden und beide machten sich auf den Weg durch die Finsternis, die vor ihnen lag. Sie konnten die Strecke ohne Zwischenfälle zurück legen, was ihnen jedoch Sorge bereitete war Russell’s Zustand. Ab und zu riss er seine Augen weit auf und sprach fast wie in einem Fiebertraum zusammenhangslos über jene furchtbaren Dinge, die er diese Nacht anscheinend durchleben musste.
„Arzt.... Fleischer.... schneidet bei... Hütte....Wald... Altar.... muss raus... muss weg... Lichtstrahl blendet.... seh' nichts.... Säge....höre Säge.... grelles Licht... nimm das Licht weg, kann nichts sehen...geh weg.... Hilfe...“
„Is’ schon in Ordnung Kumpel, wir sind gleich da und dann wird das schon wieder, halt einfach noch n paar Minuten durch, ja? Nich' die Augen schließen, schön bei uns bleiben!“ Hank sprach ihm Mut zu und wollte ihn mit seinen Worten bei Bewusstsein halten, jedoch zeigte das keinerlei Wirkung und Russell driftete immer öfter in die Besinnungslosigkeit ab, aus der er nur noch ab und an erwachte. Nahm er Hank’s Stimme überhaupt wahr? Wusste er, das er, was auch immer sich heute zugetragen hatte, zumindest bis jetzt überlebt hatte und auch eine relativ gute Chance hatte, am Leben zu bleiben? Oder verabschiedete sich dieses geschundene Häufchen Elend innerlich bereits von dieser Welt?
“ Ich glaub’ der macht’s nich’ mehr lange!“ stellte Hank fest. „Wie weit is’ es noch?“
„Wir sind gleich da, etwa fünfzig Meter noch, dann sind wir beim Waldrand.“ gab Jacob zur Antwort, während er mit der Meg-Lite Taschenlampe die letzten Meter vor ihnen ausleuchtete.
“Gut so, der Kollege hier verabschiedet sich nämlich immer öfter“
“Was mache ich hier... wo bin ich und was sind das für Stimmen?“
Russell’s Zustand verschlechterte sich tatsächlich dramatisch. Seine Sinne waren mittlerweile so enorm vernebelt, das er nicht einmal mehr wusste, wer die beiden Männer waren und was sie von ihm wollten. An das mordlüsterne Ungetüm das ihn heute beinahe massakriert hätte erinnerte er sich hingegen sehr gut. Zu gut. Diese Nacht würde ihn wohl für immer in seinen Träumen heimsuchen, vorausgesetzt er würde überleben. „Endlich... draussen... gut......“ Als sie den Waldrand erreicht hatten registrierte Russell das, bevor ihn die Ohnmacht erneut zur Tatenlosigkeit zwang. „Behalt du den Wald im Auge, ich ruf den Notarzt“ sagte Hank, während er sein Handy aus der Brusttasche zog. „Wenigstens hat man hier Empfang.“ Er wählte die Nummer, gab ihren Standort durch und betonte, dass es ich um einen Notfall handle und der Verletzte definitiv sterben würde, sollte man ihm nicht unverzüglich Hilfe zukommen lassen. Als das Telefonat beendet war sah er auf Russel herab und Jacob fragte Hank, ob er denkt das er überleben wird. „Das liegt ab jetzt an den Ärzten. Sobald wir die Sirenen hören fahren wir los.“ Knapp fünf Minuten später heulten die Sirenen des Krankenwagens aus einiger Entfernung durch die stürmische Nacht, das Zeichen für die beiden Wilderer, zu verschwinden. Sie ließen Russell bewusstlos am Parkplatz vor dem Waldrand liegen und erhellten seinen regungslosen Körper mit drei Knicklichtern, so dass es die Einsatzkräfte einfacher hatten, ihn zu finden. Die Rücklichter von Hank’s Ford Truck verschwanden etwa zweihundert Meter östlich nach einer scharfen Linkskurve, fast zur gleichen Zeit kam der Krankenwagen mit Blaulicht über eine Kuppel aus westlicher Richtung mit hoher Geschwindigkeit angefahren.
Erlösung
„Bin ich am Leben? Und wenn ja, wo bin ich? Und wo sind die Schmerzen hin? Ich fühle mich... gut. Die Schmerzen, sie sind weg! Bin ich im Jenseits?“
Russell versuchte die Augen zu öffnen und wurde umgehend von grellem weißem Licht geblendet. Für den Bruchteil einer Sekunde wähnte er sich auf den maroden Tisch des Schlachthauses zurück, wieder in der Gewalt dieses Tieres. Doch das hier war anders, er spürte es.
Zu dem blendenden Weiß gesellten sich nun Stimmen, die schnell und abgehackt sprachen und er nahm das Piepsen verschiedener elektronischer Gerätschaften wahr. Nun schob sich ein Schatten, der die Form eines Kopfes hatte von oben in sein Sichtfeld. „ ...das nächste ist das St. Joseph Hospital, bei dem Verkehr und mit Blaulicht nicht länger als etwa zehn Minuten entfernt.“ Russell konnte nicht alles verstehen, was die Personen um ihn herum sagten, doch der schrille Klang der Sirenen zerstörte die Illusion, er wäre bereits im Jenseits angekommen, schlagartig. Er war in einem Krankenwagen auf dem schnellsten Weg ins nächstgelegene Krankenhaus. „Ich hab’s geschafft... Ich hab’s verdammt noch mal geschafft! Ich bin in Sicherheit!“
Mit diesem warmen, friedvollen Gedanken, der ihm sämtliche Ängste der letzten Stunden nahm, schloss er seine Augen erneut und hoffte, das er seine Frau Carol und seine geliebte Tochter Maggie erblicken würde, wenn er sie das nächste Mal öffnete.
Der Krankenwagen erreichte das St. Jospeh Hospital wenige Minuten später und Russell wurde direkt für die Operation vorbereitet. Er bekam davon nicht wirklich viel mit. Nur hin und wieder befreiten ihn laute Stimmen oder die stellenweise ruppige Fahrt, ausgelöst durch Schlaglöcher und Unebenheiten auf der Strasse, über die der Krankenwagen raste, aus seiner Ohnmacht. Diese trat jedoch nur sporadisch in Erscheinung und erinnerte daher eher an einen unruhigen Schlaf. In den kurzen Momenten, in denen er wach war, konnte er Umrisse erkennen, allerdings erschien es ihm so, als wäre seine Umgebung in feinen weißen Nebel getaucht. Er bekam nur wenige Dinge bewusst mit, zum Beispiel das ihn die Sanitäter mit der Trage aus dem Krankenwagen in das Krankenhaus brachten. Das nächste Mal, als er einen Blick auf das Geschehen um ihn herum werfen wollte, war er bereits auf einem Krankenbett liegend auf den Weg zum Operationssaal. „ ...ssell, Jenkins, 34 Jahre alt, Schnitt am rechten Oberbauch, Platzwunde am Hinterkopf, Verdacht auf Gehirnerschütterung, diverse Schürfwunden, Dr. Stone ist bere...." Mehr vernahm er nicht, bevor seine Augenlieder erneut zufielen. Als er sie ein Drittes mal öffnete, lag er immer noch in dem Krankenbett und nun sah er einen Arzt mit dem Rücken zu ihm gewandt neben ihm stehen, der anscheinend gerade damit beschäftigt war, sich die Hände über einem Spülbecken zu desinfizieren. Russell verspürte einen inneren Frieden bei diesem Anblick. Er war den Fängen dieses blutrünstigen Ungeheuers entflohen, wenn auch nur knapp und definitiv nur durch die Hilfe seiner unbekannten Retter, doch er hatte es geschafft. Und nun würde sich der Doktor um seine Wunden kümmern und ihm sein Überleben sichern. Bald dürfte er seine geliebte Familie wieder sehen. „Gott, ich danke dir!“ Er wollte seinen Augen wieder etwas Ruhe gönnen, schloss sie erneut und hoffte auf einen baldige Anästhesie, um diesen Alptraum endlich hinter sich lassen zu können, als er plötzlich ein Summen vernahm. Im ersten Moment konnte er die Melodie nicht zuordnen, doch dann traf es ihn wie einen Schlag in die Magengrube. „Mozart’s 21. Klavierkonzert!“
Der Doktor drehte sich nun zu ihm um und er blickte in die selben, von Wahnsinn und Hass überzogenen Augen, die ihm bereits zuvor im Wald beinahe um den Verstand brachten. Russell war bereits an diverse Schläuche angeschlossen, die das Anästhetikum, welches aus den kleinen Flaschen am anderen Ende der Leitungen floss, intravenös in seinen Kreislauf pumpten. Der Chirurg kam auf ihn zu und als er an den Fläschchen die Durchlaufmenge des Anästhetikums neu justieren wollte, sah Russell, das seine rechte Hand bandagiert war und die Wunde darunter anscheinend noch blutete. Sein Ende fürchtend verfiel Russell in beispiellose Panik, wollte sich von dem Krankenbett los reißen, fliehen, um Hilfe schreien... Doch es war vergebens. Das Betäubungsmittel war bereits so stark in seinem Blut konzentriert, dass er trotz der Todesangst, die sich wie so oft zuvor in dieser Nacht in ihm erhob, nicht fähig war, zu handeln. Er konnte nicht schreien, er konnte sich nicht bewegen, er konnte seine Augen nicht mehr offen halten. Das letzte was er sah, bevor die Besinnungslosigkeit erneut von ihm Besitz ergriff, war das wölfische Grinsen des Arztes, vor das sich langsam ein medizinischer Mundschutz schob.
Begleitet von der summend vorgetragenen, melodischen Symphonie Mozarts schloss Russell ein aller letztes Mal seine Augen.
1983 – 2017
Geliebter Ehemann und Vater
Möge deine Seele im Licht Gottes Frieden finden