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Der Ruhrpottkannibale
Er ist ein sehr freundlicher Mann, aufrichtig und nett. Immer begrüßt er einen mit einem Lächeln. Er ist ein Nachbar, wie ihn sich nur die meisten Menschen wünschen könnten. Alten Müttern hält er die Türen auf und mit alten Herren im Haus ist er jederzeit zu einem heiteren Gespräch aufgelegt. Er pflegt „Grüß Gott“ zu sagen, statt „Guten Tag“, was in dieser Region sehr ungewöhnlich ist, jedoch von allen als äußerst sympathisch aufgefasst wird. Letztendlich zeigt es nur, wie gläubig und gottesfürchtig er in Wirklichkeit ist. Soweit man weiß, geht er seiner Arbeit gewissenhaft nach, er ist zudem fleißig und kollegial. Geht er mit seinen Kollegen in die Bierstuben lässt er sich nie lumpen und gibt oft mehrere Runden. Er ist stets gepflegt und adrett gekleidet, das Haar gekämmt und der Schnurrbart schwungvoll leicht nach oben gespitzt. Es ist ein verdächtiges Wunder, wieso der nette Junggeselle im Haus noch nicht verheiratet ist. Dies fragen sich vor allem die alten Weiber. Denn auch zu Kindern ist er nett und hat immer kleine Schokoladenstücke in seiner Tasche, die er gern verschenkt und der unter der hungernden Meute verteilt.
Ich habe bereits viel über den Mann in meinem Haus nachgedacht. Ich glaube, viele mögen ihn, weil er das ist, was wir in diesen Zeiten brauchen. Er ist ein Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen. Er erinnert uns an Zeiten, in denen das Leben noch gut war und alles seine Ordnung hatte, in denen keiner leiden oder hungern musste, an denen der Himmel blauer und die Parkwiesen grüner waren. Tage an denen ein Mann seiner einfachen Tätigkeit nachging, um seine Familie zu nähren, die Kinder zur Schule zu schicken und seine Frau glücklich zu machen. Seine Augen sagen aber auch „Aufbruch! Das Alte ist vorbei, lasst uns nach vorn sehen! Jammern und Klagen hat noch nie geholfen! Wir müssen anpacken und für unsere Zukunft arbeiten!“. Insofern war er oft ein buntschimmernder Lichtblick im grauen, verdunsteten Essen. Hatte er je darüber nachgedacht in die Politik zu gehen?
Denn gute Politiker werden in diesem Jahrhundert gebraucht. Starke und standhafte Männer, bei denen alte Werte noch Bedeutung haben. Der bereit ist für seine Linie im Parlament zu kämpfen. Kein plumper Sozialdemokrat, sondern ein großer kaiserlicher Adler der Demokratie würde er sein. Er würde sich nicht scheuen unbequeme Fragen zu stellen, genauso wenig, wie er keine Scheu davor hätte dem Volk die Wahrheit zu sagen: „Die Jahre werden hart, aber wir werden es überstehen!“. Und wir wären ihm alle gefolgt.
Doch vielleicht steht ihm auch eine Eigenschaft im Weg, die ebenfalls so sympathisch macht, wie seine Tugendhaftigkeit, nämlich seine Bescheidenheit. Zuviel Trubel um seine Person, würde ihm bestimmt nicht gefallen, eher hält er sich im Hintergrund. Er beobachtet lieber, mit scharfem geübtem Blick. Er vermag stets die Situation richtig einschätzen zu können, Kosten und Nutzen abzuwägen, um dann alles zum Wohle der Allgemeinheit zu entscheiden. Ein Mann der Ökonomie, das ist er wohl ohne Zweifel.
Doch er hat wohl auch nicht immer Glück, was seinen Charakter jedoch nur stärken wird. Denn immer hört man in den Rohren des Hauses ein lautes Poltern, als würden schwere Teile in den Abflussrohren wüten. Keiner konnte sich diese Merkwürdigkeit erklären, die die Kinder nachts in Angst und Schrecken versetzte. Für sie musste es sich um einen Geist handeln. Das war natürlich Blödsinn, doch selbst der nette Herr Nachbar konnte sich keinen Reim auf dieses Rätsel machen, obwohl er gedankenvoll sein Kinn auf seine Hand stützte, während die andere damit beschäftigt war, seinen Schnauzbart zu zwirbeln. Allgemein vermute ich, dass er große Probleme mit seinen Abflüssen hatte. Vielleicht hatte er in Wahrheit auch Probleme mit seiner Verdauung. Das beschämt ihn natürlich sehr. Dass ich das wusste, war dem Umstand des städtischen Miteinanderlebens geschuldet. Manchmal konnte man alles hören, was sein Nachbar im Bad machte und der nette Herr Nachbar hat oft Ärger, so wie man das hört.
Einen Schrecken bekam ich jedoch, als ich neulich über den Schwarzmarkt ging. Beziehungsweise gingen musste. Denn die Zeiten nach dem Krieg waren nicht einfach, alles war rationalisiert, Kolonien gab es nicht mehr und so waren viele Menschen gezwungen auf dem Schwarzmarkt teuer und im Zwielicht der Illegalität zu kaufen. Und da sah ich auch meinen Herrn Nachbarn, den ich immer als zu ehrenhaft eingestuft hatte, als das er sich in solchen Gegenden aufhalten würde. Doch er trieb sich nicht nur da rum, er kaufte auch nichts… Er verkaufte. Fleisch von bester Sorte und Qualität.
Sofort ging ich wieder nach Hause und dachte über die Geschehnisse nach. Verdiente er so sein Geld? Konnte er deshalb stets Kollegen eine Extrarunde Bier ausgeben? Hatte er deshalb stets Schokolade in den Taschen? Tat er das alles aus Profit? An diesem Tag war Essen für mich wieder ein Stück grauer geworden.
Als ich wieder auf dem Schwarzmarkt war sah ich meinen Herrn Nachbarn wieder. Wieder verkauft er Fleisch. Von bester Sorte und bester Qualität natürlich. Als er mich, spitzfindig und mit einem breiten Lächeln unter dem Schnauzbart schon von weitem grüßte, da fiel es mir ein. Er verkaufte nicht aus Profit. Er verkaufte nicht um seines Willen. All das tat er stets für die Menschen. Mit seinem Fleisch konnten sie wieder einen Sonntagsbraten machen, es gab wieder Wurst und Schnitzel für die Menschen, die sich bereits begangen sich an mangelhafteste Qualität zu gewöhnen. Und somit war die Welt wieder in seinen Angern und ich hatte meinen Herrn Nachbarn wieder. Der nette Bierrunden ausgebende, Türen aufhaltende, Schokolade verschenkenden Junggesellen, der über mir wohnt. Und als Zeichen der Anerkennung ging ich zu ihm und bat ihm um ein gutes Stück Fleisch. Er gab ein Schnitzel zu einem nachbarschaftlichen Freundschaftspreis. Ich bedankte mich vielfach, ja sogar schon beinahe peinlich unterwürfig.
Jeder Bissen am Abend schmeckte voll Genugtuung und Zufriedenheit. Wie er es auch machte, es war das beste Schnitzel, dass ich jemals im meinem Leben gegessen hatte. Lag es an meinem Nachbarn oder lag es am Fleisch? Jetzt, wo ich nach all den Jahren darauf zurückblicken kann, muss ich sagen: das Fleisch.