Der Ruf
Der Ruf
Die Nacht war stürmisch, aus der Ferne drang Gewittergrollen. Hydros stand auf einer der Steinklippen und hörte, wie sich der Sturm brüllend gegen die Felswände warf. Zahlreiche Blitze erleuchteten die Ebene unter ihm. Der Wind zerrte an seiner Kleidung, doch Hydros war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um es zu bemerken. Hatte er den Ruf der Amazonen wirklich gehört? Er wusste es nicht. Mit ihm gab es nur noch fünf kampferprobte Männer in der Gruppe. Würde einer von ihnen umkommen, wäre der Stamm unweigerlich zum Aussterben verdammt. Niemals würden sich die Amazonen mit dem Mitglied eines Stammes einlassen, der für die Erziehung des gezeugten Jungen und seiner Verteidigung nicht genügend Männer besaß. In den letzten Jahren waren zwei aus seiner Gruppe dem Ruf der Amazonen gefolgt, aber keiner von ihnen war zurückgekehrt. Der Kampf um das Vorrecht der Zeugung war gefährlich und er hatte viele Geschichten gehört über Frauen, die mehr Kampferfahrung besaßen als acht Männer.
Doch noch nie hatten die Amazonen jemanden gerufen, der so jung war wie er. Mit seinen siebzehn Jahren hatten ihn die Männer zwar so weit ausgebildet, dass er im Gebirge überleben konnte, doch das Bezwingen einer Amazone war etwas ganz anderes.
Plötzlich spürte Hydros eine Hand auf seiner Schulter. Er drehte sich um und erblickte Kirak. Er war der letzte des Stammes, dem es gelungen war, eine Amazone zu besiegen.
„Kannst Du nicht schlafen, mein Sohn?“ Die Stimme Kiraks klang besorgt.
„Sie haben mich gerufen, Vater!“
„Wer hat Dich gerufen?“
„Die Amazonen! Ich glaube, ich habe diese Nacht ihren Ruf gehört.“
Kiraks Gesicht wurde ernst. „Bist Du Dir sicher?“
„Es war eine innere Stimme, die mir befahl, zu den Amazonen zu gehen.“
Kirak nickte. „Auch ich war mir damals unsicher, als ich den Ruf der Amazonen hörte. Doch ich war viel älter und stärker gewesen.“
„Was soll ich tun?“
„Du weißt, wie wichtig der Ruf für uns ist. Ich wünschte, wir hätten Dir mehr beibringen können und mehr von den Amazonen erzählt. Aber jetzt ist es zu spät. Sei klug und höre auf Deine innere Stimme. Sie wird Dir sagen, wie Du Dich verhalten musst.“ Kirak drehte sich wortlos um und ging.
Hydros war drei Tage und Nächte durch die Ebene gewandert, als er endlich die Festung der Amazonen sah. Auf einer schmalen Landzunge gelegen, glänzten die Häuser und Mauern im dunklen Gestein. Nur ein einziger, von Wachtürmen gesicherter Weg führte ins Innere der Stadt. Er nahm seinen Bogen und hielt ihn zum Zeichen seiner friedlichen Absicht mit beiden Händen über den Kopf. Langsam schritt er auf die hohen Stadttore zu. Sie blieben verschlossen. Dafür öffnete sich knarrend eine kleine Pforte und die Priesterin der Amazonen trat in Begleitung zweier Kriegerinnen heraus.
„Hydros vom Geschlecht der Agonier, warum bist Du gekommen, wir haben Dich nicht gerufen!“
Hydros erstarrte. Eine Rückkehr zu seinem Stamm war jetzt unmöglich. Jeder würde denken, dass er zu feige gewesen wäre, mit einer Amazone zu kämpfen.
Er nahm allen Mut zusammen und sagte: „Ich glaubte, Euren Ruf zu hören, Hohepriesterin. Verzeiht mir, wenn ich mich geirrt habe, aber zurück kann ich nicht mehr.“
Die Priesterin nickte. „Ich weiß, in welcher Lage sich Dein Stamm befindet und warum Du gekommen bist. Aber wir kämpfen nicht mit Kindern.“
Zornig erwiderte Hydras: „Ich bin kein Kind mehr und man hat mich sehr wohl in den Techniken des Zweikampfes unterrichtet. Wenn Du um unsere Lage weißt, so schicke mich nicht fort.“
Die Priesterin lächelte: „Du sprichst wie ein Dummkopf und Du wirst sterben wie ein Dummkopf. Ich erlaube Dir, Dein Schicksal selber zu wählen. Gehe in die Stadt und suche Dir eine Amazone, die bereit ist, einen Zweikampf mit Dir zu bestreiten. Aber Du hast nur bis zum Sonnenuntergang Zeit, länger können meine Kriegerinnen Deine Anwesenheit nicht ertragen.“
Hydros irrte durch die Straßen der Stadt auf der Suche nach einer Kriegerin, die er hätte besiegen können. War er noch am Anfang sicher gewesen, eine geeignete Gegnerin zu finden, so war sein Mut jetzt merklich gesunken. Den Frauen, denen er bisher begegnet war, konnte er niemals gegenüber treten. Zu stark erschienen sie ihm mit ihren muskulösen Körpern und der mehrfach eingeschnürten rechten Brust, das Merkmal jeder erfahrenen Bogenschützin. In ihren Gesichtern hatte er nur Hass und Verachtung entdeckt. Nun hatte er die Unterstadt mit ihren engen Gassen und alten Hütten erreicht, in denen sich nie das Sonnenlicht zeigte und die erfüllt waren vom Geruch menschlicher Exkremente. Er tastete sich vorsichtig an den Häusern vorbei, da sah er sie. Eine kleine, ältere Frau, gezeichnet von unzähligen Narben mit einer verkrüppelten Statur, die auf der Stirn aber noch den roten Fleck der Empfängnisfähigkeit trug. Eine innere Stimme sagte ihm, dass dies die Kämpferin sein musste, die er besiegen könnte.
„Was willst Du von mir?“ fragte die Frau misstrauisch.
„Ich habe Dich gewählt, weil Du die Mutter meines Sohnes werden sollst!“
Die Frau lachte höhnisch. „Du Kleinkind wagst es, so mit mir zu reden. Den Schädel werde ich Dir einschlagen.“ In gebückter Haltung schlurfte sie auf ihn zu und starrte ihn an. Ihr Gesicht wurde hart: „Du hast mich gewählt und weißt, was dies bedeutet?“
„Ja!“ antwortete Hydros eingeschüchtert.
„Dann bereite Dich auf den Kampf vor, es ist Dein letzter. Wir sehen uns in der großen Arena.“ Im nächsten Moment war die Frau in ihrem Haus verschwunden.
Die große Arena der Amazonen war bis auf den letzten Platz besetzt. Hydros fühlte sich von lauter Feindinnen umgeben, als er das sandige Rund betrat. In der Mitte wartete bereits die Priesterin. Er atmete tief durch, dann schritt er mit erhobenem Haupt auf sie zu. Von den Rängen war lautes Pfeifen und Schreien zu hören, doch Hydros nahm die Geräusche kaum wahr. Er wusste, dass er seine Chance nur nutzen konnte, wenn sich Geist und Körper auf den bestehenden Kampf konzentrierten.
„Hydros vom Stamm der Agonier, hast Du eine Frau gefunden, die bereit ist, mit Dir zu kämpfen?“ fragte die Priesterin mit lauter Stimme.
„Ja, das habe ich!“ entgegnete Hydros feierlich.
„Dann soll diese Frau vortreten.“
Aus der Menge löste sich eine Gestalt, die ihm völlig verändert erschien. Die Frau, die ihm jetzt entgegen trat, war ohne Zeichen von Schwäche, ihre Muskeln und Sehnen traten deutlich unter der Haut hervor. Ihr ganzer Körper glänzte von dem Fett, mit dem sie sich eingerieben hatte. Nur an ihren Narben konnte er erkennen, dass es sich um die gleiche Frau handelte, die er erst vor Stunden angesprochen hatte.
„Ist es diese, die Du gewählt hast?“
Hydros nickte.
Die Priesterin flüsterte: „Du hast wie ein Dummkopf gewählt und Du wirst wie ein Dummkopf sterben.“
Dann hob sie beide Arme und rief: „Der Kampf soll beginnen.“
Sie umkreisten sich lauernd. Hydros versuchte, die Frau durch eine Körpertäuschung am Arm zu fassen, doch seine Hände glitten an ihr ab. Die Frau lachte: „Ist das alles, was Dir einfällt?“ Im nächsten Moment trat sie heftig gegen seinen Oberschenkel, dass dieser kurz einknickte. Sein Atem ging schneller. Er musste vorsichtiger sein, wenn er diesen Kampf gewinnen wollte. Plötzlich kam ihm eine Idee. Blitzschnell glitt seine Rechte auf den Boden und er warf ihr eine Handvoll Sand ins Gesicht. Gleichzeitig sprang er hinter ihren Rücken und drückte mit seinem Unterarm ihre Kehle zu. Verzweifelt versuchte die Frau, mit ihren Armen nach ihm auszuschlagen, doch er ließ nicht locker, bis endlich ihr Körper nachgab und sie zusammensackte.
Hydros beugte sich atemlos über ihren Körper, dann hob er beide Arme, blickte zu den Zuschauer und stimmte ein Siegesgeheul an. Die Frauen auf den Rängen schrien vor Wut, drohten mit ihren Fäusten. Er drehte sich langsam im Rund und genoß den Anblick der tobenden Frauen. Doch plötzlich wurde es still, die Gesichter der Frauen entspannten sich und bevor Hydros noch begriff, legte sich ein Arm wie eine eiserne Klammer um seine Brust. Er spürte, wie sich das verschwitzte Gesicht der Frau an seines presste und ihr Atem über seine Wange strich.
„Hydros, Du sollst wissen, dass ich Dich hierher gerufen habe, bevor meine Lebenskraft endgültig schwindet! Bedanken wollte ich mich für Deinen Vater Kirak, dem Feigling und Lügner, der mich vor den Stadttoren überfiel und schwängerte. Bedanken möchte ich mich bei Dir, weil Du wie ein elender Wurm neun Monate in meinem Leib gehaust hast und mir meine Kraft nahmst. Und ich wollte mich für die Schmerzen bedanken, die ich bei Deiner Geburt hatte und für die Übelkeit, die ich jede Minute bei Deinem Anblick empfand. Ich habe Dir Dein Leben gegeben, nun nehme ich es Dir wieder.“
Hydros spürte eine kalte Klinge an seinem Hals, im nächsten Moment durchzuckte ihn eine Welle von Schmerz, als sie seine Schlagader durchtrennte.