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Der Ruf des Jägers

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27.01.2013
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Der Ruf des Jägers

Eine ganze Weile hatte keiner etwas gesagt. Das Licht leicht gedimmt, starrten Rainer und Juri wie angenagelt auf das Brett. Abgesehen vom leise vor sich hin knisternden Holz im Kamin und regelmäßigen Atemzügen, die daran erinnerten, dass die beiden noch am Leben waren, war nichts zu vernehmen.
Rainer und Juri spielten Schach. Das bereits seit vielen Jahren, regelmäßig einmal im Monat. Es war zum festen Ritual geworden. Ebenso wie Rainers Bedürfnis, im Verlauf des Abends, seinen jeweiligen Kummer zum Anlass nehmend, sich auszuheulen. Juri hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, ein ums andere Mal zugleich Beichtvater als auch eine Art Therapeut für seinen Freund zu sein. Dennoch hegte er jedes Mal insgeheim die Hoffnung, Rainer könnte möglicherweise eine Sitzung auslassen.
Die Partie währte noch noch nicht lange, als Rainer aufblickte. „Übrigens, ich habe nachgedacht“., sagte er mit erwartungsvoller Stimme.
Juri tat zunächst, als wäre er tief in Gedanken versunken. Also wiederholte Rainer, diesmal lauter „ICH HABE NACHGEDACHT“.
„Und? Wie war's?“, antwortete Juri leicht widerstrebend.
„Wie, was? Nein, im Ernst! Ich habe nachgedacht...“.
Juri seufzte auffällig laut. Er wusste, was nun folgen würde. Dennoch versuchte er zunächst abzulenken – oder zumindest das Unvermeidliche hinaus zu zögern.
„Willst du nicht lieber deine heißgelaufenen Gehirnzellen dafür verwenden, bessere Züge zu machen. Du stehst schon wieder miserabel!“, gab er zu bedenken.
„Nein, es ist diesmal anders. Ich bin zu einer echten Erkenntnis gelangt.“, beharrte Rainer hartnäckig.
Juri, inzwischen resignierend und keine Chance mehr sehend, dem Gespräch auszuweichen, lehnte sich im Sessel zurück, leerte seinen Cognacschwenker und goss sich gleich darauf einen Doppelten ein. Er vermochte vielleicht nicht, Rainer davon abzuhalten, seine meist verqueren Gedanken von sich zu geben, aber er konnte zumindest bei sich für etwas Betäubung sorgen.
„Also gut, dann schieß mal los!“, sagte er anschließend, sich durchaus bewusst, dass Rainer keiner weiteren Aufforderungen bedurfte.
„Nette Männer fallen durch.“, sagte Rainer
Juri wartete und schwieg. Als nichts mehr folgte, blickte er Rainer vorsichtig an.
„Und? War das alles?“, fragte er zögerlich.
„Hm, ja...“
„Gut! Können wir dann weiterspielen?“
„NEIN!“
„Also gut, dann erklärs mir.“, forderte Juri seinen Freund auf und verfluchte sich zugleich, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen.
„Wo soll ich da anfangen...?“, murmelte Rainer, während eine tiefe Zufriedenheit in seinem Gesicht Einzug hielt.
„Wo du willst. Aber bitte, konzentriere dich aufs Wesentliche.“
„Ja, also ich habe nachgedacht.“
„Das hatten wir bereits.“
„Dabei gelangte ich zu der Erkenntnis, dass nette Männer stets durchfallen.“
„Auch das hatten wir.“
„Na ja, wenn du mich ständig unterbrichst, muss ich immer wieder von vorne beginnen.“
Juri seufzte leicht verzweifelt, schwieg aber, nickte Rainer zu und machte eine auffordernde Geste.
„Das Ganze ist gewissermaßen genetisch. Frauen können das regelrecht riechen!“
Ah, heute wieder das Frauenthema, dachte sich Juri, unterbrach Rainer aber nicht und lauschte mit wachsender Besorgnis, dem was da noch kommen mochte.
„Sie wollen gar keine netten Männer. Sie stehen auf arrogante, selbstgefällige Blender, die sie mit hohlen Phrasen und sülzigen Versprechen hypnotisieren. Sie gieren regelrecht danach belogen zu werden. Und umso farbenfroher und schillernder die Himmelswolkenschlösser, desto mehr verklärt sich ihr Verstand, zu einer einzigen Hormonpampe in den Händen des Frauenflüsterers.
Juri zuckte innerlich zusammen. Rainer redete sich diesmal gefährlich schnell in Rage. Im Schein des Kaminfeuers begannen bereits kleine Leuchtfeuer in seinem Blick zu irrlichtern. Juri überlegte gerade noch, wie er eine beschwichtigende Antwort formulieren konnte, um gewissermaßen antipsychotisch vorzubeugen, als sich plötzlich die Tür öffnete.
„Ich habe gerade frische Kekse gebacken und dachte, ihr mögt vielleicht welche.“, Juris Frau, Natascha, trat mit einem silbernen Tablett voll noch warmer und verführerisch duftender Gebäckköstlichkeiten ein.
Rainer fuhr herum, wie ein Wolf, der ein hilfloses Reh erblickte und gab einen undefinierbaren animalischen Laut von sich. Flugs eilte Juri zu seiner Frau.
„Danke Schatz! Das ist sehr lieb von dir. Ich nehme dir das ab.“, sagte er und griff nach dem Tablett.
Natascha bedachte ihn mit einem irritierten Blick. In ihrem Gesicht spiegelte sich die unausgesprochene Frage: „Ist alles in Ordnung?“
Juri hob leicht die Augenbrauen und wippte gerade merklich mit dem Kopf.
„Frag nicht! Ich erzähl dir später alles...“ sollte das heißen. Nach über zehn Jahren Ehe verstanden sich die beiden beinahe wortlos. Juri setzte sich wieder und platzierte das Tablett mit Plätzchen auf einen Teewagen gleich neben dem Tisch mit dem Schachbrett.
Als sich die Tür hinter seiner Frau geschlossen hatte, wendete er sich wieder Rainer zu: „Also gut, raus mit der Sprache! Wer war es, wer ist dafür verantwortlich, dass du so drauf bist?“
Rainer stutze und senkte verlegen den Blick. „Es war der DJ.“, erwiderte er kleinlaut.
„Der DJ!? Das klingt wie ein Ballermann-Schlager!“
„Ja, aber es stimmt!“
„Das musst du mir nun wirklich erläutern.“ Diesmal war Juris Interesse nicht einmal geheuchelt. Das Ganze schien derart absurd, dass ihn tatsächlich ein gewisses Maß an Neugier überkommen hatte.
„Alles begann damit, dass ich mich für einen Kurs an der Volkshochschule anmeldete. Einem Ü30-Singlekurs Ikebana leicht gemacht.
„Ike-was? Hat das was mit Möbeln zu tun?“
„Nein! Ikebana! Die japanische Kunst des Blumensteckens.“
Juri lag eine Entgegnung auf der Zunge; am Liebsten hätte er seinem Freund gesagt, dass er bei solch einem Kurs mit hoher Wahrscheinlichkeit eher einen schwulen Dekorateur kennen lernt, als eine Frau fürs Leben. Er entschied sich aber zu schweigen.
„Der Kurs war gut besucht“, fuhr Rainer fort, „überwiegend Frauen, was ich nicht gerade schlecht fand, die meisten davon allerdings zu alt oder bereits vergeben. Bis auf Mandy.“
„Mandy?“
„Ja, Mandy!“
„Lass mich raten: Plattenbau, Osthang, Jahrgang um die 1980 und frisch getrennt oder geschieden?“
„Na ja, und? Was soll das heißen?“
„Ach nix. Red nur bitte weiter.“
„Also Mandy war einfach toll! Bezaubernd! Ich kam mit ihr schnell ins Gespräch, wir funkten gleich auf einer Wellenlänge. Schon am zweiten Kursabend, gingen wir anschließend etwas trinken. Da war diese Nähe und Vertrautheit. Ich konnte ihr alles erzählen. Und ich konnte gar nicht aufhören damit.“
„Das kann ich mir nun wieder lebhaft vorstellen.“
„Was?“
„Nur weiter. Wenn es so perfekt war, was ist also vorgefallen, dass du nun völlig aus dem Häuschen bist?“
„Hannes ist vorgefallen!“
„Wer ist Hannes?“
„Es war am dritten Kursabend, als plötzlich die Tür aufgestoßen wurde und eine Mischung aus Asphalt-Cowboy und Vorstadtgigolo hereinkam. Er sagte, dass er sich eigentlich für den Kurs, Kochen wie bei Mutti, angemeldet hatte, der an diesem Tag begann, der wäre aber überbelegt. Er wollte deshalb fragen, ob er nicht hier bei uns noch einsteigen durfte. Die Dozentin hatte nichts dagegen, also setzte er sich, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.“
„Lass mich raten. Mandy fand diesen Vorstadtgigolo anziehender als das ganze Geplapper mit dir.“
„Also, du spinnst ja wohl!“, echauffierte sich Rainer. „Und sowas nennt sich Freund! Vielen Dank für das Mitgefühl und deine Anteilnahme...“
„Ach bitte! Komm mal von deinem hohen Ross runter. Wieso meinst du einen Anspruch auf diese Mandy erworben zu haben, nur weil du sie ein-zwei Mal vollgesülzt hast?“
„Was heißt denn hier vollgesülzt? Wie waren wie seelenverwandt. Und dann kommt einfach so ein Möchtegernrocker daher, der in irgendeiner Absteige Platten auflegt, wedelt wie ein Alpharüde mit der Rute und sie dreht sich gleich auf den Rücken! Stell dir mal vor: Die sind dann noch am selben Abend auf seinem Moped, wie er dieses Ungetüm auf zwei Rädern selbst nannte, weggefahren. Zum nächsten Kursabend kamen sie dann bereits gemeinsam angefahren.“
„Du hast dir diesen Kurs tatsächlich noch weiter angetan...?“
„Ich hatte doch schließlich bezahlt.“
„Dieses Ike-Dings muss es dir wirklich angetan haben.“
„Hier geht’s nicht um Ikebana. Hier geht’s ums Prinzip!“
„Um welches Prinzip denn?“
„Das ich bereits zu Beginn erwähnte: Nette Männer fallen durch!“
„Jetzt schalt mal einen Gang zurück. Was weißt du denn überhaupt von dieser Mandy? Vielleicht ist dieser Typ genau das was sie im Leben braucht. Vielleicht lässt sich so eine am liebsten von einem möchtgernwilden Vorstadtrocker flach legen. Da kannst du gar nichts machen!“
„Kann ich wohl!“
„Ach? Und was?“
„Mich ändern!“
„Und wie soll das bitte aussehen?“
„Ich muss nur meine Ur-Gene aktivieren.“
„Deine was?“
„Meine Ur-Gene. Alle Männer haben die. Sie sind dafür verantwortlich, dass sich während des Heranwachsens jene Strukturen im maskulinen Hirn ausformen, die für die primär männlichen Verhaltensweisen verantwortlich sind.“
„Welche wären?“
„Unnachgiebigkeit, Durchsetzungswille und Führungsanspruch.“
„Klingt irgendwie vertraut...“
Rainer, inzwischen richtig in Fahrt, ignorierte etwaige Einwürfe nun vollständig.
„Die Evolution hat den Mann mit hervorstechenden Charakteristika ausgestattet, doch lediglich zwei Generationen Emanzipation und das Naturrecht des Kriegers, des archaischen Jägers liegt darnieder. Schon im zarten Kindesalter werden Jungs zu diskussionswilligen Weicheiern erzogen. Sie dürfen nicht mehr raufen, noch untereinander ausfechten, wem die Alpharolle zukommt. Stattdessen müssen sie ihren Namen Tanzen können. Und später geht das so weiter. Heutzutage gilt man bereits aus Chauvinistenschwein, wenn man sich darüber beschwert, dass der neue Bond pro Film höchstens noch mit einer im Bett landet.“
Juri wartete, bis Rainers rhetorisches Feuer herunter gebrannt war und fragte dann beschwichtigend: „Übertreibst du nicht ein wenig?“
„Keineswegs! Diese durchfemininisierte Gesellschaft verhindert, dass aus Jungs echte Männer werden. Die Anlagen dazu schlummern aber tief in unserem Hirn, wir Männer müssen lediglich wieder einen Zugang zu uns selbst finden.“
„Und du hast dir jetzt vorgenommen, dieses tief in dir brachliegende Potenzial zu aktivieren und zu einem großen archaischen Jäger zu mutieren, dem – vor Testosteron strotzend – die Frauen zu Füßen liegen?“
„Na ja, so in etwa, wenn vielleicht auch etwas subtiler in der Umsetzung.“
„Also Rainer, wir kennen uns ja schon lange und nimm es mir bitte nicht übel, aber damit aus dir ein Harter wird, sehe ich ehrlich gesagt nur drei Möglichkeiten.“
Rainer schwieg und funkelte seinen Freund mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an.
„Also entweder fünf Jahre mexikanisches Drogenkartell, Fremdenlegion oder Mitgliedschaft bei den Hells Angels. Darunter läuft bei dir umerziehungstechnisch gar nichts!“, sprach Juri und begann, kaum das er den Satz vollendet hatte, in sich hinein zu kichern. Er versuchte noch das Kommende zu unterdrücken, doch einmal in Gang gesetzt, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Einige Sekunden später, während Rainer noch an der Formulierung einer bissigen Antwort bastelte, prustete Juri los und rutschte kurz darauf, lauthals lachend, aus dem Sessel, um rustend auf dem Boden aufzuschlagen.
„Lach du nur! Du wirst es noch erleben.“, warf ihm Rainer wutentbrannt entgegen. Sprang auf, donnerte das Schachbrett gegen die Wand, dass es nur so krachte und war mit einem „Leck mich doch am Arsch!“ durch die Tür.
Als sich Juri gerade wieder einigermaßen gefangen hatte, steckte Natascha verstohlen den Kopf durch die Tür. „Alles in Ordnung? Wollt ihr vielleicht noch ein paar Kekse?“, fragte sie zögerlich. Abermals prustete Juri los, als wäre der Blitz in ihn gefahren.
„Hab ich was Komisches gesagt? Wo ist den Rainer hin?“, fragte Natascha verdutzt.
„Fort! Auf der Suche nach dem archaischen Jäger in ihm.“, antwortete Juri zwischen einzelnen Lachsalven. Natascha verstand kein Wort.
Später bereute er sich derart aufgeführt zu haben. Im Nachhinein vermochte er nicht einmal zu sagen, was in ihn gefahren war. Hatte es daran gelegen, dass er über die Jahre immer wieder mit Rainers kruder Weltsicht konfrontiert worden war? Oder war es diesmal einfach zu hanebüchen? Irgend etwas hatte jedenfalls dazu geführt, dass er möglicherweise seinen ältesten Freund vergrault hatte.
Die nächsten beiden Monate erschien Rainer nicht zu den üblichen Treffen. Weder am Telefon meldete er sich, noch antwortete er auf E-Mails. Es war purer Zufall, dass Juri ihm ungefähr ein halbes Jahr später begegnete. Es war kurz vor Weihnachten und Juri wollte noch auf die Schnelle zum Juwelier, Natascha das Armband kaufen, dass sie im Schaufenster immer wieder bewundert hatte. Glücklicherweise war es um vierzig Prozent reduziert worden, sonst hätte er sich das niemals leisten können.
Plötzlich sprach ihn ein Mann an. Erst beim genaueren Hinsehen stellte er fest, dass es Rainer war. Er trug die Haare nach hinten gegeelt, eine voluminöse getönte Brille und war in feinstem Designerzwirn gekleidet. An seinem Handgelenk prangte überdies eine fette Rolex, die vermutlich ebenso teuer gewesen war, wie Juris Fiat Uno.
Genau genommen, war es jedoch nicht er, der diesen schmucken Chronographen bezahlt hatte. Rainer befand sich in weiblicher Begleitung; einer üppig pelz- wie schmuckbehangenen und nach edelstem Parfüm duftenden Dame, die gut und gerne zwanzig Jahre älter war.
„Ist aus dem archaischen Jäger nun doch jemand geworden, der sich die Beute mundgerecht auf dem Silbertablett servieren lässt?“, hörte sich Juri unwillkürlich sagen.
Rainer verzog keine Miene. „Viele Wege führen nach Rom.“, antwortete er und verließ an der Hand seiner Herrin das Geschäft.
Weihnachten und Neujahr verstrichen, zwei Mal sogar, und Juri hätte im Leben nicht mehr daran geglaubt, Rainer noch einmal wiederzusehen.
Es war während eines Stadtfestes, als ihm plötzlich jemand im Gedränge einen Kinderwagen in die Hacken fuhr. Juri drehte sich wutentbrannt um und wollte dem Übeltäter schon die Leviten lesen, als er verblüfft in ein ihm wohl vertrautes Antlitz blickte. Vom maßgeschneiderten Anzug und sonstigen prunkvollen Accessoires war diesmal aber keine Spur. Stattdessen trug Rainer eine mehrfach geflickte Cordhose, einen alten Parka und ausgelatschte Turnschuhe. Die größte Überraschung jedoch stellte der Doppelkinderwagen mit den Zwillingen darin dar.
„Hey, Rainer! Wie geht’s? Sind das etwas deine?“, sprudelte es aus Juri unkontrolliert hervor.
Rainer nickte.
„Was ist den aus, du weißt schon wem, geworden...?“
„Och, das war nichts für die Dauer.“
„Und was machst jetzt so?“
„Dies und das. Wir können uns ja mal auf eine Partie treffen, so wie früher, dann quatschen wir ein bisschen.“
„Ja, warum nicht. Lass uns mal wieder eine Partie Schach spielen.“
„Schön! Ich freue mich darauf. Wir sehen uns dann.“
Rainer und Juri spielten nie wieder eine Partie Schach miteinander, aber Juri wünschte sich noch so manches Mal, er hätte sich über Rainer damals nicht derart lustig gemacht oder Rainer hätte zumindest ein ganz klein wenig, den archaischen Jäger in sich gefunden.

©Dimitrios Athanassiou, 2013​

 

Hallo Dimitrios,

und willkommen hier! Bitte Einleitungen wie die folgende immer in ein Extraposting unter die Geschichten setzen:

Hallo zusammen. Hier nun mein erster Beitrag, ich hoffe in der richtigen Rubrik...

Freundliche Grüße,

Berg

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Dimitrios,

jemand, der so nett hier für eine Lesebühne wirbt, dessen Geschichte sollte man schon kommentieren, finde ich, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.
Da will ich mal den Anfang machen.

Ich muss ja mal sagen, dass ich mich lang nicht rangetraut habe, weil ich sehr viel kürzer erst schreibe als du, du trittst sogar auf und so, da wirst du sicherlich Erfahrungen darüber haben, was auf so einer Lesebühne ankommt und gemocht wird.
Mir ging es mit deiner Geschichte nämlich so, dass ich sie lustig fand und gern gelesen habe, aber trotzdem fand ich, dass deine Figuren doch etwas stereotyp wirken, vor allem der Rainer. Bei Juri ist das nicht so.
Ich weiß schon, bei einer besonderen Art von Texten, wo man was auf die Schippe nehmen will, da ist das so, dass die Figuren jetzt keine großartige Tiefe kriegen, da geht es um Überzeichnungen, Verzerrungen, Pointen. Und das ist dur ja auch gelungen. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, wenn du Rainers jeweiligen Entwicklungsschritte entweder noch mehr überzeichnet hättest oder wenn der Rainer noch ein bisschen was Anderes am Ende gekriegt hätte. So hat dein Text so eine gewisse Comedy-Atmosphäre, da werden Entwicklungen von Männer, ihr Rollenverständnis, der Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit, das alles wird verulkt und durch den Kakao gezogen, aber es beißt mir ein bisschen zu wenig. Ich finde einfach, dass da noch mehr geht.
Aber das ist glaube ich eine reine Geschmackssache, ich weiß genau, dass es einen Haufen Leute gibt, die diese Wandlungsschritte vom Urjäger zum Halsbandhündchen und dem Turnlatschenjungvater genießen.

Und manchmal, da ist es aber nicht mehr nur Gescmacksfrage, ist es so, dass mit die Pointen oder Gags ein bisschen zu ausgewalzt vorkamen - vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass du manchmal ein bisschen gestelzt schreibst. Statt ein fettes, deftiges Verb hinzurotzen, schreibst du so ein bisschen formularmäßig.
Zum Beispiel war zu vernehmen , also ich finde, sowas sollte man, wenn es irgedwie geht, vermeiden. Ein fettes deftiges Verb fällt mir da auch grad nicht ein, aber schreib doch wenigstens hören.

Abgesehen vom leise vor sich hin knisternden Holz im Kamin und regelmäßigen Atemzügen, die daran erinnerten, dass die beiden noch am Leben waren, war nichts zu vernehmen.
Das hier meinte ich: ich würd einfach schreiben: hörte man nichts.

Rainer und Juri spielten Schach. Das bereits seit vielen Jahren, regelmäßig einmal im Monat. Es war zum festen Ritual geworden. Ebenso wie Rainers Bedürfnis, im Verlauf des Abends, seinen jeweiligen Kummer zum Anlass nehmend, sich auszuheulen.

Das bereits seit vielen Jahren, regelmäßig einmal im Monat. /
Es war zum festen Ritual geworden.

Das drückt eigentlich das Gleiche aus. Könnte man miteinander verbinden oder etwas kürzen.

Ebenso wie Rainers Bedürfnis, im Verlauf des Abends, seinen jeweiligen Kummer zum Anlass nehmend, sich auszuheulen.
Zum Anlass nehmend: Das ist wieder so eine Formularformulierung.
Man könnte z. B. schreiben:
Es war ebenso zum Ritual geworden wie Rainers Bedürfnis, sich im Verlauf des Abends gründlich auszuheulen.
Ich hab fast das Gefühl, du vertraust deinen Worten gar nicht so richtig. Sich ausheulen bedeutet ja, dass Kerle oder auch Frauen ihren Kummer abquatschen. Den muss man dann gar nicht mehr dazuschreiben.

Ok, das sind natürlich nur Vorschläge und Ideen, wie man die Sache ein bisschen frisieren könnte. Es ist halt mein Geschmack, da zu reduzieren.
Ich könnte mir aber vorstellen, dass diese Reduktion deine Rollentypen noch frischer aussehen lassen würden.

Ich hab über den archaischen Jäger im Designerzwirn recht gegrinst. Und überhaupt.
Ich fand es vor allem auch eine schöne und sehr sympathische Idee, hier auf dein Angebot aufmerksam zu machen. Sowas gibts finde ich viel zu wenig.
Bis die Tage
Novak

 

Danke für die konstruktive Kritik

Hallo Novak,

vielen Dank für deine Anmerkungen. Im Prinzip hast du völlig recht, ich neige dazu, zu verklausulieren... Wahrscheinlich habe ich zuviel "altbacken drüsches Zeug" gelesen... Ich gebe zu, ich mag die Sprache, die ich bei A. E. Poe & Co. finde... Kurioserweise kann ich bei meinen Filmkritiken wesentlich frecher sein. Im Literarischen verfalle ich dann aber wieder in diesen Duktus. Das hat beispielsweise dazu geführt, dass ich kürzlich den Text einer Novelle, die im Sommer verlegt werden soll, komplett überarbeiten musste. Wobei dort die Handlung um 1860 angesiedelt ist und da kann man dann doch vielleicht etwas altmodischer schreiben.

"Der Ruf des Jägers" entstand, am Tag vor einer Lesung, da ich nichts passendes hatte, aus einem Impuls heraus. Es ist nicht der Schenkelklopfer, da wäre sicherlich mehr gegangen... und vielleicht auch "rotziger". :D

Rainer ist mit Sicherheit eine Karikatur. Jemand ohne innere Mitte. Ich glaube das betrifft viele Männer heutzutage, die sich in ihrem Rollenverständnis nicht mehr zu definieren wissen. Natürlich soll jeder Mann/Frau nach persönlichem Gusto glücklich werden, dennoch wage ich zu behaupten, dass weder Gigolos, noch Möchtgernerocker oder durchgeschlufte Turnschuhträger, die idealen Vorbilder sein können... Juri ist da natürlich in sich gefestigter; allerdings lebt er auch eine eher traditionell geprägte Ehe.

Werd mal zusehen, dass der nächste Text, den ich hier einstelle, in eine ganz andere Richtung geht... schließlich habe ich ein recht breites Spekturm.

Viele Grüße

- Dimitrios

 

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