Mitglied
- Beitritt
- 27.03.2021
- Beiträge
- 3
Der Ruf der Stille
1.
Bevor er ins Tal stapft, nackt und allein, weht ein eisiger Wind von den Bergen herab. Im Wind klappert eine alte Holzbahre, die zerbrochen auf einer Anhöhe liegt. Ein einzelner Grashalm löst sich plötzlich aus der Erde und fliegt flatternd davon. Dann legt sich wieder Stille über die Felder und der Mann kommt hinter der Anhöhe hervor. Ohne die Bahre zu beachten, läuft er in die Mitte des Tals. Die Bergkette, die ihn umschließt, lässt ihn wie ein Insekt erscheinen: er ist ein bleicher, einsamer Käfer, der in der Winterödnis nach Futter sucht oder nach einem Versteck.
Der Mann überquert einen ausgetretenen, im Frost fast unsichtbaren Pfad. Dies ist die richtige Stelle, denkt er, hierher wollte ich kommen und dann weitergehen. Vor ihm hängen Nebelschleier in der Luft, auf die er geradewegs zugeht, um kurz darauf im milchigen Dunst zu verschwinden. Und er bereut es nicht, nackt zu sein. An die Kälte hat er sich inzwischen gewöhnt, er mag sie sogar, mag es, auf seinem Körper jede Windregung zu spüren, jeden Regentropfen, die samtige Feuchtigkeit des Nebels. Der Nebel reizt und stärkt die Empfindlichkeit seiner Poren und als er aus den Nebelwolken ins Freie tritt, übermannt ihn die Fülle des Tals. Er fühlt sich so, als hätte er soeben seine oberste Hautschicht abgestreift, als wäre die dünne Trennlinie zwischen ihm und der Umwelt jäh entflochten worden. So könnte er sterben, hier im Freien, denn es wäre kein Ende, vielmehr ein Verschmelzen.
Er weiß schon lange, dass er es eines Tages geschehen lassen wird. Deshalb kam er schließlich an diesen verlassenen Ort, deshalb ging er fort. Er betritt eine schmale, geschwungene Straße, die ihn durch zwei hochragende Felsen führt. Ein Sonnenstrahl trifft auf die Straße, zieht über den Asphalt und verschwindet hinter einem Nadelhaufen. Der Mann bleibt stehen und betrachtet den Haufen. Sorgfältig schiebt er die Nadeln auseinander, die sanft durch seine Finger gleiten und zerstreut zu Boden fallen. Ein dunkler runder Fleck kommt zum Vorschein, den er misstrauisch und ein bisschen überrascht mustert. Aber dann schwindet seine Neugier und er richtet sich wieder auf, reibt seine Hände aneinander, und setzt seinen Weg fort.
Die Hütte, die er vor Jahren entdeckte, ist klein. Wahrscheinlich wurde sie aufgrund ihrer Unscheinbarkeit schlicht vergessen, denkt er manchmal hoffnungsvoll. Er hofft, dass ihm dort niemals irgendjemand begegnen wird und deshalb fühlt er sich oft unwohl. Denn vielleicht nutzen die Eigentümer ihre Hütte bloß selten, was bedeuten würde, dass ihn früher oder später ein empörtes Klopfen aus seinem Mittagsschlaf reißen könnte; dass er eines Tages gar von ihnen angestarrt aufwachte, verblüfft, begriffsstutzig, erniedrigt. Es wäre ein unsägliches Ende: das Knistern des Kaminfeuers, die schwarzen Pfannen und Töpfe, die Bücher, das gerahmte Bild des Tals sind ein fester Bestandteil seines Wesens und dürfen ihm nicht entzogen werden: die Hütte und er, sie sind nun eins. Und auch die gefleckten Birken, die unterhalb der Hütte stehen, gehören zu ihm sowie die weiten Wiesen und die fernen Berge und der Himmel.
Der Mann legt einen letzten Holzklotz in den Kamin auf die Glut, stupst die kleine, quadratische Glasklappe vor das schwelende Feuer und lehnt sich zurück in seinen gepolsterten Stuhl. Aufmerksam betrachtet er die rotgoldene Flamme, die zwischen glühenden Holzspänen und Aschehäufchen auflodert und erlischt, auflodert und erlischt. Neben ihm auf dem Tisch steht ein Glas und daneben steht eine Flasche Branntwein. Eine trübe Reflexion der auflodernden Flamme erscheint abwechselnd im Glas und dann auf der Flasche und es wirkt, als hätte der Mann das Glas und die Flasche zurechtgerückt, um dieses Lichtspiel zu inszenieren. Das Holz knistert im Feuer; außerhalb der Hütte, um die raschelnden Birken herum, weht der abendliche Winterwind. Der Mann gießt etwas Branntwein in sein Glas und nimmt einen ersten Schluck. Und als die letzten Funken der Glut der Dunkelheit gewichen sind und der Mann nur noch als Schatten vor dem Kamin sitzt, klopft es an der Tür. Aber der Schatten regt sich nicht, sinkt zunehmend in die ihn umgebende Dunkelheit. Es wird erneut geklopft, dann nochmals, und der Mann steht auf. Er bewegt sich zur Tür und ohne zu zögern öffnet er sie: Schwärze strömt in die Hütte. 'Hallo', sagt er. Die Birken rascheln im Wind, doch ansonsten ist es still. Er wendet sich ab, ohne die Tür zu schließen, die im Nachtwind sanft auf und zu, auf und zu wippt.
Am ersten Weihnachtsfeiertag 1956 erreicht die Polizei der Stadt Herisau ein Notruf: spielende Kinder fanden einen Mann, zu Tode erfroren, in einem Schneefeld.
2.
Ein erster bleicher Sonnenstrahl fällt auf die Windschutzscheibe, und dann auf mich. Ich halte an einem umzäunten Forst, um zu pinkeln. Ich hole einen Apfel aus dem Kofferraum und setze mich neben das Auto ins Gras. Ein gelber Vogel, vermutlich eine Meise, landet vor mir und beobachtet mich kopfschüttelnd beim Essen. Als ich ihm einige zerkaute Apfelstücke auf die Wiese lege, fliegt er davon. Ich ziehe die Fahrertür auf, stelle mich dann aber nochmals ins Gras, um dem leisen Rauschen im Forst zu lauschen. Im Zaun entdecke ich eine Öffnung. Ich lege die Autoschlüssel aufs Armaturenbrett, schließe die Fahrertür und hole meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Dann schiebe ich den Rucksack durch die Öffnung im Zaun und schlüpfe selbst hindurch.
Im Forst ist es merklich kühler und dunkler und ich verliere mein Zeitgefühl. Ich erinnere mich an meinen letzten konkreten Gedanken: Weil die Dinge, die ich sage, genauso gut von einem alten Mann gesprochen werden könnten, begleitet mich stets etwas Zeitloses. 'Von einem alten Mann, in einem alten Land', murmele ich. Meine Stimme hat sich verändert, sie klingt rau und fern und ich beschließe, fortan zu schweigen. Das Licht zwischen den Bäumen wird allmählich heller, die Temperatur verändert sich jedoch nicht. Um zu rasten, setze ich mich auf einen breiten Baumstumpf. Stundenlang sitze ich einfach nur da und blicke in die Tiefe des Waldes. Schließlich lehne ich mich langsam zurück, spähe eine Weile durch die lichten Baumkronen, und schlafe ein.
Ich träume von Gesichtern, allesamt schwarzweiß: zuerst sehe ich meine Mutter, dann meinen Vater, dann meine Geschwister, dann Freunde und Verwandte; und immer wieder tauchen Gesichter vor mir auf, die ich noch nie zuvor gesehen habe, Gesichter, die mir gänzlich fremd sind.
Als ich aufwache, umgibt mich Dunkelheit. Es ist Nacht und der Schnee, der über mir durch die Baumkronen rieselt, wirkt im fahlen Mondlicht beinahe schwarz, wie Asche.