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Der Rudi kommt nicht mehr
„Der Rudi kommt nicht mehr zur Turnstunde“, ruft Adelheid, unsere Übungsleiterin, in die Runde. Wir sind gerade nach unserer Altmänner-Turnstunde aus der Turnhalle in die Umkleidekabine zurückgekommen und schwitzen noch heftig. Alle jammern und klagen über Wehwehchen, dabei wird munter durcheinander geschwatzt. Adelheid hat uns wieder mal ordentlich ran genommen. Seit etwa einem halben Jahr bin ich jede Woche mit dabei, wenn unsere Altmännergruppe unter der strengen Anleitung von Adelheid turnt.
„Habt ihr gehört, der Rudi kommt nicht mehr zur Turnstunde. Aber zur Weihnachtfeier will er noch kommen“, versucht Adelheid sich nochmals Gehör zu verschaffen. „Jetzt wird er nur noch vor dem Fernseher sitzen“, bemerkt einer der Turnmänner. „Oder er schaut den ganzen Tag aus dem Fenster“, ergänzt ein anderer. Dann geht das Gespräch in unserer Altmännerrunde in andere Richtungen - Dorfpolitik, Bundesliga, Autos. Peter hatte einen runden Geburtstag, deshalb steht ein Kasten Bier in der Mitte der engen Kabine, dazu gibt es was zu Knabbern. Die Luft ist stickig, es werden Bierflaschen geöffnet und herumgereicht. „Ja, ja der Rudi“, sagt einer so vor sich hin, zwischen zwei Schlucke aus der Bierflasche.
Der Rudi war mir bei meinen ersten Besuchen der Altmänner-Turnstunde aufgefallen. Er war wohl ein Stück älter als die anderen und das will schon was heißen, denn wir sind alle nicht mehr die Jüngsten. Zudem kam immer später als die Meisten und wurde von Allen mit ein paar knappen Worten begrüßt. Dann setzte er sich in eine Ecke auf eine Bank. Während wir unser Aufwärmtraining machten, blieb er einfach sitzen und schaute so vor sich hin. Wenn wir dann unseren Turnmatten lagen und Adelheid uns Anweisungen und Kommandos zurief, die wir unter theatralischen Stöhnen und Ächzen befolgen, dann machte Rudi auch irgendwas mit, in seiner Ecke auf der Bank sitzend. Mal hob er einen Arm oder er veränderte die Beinstellung, ungefähr im Rhythmus, den Adelheid uns lautstark vorgab. Gegen Ende der Turnstunde schien er ähnlich erschöpft zu sein wie wir. Meist verschwand er dann, ohne viele Worte zu machen. Überhaupt kann ich mich nicht erinnern, dass er jemals etwas gesagt hat, wenn überhaupt, dann hat er nur geknurrt oder gegrunzt. Das war der Rudi, den die meisten in der Runde schon lange kannten und den ich wohl nicht wieder sehen werde, höchstens er schafft es noch, auf die Weihnachtsfeier zu kommen.
„Der Schnetzers Gerd ist gestorben“, sagt der Alfred. „Nächste Woche Dienstag ist Beerdigung“. „Ehrlich?“, sagt einer, „Den hab ich doch noch vor einem halben Jahr im Vereinsheim gesehen. Da sah er aber nicht gut aus“. Ein anderer erinnert sich: „Der Gerd hat lange Fußball gespielt“. „Verteidiger war er“, ergänzt der Alfred. Aber so wie die Männer das erzählen, muss das schon ziemlich lange her sein.
Ich bitte Peter mir noch ein Bier zu reichen. Die erste Flasche hatte ich ganz in Gedanken ausgetrunken, in Gedanken an Rudi und den Schnetzers Gerd.