Der Rucksack
All around me are familiar faces,worn out places,worn out faces. Jeden Morgen, an dem Majid vor der noch geschlossenen Tür des Arbeitsamts wartete, schwirrten diese Zeilen eines längst vergessenen Songs durch seinen Kopf. Die Lichtverhältnisse (das Dunkel der Nacht schwand allmählich und „färbte“ die Umgebung in ein tristes Grau), die arbeitssu-chenden Menschen (müde, zumeist starr auf den Boden gerichtete Augen nach einer erneut viel zu kurzen Nacht, in der die Gedanken abermals die Lautstärke und Vielfalt, jedoch keineswegs den harmonischen Klang eines Orchesters erreicht hatten), der kaum definierbare Geruch (er lag irgendwo zwischen Rost und Teigwaren), einfach alles hatte auf ihn den Anschein eines Déjà vus. Stets wenn er auf die verschlossene Türe blickte, fühlte er sich an die Gefühlslage des Prometheus erinnert, der dem Mythos zufolge über einem Abgrund ohne Speis‘ und Trank ausharren musste, während ein Adler fortwährend von seiner Leber zehrte, die sich zu seiner Qual immer wieder erneuerte. War er, Majid, wirklich in einer besseren Lage? Seine körperliche Unversehrtheit (abgesehen von einigen Nichtigkeiten) vermochte nicht über die stetig wiederkehrenden, schmerzhaften Gedanken hinwegzutrösten, die sich wie ein Geschwür in seiner Seele ausbreiteten. Der Faktor Hoffnung schien die einzig übrige Komponente zu sein, die sich wie ein Gegengift dem infektiösen Gedankengut seines müden Verstandes zu widersetzen und seinem geplagten Wesen noch Leben einzuhauchen vermochte. Erneut vernahm Majid tief im Innern eine flüsternde Stimme, die eine Sentenz eben jenes Songs rezitierte, der ihm stets – gewissermaßen wie ein Spiegel – seine seelische Verfassung vor Augen führte: The dreams in which I’m dying are the best I’ve ever had.
Majid atmete einmal tief durch und schüttelte anschließend (gewiss nicht gänzlich ohne Anstrengung) den Gedanken ab. Verträumt richtete er seinen Blick auf die Straßenlaterne zu seiner Linken, die ein letztes Mal aufflackerte und schließlich für die nächsten zwölf Stunden ihren Dienst quittierte. Im selben Moment öffnete sich die Tür...
Bereits früh am Morgen waren die Highways heute verstopft, bedingungslos reihte sich in schier nicht enden wollenden Bahnen Metall an Metall. Die gerade aufgegangene Sonne spiegelte sich in den Pfützen, die der nächtliche Regen auf der Fahrbahn hinterlassen hatte, und bot mit den roten Rückleuchten der immerfort bremsenden Fahrzeuge ein Farbschauspiel sondergleichen. Inmitten des Chaos öffnete sich die Fahrerscheibe eines silbernen Mercedes, aus der eine Hand die Überreste eines fast gänzlich verspeisten Apfels auf den Asphalt fallen ließ, während Zeige- und Mittelfinger der anderen Hand unrhythmisch zu den Drums einer Rockballade der 70er Jahre auf das Lenkrad tippten. Richard schloss das Fenster und bewegte seine Lippen zu den Lyrics des Songs, während die AC seines Wagens auf Hochtouren lief. Sein Blick schweifte von einem älteren Herrn mit Cowboyhut und kariertem Halstuch, der in seinem roten Pick-up seelenruhig auf einem Zahnstocher herumkaute (offensichtlich ein Texaner, der den modischen und kulturellen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte die Stirn geboten hat), zu einer jungen Frau, die hektisch versuchte, gestenreich zu telefonieren und zugleich – die Augen eisern auf den Rückspiegel ihres Honda gerichtet – ihren Lidstrich nachzuziehen. Daraufhin richtete Richard seinen Blick wieder kopfschüttelnd nach vorn, um gelangweilt auf das Heck eines uralten SUVs zu starren. Warum der Verkehr immer am Dienstag besonders schlimm war, konnte er sich nicht erklären. Richard entschied sich schließlich, eine Ausfahrt früher als gewohnt den Highway Richtung Innenstadt zu verlassen, obgleich sich dadurch die Fahrtstrecke verlängern würde. Sein Handeln mag intuitiv gewesen sein, doch zugleich flammte der Gedanke an einen Ausspruch des französischen Philosophen Blaise Pascal in ihm auf („Zu unser Natur gehört die Bewegung; die vollkommene Ruhe ist der Tod“) und entlockte seinem sonst so starren Mund ein kleines Schmunzeln.
Knappe dreißig Minuten später (aber gewiss früher als bei einer Fahrt über den Highway) stellte Richard sein Fahrzeug in der Nähe des Bürogebäudes ab und ging gewohnten Schrittes unter wolkenlosem Himmel Richtung Arbeit. Vor dem an seinen Bürokomplex angrenzenden Arbeitsamt tummelte sich die gewohnte Ansammlung arbeitssuchender Personen, die auf ihn stets wie eine gestaltlose Masse von Menschen wirkte. Plötzlich fiel ihm ein Mann in vorderster Reihe ins Auge, dessen ausdrucksloser Blick ein mulmiges Gefühl in seiner Magengrube erweckte, das er nicht einzuordnen wusste. Als sich die Blicke beider Männer für einen kurzen, flüchtigen Moment trafen, verspürte Richard plötzlich eine Vertrautheit, die zugleich befremdlich war. Was er in den Augen des Mannes unterbewusst zu erkennen schien, konnte oder wollte sein Verstand nicht begreifen. Es war einer jener Momente, in dem sein Herz stehenzubleiben und gleichzeitig schneller zu schlagen schien (ein Gefühl, das sonst einzig der Anblick des ehrlichen Lächelns im Gesicht seiner Tochter hervorzurufen vermochte). Richard verlangsamte seinen Schritt, um sich den Mann genauer anzuschauen. Er trug einen seltsamen, verblüffend alt aussehenden Rucksack, in dem er offensichtlich seinen ganzen Besitz verwahrte. Das Gewicht schien seinen Rücken ein wenig zu beugen, sodass er eine verkrümmte Körperhaltung einnehmen musste. Was muss da alles drin sein, dachte Richard bei sich, als er den Mann passierte und sich einen Weg an den Menschenmassen vorbei Richtung Bürokomplex und Personalaufzug bahnte.
Den Aufzug hatte er immer als einen Ort der Ruhe, gewissermaßen als Rückzugsort gesehen, an dem jegliche Hektik und Anspannung zu schwinden schien und die mechanischen, monotonen Klänge der Aufzugsseile einzig und allein die Geräuschkulisse bildeten. Richard konnte es sich zwar rational nicht erklären, doch hatten derartige mechanische Laute – bereits seit seiner frühen Kindheit – stets eine beruhigende Wirkung auf seinen Geist. Vielleicht war es die Verlässlichkeit, die Vertrauenswürdigkeit, die Vorhersehbarkeit des Vorgangs (alles Attribute, die er den Menschen in seinem persönlichen Umfeld nicht mit reinem Gewissen zuordnen konnte), doch seltsamerweise vermochte es Richard nicht, diesen Empfindungen eine Gestalt zu geben und sie in Worte zu fassen. Offensichtlich hatte sein Unterbewusstsein eine derartige Verbindung bereits hergestellt, doch schien dieser Zusammenhang bislang nicht zu seinem Verstand vorgedrungen zu sein.
Dennoch richteten sich seine Gedanken in diesem Moment ausgerechnet auf seine einzige Tochter, die vor kurzem erst vom sozialen Engagement ihrer besten Freundin berichtet hat, die wöchentlich in einer der vielen Einrichtungen für die Obdachlosen Atlantas aushilft. An der Bereitschaft mangelte es auch ihm nicht, dachte sich Richard, doch wie ist dies mit den Pflichten und der Verantwortung gegenüber seiner Arbeitsstelle sowie seiner Familie zu vereinbaren? Schließlich habe er bereits so viel erreicht, dass es schlichtweg falsch wäre, ausgerechnet jetzt beruflich kürzer zu treten. Ein guter Mann zieht einen Kreis um sich herum und sorgt für die, die darinnen sind. Für seine Frau und seine Kinder. Obgleich Richard mit seiner Argumentation (gegen wen argumentierte er eigentlich?) nur bedingt zufrieden war, so erlöste ihn doch das Signal des Aufzugs, das ihm die Ankunft im 6. Stock mitteilte, von seinen Gedanken.
Als Richard gegen Abend den Bürokomplex verließ und auf die Straße trat, vernahm er zu seiner Rechten ein lautes Knacken und den direkt darauffolgenden ohrenbetäubenden Schrei einer Frau, der ihn unverzüglich in Alarmbereitschaft versetzte. Am Boden lag ein regungsloser Mann, dessen Rücken – Richard traute zunächst seinen Augen kaum – vollends verbogen zu sein schien. Als sein Blick über den leblosen Körper schweifte, fielen seine Augen auf den Rucksack, der ihm bereits heute früh aufgefallen war. Richard eilte zum Mann und der daneben schluchzenden jungen Frau, die offensichtlich dabei war, einen Krankenwagen zu rufen. Bereits bevor Richard vergeblich den Puls des Mannes suchte, war ihm tief im Innern klar, dass vermutlich auch die Notärzte hier kein Wunder mehr bewirken würden können. Aus der Hosentasche des Mannes war ein verblasstes Foto gerutscht, das Richard intuitiv in die Hand nahm und inspizierte. Es zeigte eine farbige Frau in den Dreißigern und ein junges Mädchen, die auf einen sandigen Gehweg vor einer Wellblechhütte standen. Richard legte das Foto beiseite und blickte erneut auf den dunkelhäutigen Mann am Boden, dessen Körperhaltung den Gesetzen der Physik zu widersprechen schien. Jegliche Knochen in seinem Rücken müssen gebrochen sein, dachte er. Der Rucksack thronte gewissermaßen über dem Leichnam und zog Richard förmlich in seinen Bann. Er hielt den Atem an und griff mit pochendem Herzschlag nach dem Reißverschluss. Die schluchzende Frau daneben schaute ihn fassungslos an. Als Richard den Rucksack öffnete und hineinblickte, traute er seinen Augen nicht: Der Rucksack war leer...