Der Rotstift
Der Rotstift
Er wartete auf jemanden, als er nach seinem Notizbuch kramte.
Der Regen durchnäßte seine Kleidung vollkommen und in beunruhigender Windeseile.
Er tastete die Jackentaschen ab.
Dann fluchte er: „Scheiße.“
Er streifte den Rucksack von den Schultern und öffnete ihn. Ein paar freche Regentropfen fanden natürlich sofort den Weg ins Innere seiner Tasche und weichten Papier auf.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, sagte er wieder und wieder, hörte allerdings nicht auf, nach dem Notizbuch zu suchen. Es war so wichtig für ihn. Es war das Wichtigste überhaupt.
Ein sanftes Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er es fand. Durchsichtige Wassertropfen bildeten sich auf dem Einband, als er es herauszog, die Tasche wieder schloß und zurück auf den Rücken streifte, wo sie seiner Meinung nach auch hingehörte.
Er sah sich dummerweise erst jetzt nach einem Unterschlupf um.
Er mußte etwas sehr Wichtiges in das Notizbuch schreiben. Und zwar sofort. Sofort, sonst hätte er es vergessen – und es könnte ja schließlich entscheidend für seine Zukunft sein...
Er erblickte eine große Eiche, unter die er sich retten konnte.
Schnell rannte er los.
Schnell, obgleich der Regen ihn längst durchnäßt hatte. Das krause Haar klebte ihm an der Stirn und seine Hose heftete kalt und eklig an seinen Beinen. Er seufzte.
Kaum lehnte er sich an die trockene Baumrinde, tastete er in seiner Hosentasche nach etwas zum Schreiben.
Er fand einen schwarzen Kugelschreiber.
Mit blitzenden Augen schlug er das Buch auf der Seite seiner Wahl auf. Ein Datum stand bereits über dem leeren Blatt Papier, wie er es wollte, wie er es liebte. Menschen wie er schrieben nur die wichtigsten Dinge auf.
Es mußte alles zum Notieren bereit sein.
Er lächelte wieder, als er bemerkte, daß er zitterte. Irgendwie stimmte ihn das heiter. Wenn nur diese verfluchte Hose nicht wäre, die heftig weiter an seinen Knien klebte.
Er biß sich auf die Lippen, als er notierte: Am 22. September „Vorstellungsgespräch.“
Er kaute auf dem harten Metall seines Schreibers herum, bis ihm wieder etwas einfiel, was er unbedingt Schwarz auf Weiß haben mußte.
Hin und wieder fand ein großer Wassertropfen platschend und demonstrierend den Weg von den Blättern des Baumes auf seine weißen Seiten. Doch das störte ihn nicht weiter. Es war ja nur Wasser und er hatte ja schließlich für solche Zwecke immer den Kugelschreiber, mit dem er schrieb.
Auf den Seiten seiner Wahl trug er ein...
Am 03. Oktober - „Geschäftsreise.“
Am 5. Dezember – „Besuch bei Mama.“
Am 23. Dezember – „Weihnachtseinkäufe.“
Am 28. Dezember – „Vorbereitungen für die Silvesterparty.“
Er überlegte, was er noch ergänzen konnte.
Sein schwarzer Kugelschreiber huschte nur so über das Papier.
Er verzog das Gesicht, als er schrieb: „Am 05. Januar zum Zahnarzt.“
Au weh, das würde wieder sehr schmerzhaft werden. Er kam nie ungeschoren durch die Routineuntersuchungen.
Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen und die Sonne kämpfte sich durch das Blätterdach des Baumes. Vögel zwitscherten und obwohl es ziemlich früh am morgen war, konnte man einen leuchtenden Regenbogenschweif am Himmel erkennen.
Ein Eichhörnchen hüpfte über die Landstraße und kletterte geschickt auf einen Baum. Es äugte kurze Zeit zu ihm hinüber, lies sich aber nicht beunruhigen und verrichtete weiterhin fröhlich sein Geschäft.
Er bemerkte von alledem nichts.
Es ging immer weiter.
Am 03. Februar - „Taufe.“
Am 6. März – „Grillabend bei den Nachbarn.“
Am 9. April – „Gerichtstermin.“
Und am „10. Mai“ wollten sie schließlich umziehen. Hoffentlich ging alles glatt. Er überlegte nicht lange und schrieb ein paar Seiten vorher: Am 5. April – „Vorbereitungen für Umzug treffen.“ Und am 3. Mai hatte er eine wichtige Psychologievorlesung, die er auf keinen Fall vermasseln durfte...
Er bemerkte nicht, wie sich der Himmel allmählich klärte und die Sonne zum Vorschein kam. Sie brach durch die aufhellende Wolkendecke und schien direkt auf den Baum hinunter, unter dem er sich immer noch aufhielt.
„Bäh, ich möchte nicht schon wieder so ne Pleite erleben“, murmelte er vor sich hin, als er ein paar Seiten später las, was er am 15. Juni vor hatte.
„Leiter des diesjährigen Pfadfinderausflugs.“
Es war letztes Jahr eine wirkliche Pleite gewesen. Er erinnerte sich an so viele alte und junge Menschen, die das taten, was sie wollten und ihm – dem Gruppenleiter – nicht im Geringsten Aufmerksamkeit schenkten. Er hatte zu seinem besten Freund, der das Unternehmen nach wie vor leitete, gesagt, daß er nicht noch mal so etwas erleben möchte und darum gebeten, ihn doch zu den „kleinen Pfadfindern“ zu verlegen - doch dieser Dreckskerl hatte nur müde gelächelt und ein „Du schaffst das schon“ gemurmelt. Jetzt mußte er eben sehen, wie er klarkam.
Am 09. Juli – „Sehtest.“ – O Gott.
Am 10. Juli – „Geburtstagsgeschenk einkaufen.“ – schenkt man einem intelligenten Kind eher eine Puppe oder ein Stofftier?
13. Juli – „Urlaub in Toronto.“ – Was nimmt man denn da an Klamotten mit?
So ging das immer weiter. Er war viel zu vertieft, als daß er den Lichtstrahl sah, der nun direkt vom Himmel auf den Baum schien. Er hüllte ihn mit ein und ließ ihn Teil des Baumes sein - doch er bemerkte es nicht.
Unter seinem schwarzen Eintrag (Am 13. September – „Lehrerausflug.“) stand plötzlich in feinen, blutrot geschriebenen Buchstaben: „Am 13. September Tod von Mama.“
Er blickte auf das Blatt Papier, doch er sah die blutrot glänzenden Worte nicht.
Zögernd kaute er wieder auf dem Kugelschreiber herum.
Dann fiel ihm etwas ein.
Er schrieb mit erfreutem Gesichtsausdruck direkt über die frischen, glänzenden Rotstift(?)buchstaben: Am 13. September – „Hochzeitstag.“
Wie dumm, daß er gerade da einen Lehrerausflug machen mußte.
Nichts kam ihm komisch vor, als er umblätterte und sich dort neue rote Buchstaben bildeten, die ineinander liefen und zu leben schienen. Sie kamen ganz plötzlich, als würden sie direkt aus dem Papier herausbluten...
Am 14. August – „Unfall Deines Lieblingskindes.“
Er sah auch das nicht. Er sah es nicht, er konnte das sonderbare Eigenleben seines Notizbuches nicht erkennen.
Er blätterte um.
Nein, da stand nichts wichtiges. Es gab auch nichts, was er hätte ergänzen können. Höchstens das Geburtstagsessen seiner Schwägerin, aber da wollte er nicht erscheinen.
Am 28. Oktober – „Zeugniskonferenz.“
Darunter: „Atemnot + Schweißausbrüche = Herzstolpern?.“
Am 30. Oktober: „Besuch bei Verwandten in Amerika.“
„Du entdeckst einen Nebenbuhler.“
Am 20. November – „Klassentreffen.“
„Schlimme Herzschmerzen, schlimm schlimm schlimm.“
Am 18. Dezember – „Weihnacht- und Sylvestereinkäufe.“
„Herzinfarkt.“
Er blickte auf, weil er ein Geräusch gehört hatte.
Jemand hatte seinen Namen gerufen.
Er sah seine Frau auf ihn zukommen.
Mit einem Seufzer wendete er sich vom Notizbuch ab.
„Wo bleibst du?“, schrie seine Frau.
Er lächelte, er freute sich, daß sie endlich gekommen war.
Er wollte gerade das Buch zuschlagen, als sich neue, blutrote Buchstaben bildeten... Diesmal waren sie so groß, daß sie die ganze Seite seines Notizbuches einnahmen - und als er die Stelle, an der sie frisch im Morgenlicht glänzten, berührte, verschmierte er die Worte. Er sah nicht, was da stand. - Zu seinem eigenen Glück.
Am 19. Dezember – „Du stirbst.“
Und als er das Buch achtlos unter den rechten Arm klemmte, zu seiner Frau eilte, hörte er nicht mal das gehässige Lachen, das den Morgen einnahm.
Hahahahahahahahahahaha.
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Stefanie Kißling, 11. Oktober 2000