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Der Rotstift

Seniors
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06.02.2001
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Der Rotstift

Der Rotstift

Er wartete auf jemanden, als er nach seinem Notizbuch kramte.
Der Regen durchnäßte seine Kleidung vollkommen und in beunruhigender Windeseile.
Er tastete die Jackentaschen ab.
Dann fluchte er: „Scheiße.“
Er streifte den Rucksack von den Schultern und öffnete ihn. Ein paar freche Regentropfen fanden natürlich sofort den Weg ins Innere seiner Tasche und weichten Papier auf.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, sagte er wieder und wieder, hörte allerdings nicht auf, nach dem Notizbuch zu suchen. Es war so wichtig für ihn. Es war das Wichtigste überhaupt.
Ein sanftes Lächeln huschte ihm über die Lippen, als er es fand. Durchsichtige Wassertropfen bildeten sich auf dem Einband, als er es herauszog, die Tasche wieder schloß und zurück auf den Rücken streifte, wo sie seiner Meinung nach auch hingehörte.
Er sah sich dummerweise erst jetzt nach einem Unterschlupf um.
Er mußte etwas sehr Wichtiges in das Notizbuch schreiben. Und zwar sofort. Sofort, sonst hätte er es vergessen – und es könnte ja schließlich entscheidend für seine Zukunft sein...
Er erblickte eine große Eiche, unter die er sich retten konnte.
Schnell rannte er los.
Schnell, obgleich der Regen ihn längst durchnäßt hatte. Das krause Haar klebte ihm an der Stirn und seine Hose heftete kalt und eklig an seinen Beinen. Er seufzte.
Kaum lehnte er sich an die trockene Baumrinde, tastete er in seiner Hosentasche nach etwas zum Schreiben.
Er fand einen schwarzen Kugelschreiber.
Mit blitzenden Augen schlug er das Buch auf der Seite seiner Wahl auf. Ein Datum stand bereits über dem leeren Blatt Papier, wie er es wollte, wie er es liebte. Menschen wie er schrieben nur die wichtigsten Dinge auf.
Es mußte alles zum Notieren bereit sein.
Er lächelte wieder, als er bemerkte, daß er zitterte. Irgendwie stimmte ihn das heiter. Wenn nur diese verfluchte Hose nicht wäre, die heftig weiter an seinen Knien klebte.
Er biß sich auf die Lippen, als er notierte: Am 22. September „Vorstellungsgespräch.“
Er kaute auf dem harten Metall seines Schreibers herum, bis ihm wieder etwas einfiel, was er unbedingt Schwarz auf Weiß haben mußte.
Hin und wieder fand ein großer Wassertropfen platschend und demonstrierend den Weg von den Blättern des Baumes auf seine weißen Seiten. Doch das störte ihn nicht weiter. Es war ja nur Wasser und er hatte ja schließlich für solche Zwecke immer den Kugelschreiber, mit dem er schrieb.
Auf den Seiten seiner Wahl trug er ein...
Am 03. Oktober - „Geschäftsreise.“
Am 5. Dezember – „Besuch bei Mama.“
Am 23. Dezember – „Weihnachtseinkäufe.“
Am 28. Dezember – „Vorbereitungen für die Silvesterparty.“
Er überlegte, was er noch ergänzen konnte.
Sein schwarzer Kugelschreiber huschte nur so über das Papier.
Er verzog das Gesicht, als er schrieb: „Am 05. Januar zum Zahnarzt.“
Au weh, das würde wieder sehr schmerzhaft werden. Er kam nie ungeschoren durch die Routineuntersuchungen.
Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen und die Sonne kämpfte sich durch das Blätterdach des Baumes. Vögel zwitscherten und obwohl es ziemlich früh am morgen war, konnte man einen leuchtenden Regenbogenschweif am Himmel erkennen.
Ein Eichhörnchen hüpfte über die Landstraße und kletterte geschickt auf einen Baum. Es äugte kurze Zeit zu ihm hinüber, lies sich aber nicht beunruhigen und verrichtete weiterhin fröhlich sein Geschäft.
Er bemerkte von alledem nichts.
Es ging immer weiter.
Am 03. Februar - „Taufe.“
Am 6. März – „Grillabend bei den Nachbarn.“
Am 9. April – „Gerichtstermin.“
Und am „10. Mai“ wollten sie schließlich umziehen. Hoffentlich ging alles glatt. Er überlegte nicht lange und schrieb ein paar Seiten vorher: Am 5. April – „Vorbereitungen für Umzug treffen.“ Und am 3. Mai hatte er eine wichtige Psychologievorlesung, die er auf keinen Fall vermasseln durfte...
Er bemerkte nicht, wie sich der Himmel allmählich klärte und die Sonne zum Vorschein kam. Sie brach durch die aufhellende Wolkendecke und schien direkt auf den Baum hinunter, unter dem er sich immer noch aufhielt.
„Bäh, ich möchte nicht schon wieder so ne Pleite erleben“, murmelte er vor sich hin, als er ein paar Seiten später las, was er am 15. Juni vor hatte.
„Leiter des diesjährigen Pfadfinderausflugs.“
Es war letztes Jahr eine wirkliche Pleite gewesen. Er erinnerte sich an so viele alte und junge Menschen, die das taten, was sie wollten und ihm – dem Gruppenleiter – nicht im Geringsten Aufmerksamkeit schenkten. Er hatte zu seinem besten Freund, der das Unternehmen nach wie vor leitete, gesagt, daß er nicht noch mal so etwas erleben möchte und darum gebeten, ihn doch zu den „kleinen Pfadfindern“ zu verlegen - doch dieser Dreckskerl hatte nur müde gelächelt und ein „Du schaffst das schon“ gemurmelt. Jetzt mußte er eben sehen, wie er klarkam.
Am 09. Juli – „Sehtest.“ – O Gott.
Am 10. Juli – „Geburtstagsgeschenk einkaufen.“ – schenkt man einem intelligenten Kind eher eine Puppe oder ein Stofftier?
13. Juli – „Urlaub in Toronto.“ – Was nimmt man denn da an Klamotten mit?
So ging das immer weiter. Er war viel zu vertieft, als daß er den Lichtstrahl sah, der nun direkt vom Himmel auf den Baum schien. Er hüllte ihn mit ein und ließ ihn Teil des Baumes sein - doch er bemerkte es nicht.
Unter seinem schwarzen Eintrag (Am 13. September – „Lehrerausflug.“) stand plötzlich in feinen, blutrot geschriebenen Buchstaben: „Am 13. September Tod von Mama.“
Er blickte auf das Blatt Papier, doch er sah die blutrot glänzenden Worte nicht.
Zögernd kaute er wieder auf dem Kugelschreiber herum.
Dann fiel ihm etwas ein.
Er schrieb mit erfreutem Gesichtsausdruck direkt über die frischen, glänzenden Rotstift(?)buchstaben: Am 13. September – „Hochzeitstag.“
Wie dumm, daß er gerade da einen Lehrerausflug machen mußte.
Nichts kam ihm komisch vor, als er umblätterte und sich dort neue rote Buchstaben bildeten, die ineinander liefen und zu leben schienen. Sie kamen ganz plötzlich, als würden sie direkt aus dem Papier herausbluten...
Am 14. August – „Unfall Deines Lieblingskindes.“
Er sah auch das nicht. Er sah es nicht, er konnte das sonderbare Eigenleben seines Notizbuches nicht erkennen.
Er blätterte um.
Nein, da stand nichts wichtiges. Es gab auch nichts, was er hätte ergänzen können. Höchstens das Geburtstagsessen seiner Schwägerin, aber da wollte er nicht erscheinen.
Am 28. Oktober – „Zeugniskonferenz.“
Darunter: „Atemnot + Schweißausbrüche = Herzstolpern?.“
Am 30. Oktober: „Besuch bei Verwandten in Amerika.“
„Du entdeckst einen Nebenbuhler.“
Am 20. November – „Klassentreffen.“
„Schlimme Herzschmerzen, schlimm schlimm schlimm.“
Am 18. Dezember – „Weihnacht- und Sylvestereinkäufe.“
„Herzinfarkt.“
Er blickte auf, weil er ein Geräusch gehört hatte.
Jemand hatte seinen Namen gerufen.
Er sah seine Frau auf ihn zukommen.
Mit einem Seufzer wendete er sich vom Notizbuch ab.
„Wo bleibst du?“, schrie seine Frau.
Er lächelte, er freute sich, daß sie endlich gekommen war.
Er wollte gerade das Buch zuschlagen, als sich neue, blutrote Buchstaben bildeten... Diesmal waren sie so groß, daß sie die ganze Seite seines Notizbuches einnahmen - und als er die Stelle, an der sie frisch im Morgenlicht glänzten, berührte, verschmierte er die Worte. Er sah nicht, was da stand. - Zu seinem eigenen Glück.
Am 19. Dezember – „Du stirbst.“
Und als er das Buch achtlos unter den rechten Arm klemmte, zu seiner Frau eilte, hörte er nicht mal das gehässige Lachen, das den Morgen einnahm.
Hahahahahahahahahahaha.
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Stefanie Kißling, 11. Oktober 2000

 

Nette Geschichte! Aber die hatten wir doch schon mal?!? :D

 

Jepp, aber Ben meinte doch, ich solle sie noch mal posten... ;)

Griasle
stephy

[die heute einen Blackout nach dem anderen hat :D]

 

Schön zu wissen, was einem die Zukunft bringt. Gott sei dank plane ich nie mehr als zwei Tage im voraus... :D

 

Jo, stephy!
Gib mal dem Mirko Bescheid, dass du die Story übertragen hast, dann kann er sie aus dem Archiv entfernen!
Dann kannst du auch mal deinen anderen Stories übertragen. :)

Ich halte diese Geschichte immer noch für eine deiner besten. :)

 

Aha, so ist das - RECYCLING!!! Na, dann geb ich dir mal gleichen den ersten grünen Punkt: :D

Bin ja auf deine anderen Geschichten gespannt. Du schreibst wirklich gut und spannend!

 

Wie du siehst ich komme voran. Dein Stil gefällt mir. Du schaffst es trotz der wenigen Seiten einen Bezug zu den Personen herzustellen und einen schönen Spannungsbogen zu schaffen.
Gefällt mir
:)

 

Gefällt mir! Allerdings hätte ich es noch gruseliger gefunden, wenn ihm die Buchstaben auffallen würden - und dafür keinem anderen, so daß ihn alle für verrückt halten und er sich schließlich auch... irgendwas in der Richtung. Aber trotzdem sehr gut! :)
Allerdings hätte ich doch noch eine Frage und eine Anmerkung:
1. Warum macht ihm das Wasser im Notizbuch nichts aus, weil er ja einen Kugelschriber hat? Die Logik ist mir etwas unklar...
2. Es ist doch recht unwahrscheinlich, daß man sein Leben so minutiös im Voraus plant - vor allem den Grillabend mit den Nachbarn und den Sehtest. Das sind doch eher spontane dinge...
Insgesamt: weiter so und herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung! :-)
Gruß,

chaosqueen <IMG SRC="smilies/king.gif" border="0">

 

Danke @chaosqueen ;)

1. Jo, das mit dem Kugelschreiber... :D : Also, er nimmt Kugelschreiber und keinen Füller, weil wenn (geiles Deutsch! *lol*) Füller mit Wasser in Berührung kommt, das ja dann verwischt. Und deshalb hat er immer einen Kugelschreiber in der Tasche - das verwischt nämlich nicht wenn's mit Wasser in Berührung kommt. Oder so ähnlich... *gg*
Ich hab früher immer in der Badewanne Briefe, Geschichten, Tagebuch geschrieben und da ist mir öfters mal was in die Wanne gegangen... :( Deshalb weiß ich das... *grins*
2. Jo, der plant sein Leben wirklich bis zum kleinsten Detail. Grillfest... Sehtest... Ist auch ein bißerl übertrieben (ich geb's zu :D), da hast Du wirklich recht... ;)

Vielen Dank für Deine Kritik!

Griasle
stephy

der noch immer die Ohren vom lauten Gitarrespielen rauschen

 

Ich hab mich aus Rücksicht bis jetzt immer gedrückt, Stephys Geschichten zu lesen. Aber heute isses passiert. Aus Versehen! Dachte, die story wäre von Schlüppa, der sich dann aber nur als Plagiatorspast herausstellte... :rolleyes:

Mir hat sie gefallen, vor allem weil man erst nur diesen manischen Kontrollfreak sah, kein hint, kein lead. Die Pointe wurde mir dann zum Schluss etwas zu sehr ausgereizt, da gibts auch ein paar Sätze, die ich ändern würde, weil sie unter dem Niveau des ansonsten recht ordentlichen Stils liegen. Davon abgesehen: Gut erzählt.

Hätte ich diese story gleich unter Horror gelesen, hätte sie mir wohl weniger gefallen.

Warum?

Ist Euch mal aufgefallen, dass die Bestimmung eines Genres automatisch eine gewisse Erwartungshaltung erzeugt? Ich weiß nicht, wie man es besser machen könnte, aber es versaut regelrecht manche Pointen! Hätte ich diese story hier im Horrorforum gelesen, hätte ich genau gewusst, wie sie ausgeht. Allein durch das Genre wird sie vorhersehbar.

Findet Ihr nicht auch?

 

Finde ich auch, obwohl natürlich in den anderen Foren auch eine gewisse Erwartungshaltung besteht, die dazu führen kann, dass eine Geschichte vohersehbar wird.

Wie wär's denn mit "Phantastik" oder "Weird Fiction"?

Günter

 

Ahm ... Ich will ja kein Klugscheißer sein, aber ein gewisses Kategorisieren ist unabdingbar!
Mal angenommen, es gäbe keine unterschiedlichen Foren sondern nur ein großes. Nach der zehnten "Alltagsgeschichte", die ich zufällig erwischt hätte, würde ich aufgeben und diese Seite nie wieder aufsuchen.
Oder anders ausgedrückt: Wenn ich phantastische Literatur suche, schaue ich bei Horror und SF nach - ja und?
Natürlich ist eine gewisse Erwartungshaltung da, aber wenn ich im Geschäft ein SF-Buch kaufe bin ich auch ein wenig enttäuscht, wenn darin ausschließlich Kochrezepte sind. Got it? ;)

 

Hallo Stephy,

mir ist gerade aufgefallen, dass ich mich gar nicht zu deiner Story geäußert habe.
Obwohl ich Alpha O'Droma zustimmen muss, ich anhand der Kategorie schon so ungefähr wusste, wie die Sache ausgehen wird, hat mir deine Geschichte doch viel Spaß gemacht. Du hast eine erfrischend unkomplizierte Art zu schreiben, schade nur, dass du in letzter Zeit nichts mehr auf kurzgeschichten.de veröffentlicht hast.
Wann gibt's denn endlich mal etwas Neues von dir?

Gruß

Günter

 

@Rainer

Habe ja bereits bemerkt, dass ich auch keine bessere Lösung parat habe. Aber eine Idee für solche Fälle: Bei war ist es die Story "Archäologie". Die musste ich in ein anderes Forum stellen, weil das treffendste Forum die Pointe voll vorweg genommen hätte. In Stephys Fall wäre Alltag doch auch ok gewesen. Dann wäre der Schluss nicht so vorhersehbar daher gekommen.

 

Tja, schön und gut, doch in "Alltag" wäre ich nie auf dieses kleine Werk gestoßen, weil ich da eigentlich nicht rumkrame...

Ich fand die Geschichte irgendwie erfrischend gut! :prost:

Aber wie chaosqeen meine ich auch, dass der Gruseleffekt noch besser zur Geltung käme, wenn er die roten Buchstaben gesehen hätte...

Doch sonst, echt pfiffig! :thumbsup:

Grüße,
Maja.

 

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