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Der rote Schleier (Hallstattzeit / Kelten)
Der rote Schleier (Kelten)
(6) Im verrufensten Gasthaus der Stadt waren noch einige Plätze frei. Der Krieger streckte sich in einer Ecke aus und schaute sich um. Obwohl das spärliche Licht der Öllampen die rußigen Holzwände kaum erreichte, waren einige Einzelheiten zu erkennen. Hier lag ein ausgeraubter Trunkenbold in seinen Ausscheidungen, dort wurde eine Magd verschachert.
Die erste Zeit in der keltischen Großstadt war rau gewesen. Der Krieger hatte schnell gelernt, dass entschlossenes Auftreten und unverzügliches Zuschlagen die Rettung bedeuteten. Der rote Schleier war wie eine Erinnerung, die jederzeit wieder hervorgeholt werden konnte. Die Schankfrau brachte einen Krug Bier, die Zukunft erschien strahlend. Abenteuer wollten gesucht und gefunden werden. Ein dicker Salzhändler ließ sich auf der benachbarten Holzbank nieder. War das ein Anfang oder ein Ende?
Der Fürst von Hallstatt hatte das Druidenwort auf seine Weise verstanden. Er wollte nicht sterben und hegte die Hoffnung, auf seine alten Tage doch noch einen Sohn zu zeugen. Daher hatte er verkünden lassen, dass nicht er selbst, sondern seine einzige Tochter beim nächsten Neumond auf einem Floß inmitten des Sees verbrannt werden sollte. Sie hatte nicht geweint und nicht gefleht, keine Schwäche gezeigt. Die Amme brachte ihr ein Frühstück.
Der Krieger stieß einen Schrei aus und die Gegner verschwammen zu schemenhaften Gestalten am Boden eines Brunnens. Sehnige Finger spannten sich um das achtlos abgerissene Aststück. Der von rotverschleierten Augen gelenkte Knüppel öffnete die Schädel der unglücklichen Vogelfreien mühelos. In ihren Beuteln fanden sich einige kleine Kupferstücke. Die Kleider des Kleineren passten gut genug.
Die Amme murmelte beruhigende Worte und flocht der Tochter des Fürsten eifrig Kränze ins Haar. Sie ließ es wie betäubt geschehen. Als wäre es eine Heirat. Alle vorteilhaften Herren waren stets von ihr abgewiesen worden. Es gab so viele Frauen, die von den Pflichten der Hauptfrau eines ehrgeizigen Unterfürsten träumten, warum sollte sie unter dieses Joch kriechen? Also hatte das Volk die eigensinnige Fürstentochter niemals im Brautschmuck gesehen. Sie eiferte lieber der verstorbenen Mutter nach und verzierte sich auf ihre Weise. Die Amme betastete kopfschüttelnd die fremdartigen Schmucknarben auf ihren Wangen. Sie war keine hübsche Prinzessin. Der Klang der Druidenhörner verkündete den Beginn des Opferrituals.
Der Krieger erreichte den Trampelpfad, der um den See herum und durch die dichter werdende Dunkelheit führte. Das Knacken der unter den stampfenden Schritte zerbrechenden Äste klang wie eine beruhigende Melodie. Der Schleier hatte sich schon fast ganz verzogen, als ein Lagerfeuer weiter vorn auftauchte. Zwei Gestalten bewegten sich um es herum.
Als die jungen Druidenschüler begannen, sie in der Mitte des Floßes fest zu binden, fiel die Betäubung, die seit dem Frühstück nicht mehr hatte weichen wollen, von ihr ab. Wahrscheinlich hatte die kräuterkundige Amme auf geheime Weise an ihrer Beruhigung gearbeitet. Doch nun riss Sie sich los und schrie ihren Zorn in die offenen Münder der Männer. Mit rotverschleierten Augen sprang sie ins Wasser. Die Fürstentochter konnte den Wald am anderen Ufer schneller erreichen als jeder andere.