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Der rote Joachim
„Ich habe alle Überwartungen enttäuscht“, lallte Joachim in den Hörer.
Am anderen Ende der Leitung stand Monika. Sie wunderte sich nicht mehr über das Betragen ihres Mannes. Wenn er zuviel getrunken hatte, begann er seine Umwelt regelmäßig mit stark reizorientierten semantischen Verstrickungen zu malträtieren, um einerseits seine, wie er sagte besondere Fähigkeit in diesen Belangen zu exponieren, und andererseits, um egozentrischen Argumentationen den Pesthauch der individuellen Identität zu nehmen. Monika liebte ihren Mann, aber wenn er auf Drogen war, konnte er unerträglich werden. Und diesmal war es wieder soweit.
Joachims Wesen war eigentlich ein recht liebenswürdiges. Er hatte nie geraucht, außer hie und da einen Joint. Andere Frauen interessierten ihn nicht, und sein Job – er arbeitete als Psychotherapeut in der Landwirtschaftskammer – war sein Ein und Alles. Ausgenommen Monika natürlich. Ausgenommen Monika natürlich. Sie hatte er bei einem Ausflug mit rekonvaleszenten Jungbauern kennengelernt, die nach einem Burn-Out – die stressigen Foto-Arbeiten am neuen, erotisch angelegten Bauernkalender brachten die bodenständigen und bausbackigen Buben beim scharfen Posing mit den professionellen und halbnackten Models völlig aus der Fassung – in einer Therme auf Genesungstour waren. Als er Monika damals an der Rezeption erblickte, schlug es bei ihm ein wie der Blitz. Vergessen war die Jungbauern-Schar hinter seinem Rücken, und das nicht nur zum nachträglichen Leidwesen eines Unbeaufsichtigten seiner Gilde, der in einer Bademeisterin des Hauses ein Model aus jenen verheißungsvollen Tagen wiederzuerkennen glaubte, und jener, sich nun nicht mehr unter den dienstlichen Fittichen der Kammer sondern privat wähnend, mit einer Hand und einem wahrlich saublöden Grinsen im Gesicht an den Bikini-Hintern klatschte. Eine Anzeige war die Folge. Noch heute wird dieses Erlebnis sowohl von Monika als auch von Joachim in schwierigen Momenten der Ehe gerne als willkommene und beziehungskittende Anekdote herangezogen, und immer wieder können während dem Auswalzen des Themas neue Details gefunden werden. Manche Abnormität wird aber wohl nur in den Einbildungen der beiden existieren.
Joachim selbst lebt innerlich in einer recht verknäuelten Welt. Warum das so ist, kann er sich beim besten Willen nicht genau erklären. Die Vermutung liege aber nahe, vertraut er besseren Bekannten während moralisierendern Schüben manchmal an, es habe etwas mit seiner Kindheit zu tun. So wollte ihn seine Mutter bereits als Achtjährigen zum Stricken verführen. Ein Versuch, der kläglich scheiterte.
Dann verblasste die Erinnerung. Erst Jahrzehnte später rückte ihm diese Begebenheit wieder ins Gedächtnis, als er nach Dienstschluss noch länger in seinem Büro blieb, um einen schwierigen Fall eines Jungbauern aufzuarbeiten, der nach einer Parteisitzung den herrenhaften Schwur Dem Land die Treue angesoffen wie er war, ernst bis zum Jupiter nahm, und sich noch spätnachts an das Gatter seiner Kuhweide ankettete. Völlig entkräftet und umringt von einer Herde zotteliger und schlammbedeckter Hochlandrinder wurde er – ein seliges Lächeln umspielte seine Mundwinkel – am nächsten Morgen vom örtlichen Pfarrer, der vor der Frühmesse zu spazieren pflegte, aufgefunden.
„Ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat“, pflegte jener diesen obskuren Akt einer womöglich endgültigen und totalen Heimatverinnerlichung mit einem flappsigen Schulterzucken zu kommentieren.
Dieser Ausspruch aber brachte, so sehr er auch einem verirrten Geist entsprungen sein mag, bei Joachim an diesem Büroabend das Knäuel in seinem Hirn in’s Rollen. Vorerst freilich nur metaphorisch, aber immerhin.
Es musste irgendwann im Jänner gewesen sein, als er sich dazu durchrang, einen Strickkurs an der städtischen Volkshochschule zu belegen. Mit ambivalenten Gefühlen erinnert sich Joachim an den ersten Abend zurück. Er machte sich direkt nach der Arbeit auf den Weg zum Kurs, die Temperaturen lagen unter dem Gefrierpunkt, es schneite leicht, und seine Nerven waren angespannt.
„Vielleicht ist das etwas, was ich in meinem Leben aufarbeiten muss“, sinnierte er halblaut beim Gehen im Schneegestöber, „und was auch passieren mag: ich werde heute in diesen Kurs gehen!“
Das eigene Mutzusprechen war nicht notwendig. Es stellte sich heraus, dass sich zu diesem Lehrgang für Anfängerauch andere Teilnehmer seines Geschlechts gemeldet hatten, und bald bildete sich in der Pause eine aufgeräumt palavernde Runde von fünf Männern. Die Frauen, es war auch eine aus seiner Gegend dabei, die sein Aufkreuzen mit dem überraschtem Ausruf Nein, so was, das ist aber schön, dass Sie sich als Mann auch für das Stricken interessieren! untermauerte, standen etwas abseits. So war es dann an jedem Abend gewesen. Die Männer unterhielten sich in den Pausen alleine prächtig und wie auf einer fröhlichen Junggesellen-Party, tauschten zwischendurch ihre neuesten Kenntnisse von Kraus gestrickt über Glatt rechts bis hin zum Bündchenmuster aus, und drängten nach der letzten Kursstunde immer öfter auf ein Bier zum Rosendrescher.
Es war also einer jener Abende, als die Männer wieder beschlossen, beim Bernie – so wurde der Gastwirt von Nahestehenden genannt – noch einen Aufgießen zu gehen. Dort angelangt, vibrierte schon eine spürbar ausgelassene und halsbrecherische Stimmung im Raum (Mond im Wassermann), und der bekömmliche Gerstensaft – Bernie zapfte an diesem Abend selbst – floss, bis das Fass schrumpfte. Kurz vor Mitternacht, der Vollmond stand beinahe schon genau im besagten Tierkreiszeichen, schwappte die Laune unter den Gästen auf ihren Höhepunkt zu. Jetzt ging es unter den schon beträchtlich angesäuselten Anwesenden nur noch um die schäbigsten Witze, lüsternsten Mimiken und ausgefallensten Knobeleien.
„Ich wette, dass ich hier und jetzt noch sauber abketten kann“, übertönte der auf seinen Zehenspitzen schwankende Joachim den Lärmpegel im Gastzimmer.
Die meisten Besucher konnten mit dem Begriff Abketten nichts anfangen, und die Geräuschkulisse wurde von einer vollkommenen, enervierenden Stille geschluckt – nein, nicht ganz vollkommen: Nur der für seine Weißbier-Gelage berüchtigte Weizen-Erich gluckste schelmisch auf die Schnelle und mit neugierigem Seitenblick gen Joachim noch rasch ein dunkles Hefe:
"Abketten? Ist das eine neue Trinktechnik?"
„Ich kette jetzt ab – und zwar auf meine Weise!"
Joachim war sichtlich in seinem Element. Er öffnete seinen Aktenkoffer – im Gedränge beugte man sich noch näher um ihn herum –, und entnahm ihm einen im Kurs begonnenen und nun fast fertig gestrickten roten Winterschal.
„Aufgepasst!“
Anstatt die letzten Maschen zusammenzuhängen, damit diese nicht aufgehen, löste er die kleinen Schlingen nacheinander wieder auf, tanzte mit der daraus gewonnenen Wolle, den russischen Kasatschok andeutend, um die verdatterten Gäste, und umgarnte diese.
„Ich habe alle Überwartungen enttäuscht“, wiederholte Joachim am Telefon, und sein Lachen klang befreit und gelöst.
Nur wenige Tage nach diesem Vorfall kündigte er in der Landwirtschaftskammer seinen Job – nicht ohne dem treue-schwörenden Jungbauern mit einem inoffiziellen Hofbesuch seinen persönlichen Ratschlag für eine wiederherzustellende Reputation zu überbringen.
Bei seinen Freunden wurde der Ex-Kämmerer alsbald Der rote Joachim gerufen. Einer fixen Arbeit ging er nie wieder nach. In den linken Gesellschaftskreisen wurde er aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten allerdings für manche impulsive Freiheitsrede engagiert. Irgendein Wiffzack (österreichisch für Schnell-Checker) hatte in jener legendären Rosendrescher-Nacht ein Foto geschossen, wie ein Psychotherapeut der städtischen Landwirtschaftskammer im russischen Tanzschritt mit rotem Garn die Anwesenden verzaubert, und ein gerahmter A3-Ausdruck davon fand einen Ehrenplatz über dem – ansonst zumeist von konservativen Seelen okkupierten – Stammtisch. Aufregung gab es nochmals um besagten Jungbauern. Bei einer im Winter stattgefundenen tierärztlichen Kontrolle staunte der Doktor nicht schlecht: Alle Kuheuter waren mit einem Kälteschutz versehen. Rot und selbstgestrickt.