Der rote Brief
Das Rauschen kam näher und näher. Es schwoll zu einem gellenden Schrei heran und verlor sich schliesslich in der Dunkelheit.
Ein brennendes Stechen traf sie mitten ins Herz. Langsam breitete es sich aus, eroberte sich Stück für Stück ihres Körpers. Zerfrass sie, langsam, qualvoll. Ein riesiges, klaffendes Loch blieb zurück, an der Stelle, wo ihr Herz einmal war.
Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand blitzartig, als er den roten Umschlag sah. Diese Schrift kenne ich. Das kann nichts Gutes heissen. Seine Augen wanderten über die Zeilen. Schönheit… Berührungen… Küsse… Wolke 7… „Schlampe“… bessere Hälfte… Leb wohl.
Was hat sie sich bloss dabei gedacht?!
Wie konnte er mir das antun? Ich habe wirklich gedacht, dass er mich genauso liebt, wie ich ihn liebe. Ich hätte ihm alles geben können. Ich hätte mein Leben für ihn geopfert. Er hat es nicht gewusst. Er hat einfach nicht gewusst, was er an mir hatte. Er hat nicht gewusst, wie sehr ich ihn liebe. Und das Schlimmste ist, er weiss es noch immer nicht.
Der Stift verursachte ein kratzendes Geräusch, als er über das Papier glitt.
Er soll wissen, wie ich mich fühle. Er soll wissen, was er mir angetan hat. Ich will, dass er es bereut und dass es ihm genauso schlecht geht wie mir.
Dabei hat es einmal so schön angefangen.
Als ich dich das erste Mal gesehen habe, traf mich deine Schönheit mit voller Wucht. Nein, dass kann ich nicht schreiben, sonst glaubt er noch, er sehe gut aus. Aber er sieht nun mal gut aus. Vor allem seine Augen! Wenn man dort hineinsieht ist es, als würde man in eine andere Welt eintauchen. Und wenn er lächelt, geht die Sonne auf. Die Momente, die wir zusammen verbracht haben, waren die Schönsten meines Lebens. Ich sollte ihm vielleicht sagen, welche Momente genau, vielleicht das Picknick am See oder doch der romantische Filmabend? Ach das kann er sich ja selber denken. Deine Berührungen, dein Blick, wenn du mir tief in die Augen gesehen hast, deine Küsse... Nein, das ist viel zu kitschig. Aber wenn er mich berührt hat, fing es in meinem Bauch an zu kribbeln, ich hatte überall Gänsehaut und...... sein Blick...... ich glaubte, er könnte in mich hinein sehen. Doch das ist alles nichts im Vergleich zu seinen Küssen. Wenn seine Lippen sanft auf meinen lagen, war es um mich geschehen. Ich schwebte auf Wolke 7. Meine ganze Welt war rosa. Ich fühlte mich wie im Paradies. Alles war flauschig und weich und ich habe mich geborgen gefühlt.
Doch von dieser Wolke 7 bin ich sehr schnell wieder herunter gefallen. Der Aufprall war hart, sehr hart. Jetzt ist meine Welt nicht mehr rosa, sie ist jetzt rot, blutrot.
Als ich dich dann mit dieser „Schlampe“ sah…Wie du sie geküsst hast, dabei war sie noch nicht mal hübsch. Ich kann es noch immer nicht glauben, wie ich mich in dir getäuscht habe. Du hast meine Welt zerstört.
Das brennende Stechen in ihrer Brust entflammte von Neuem. Sie krümmte sich vor Schmerzen. In jenem Augenblick bin ich bestimmt kein schöner Anblick gewesen, wahrscheinlich ist mein Gesicht mit den Tränen davon geflossen.
Ich habe ganze Flüsse geweint. Der Nil ist nichts dagegen. Es ist als hättest du mein Herz mitgenommen und dafür ein riesiges Loch hinterlassen.
Warum hören diese Schmerzen nicht endlich auf? Es heisst doch, Zeit heilt Wunden, aber das Loch in meiner Brust wird mit jeder Sekunde grösser.
Du sollst wissen, ich habe dich wirklich sehr geliebt. Ich weiss nicht genau wieso, aber du warst mein ein und alles. Du warst meine bessere Hälfte, ohne die ich nicht leben kann. Du hast mir Kraft gegeben und du warst der Lichtblick in meiner düsteren Welt.
Mein Leben ist die Hölle. Ohne ihn geht es nicht. Ich habe doch sonst niemanden.
Hoffentlich wirst du glücklich mit dieser „Schlampe“! Nein, das ist zu hart. Trotz allem will ich nur das Beste für ihn. Ich wünsche dir das gesamte Glück auf Erden. Auch wenn ich nicht glaube, dass du es mit ihr finden kannst. Mit mir hättest du es gefunden. Wir wären so glücklich geworden. Wir sind füreinander geschaffen. Das Einzige, was ich für ihn tun kann, ist ein gutes Wort für ihn einzulegen.
Ich werde dich immer lieben!
Leb wohl!
Seine Träne kullerte über die Zeilen. Anstelle der Wörter blieb nur noch ein blutroter Fleck zurück.
Das Rauschen kam näher und näher. Und plötzlich ging alles ganz schnell.
Zu spät stand er an ihrem Grab und flüsterte: „Ich liebe dich.“