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Der rote Ball
"Lass die Finger vom roten Ball!"
Erschrocken drehe ich mich um. Frau Maag steht am Fenster und schaut grimmig zu mir hinunter. Ich antworte nichts, jage nur erschrocken davon.
"Komm nicht wieder, hast du verstanden?", brüllt sie mir wütend nach.
So schnell ich kann, renne ich zur Mauer und verstecke mich dahinter. Den Schulsack werfe ich ins hohe Gras und bleibe, nach Luft japsend, stehen. Als ich wieder ruhiger atme, schleiche ich zum Spalt in der Wand. Mein Herz klopft laut. Vorsichtig schiebe ich mein Auge an die Lücke in der Steinmauer und beobachte den roten Ball. Er liegt einfach dort.
"Verschwinde von hier! Der Ball frisst Kinder!"
Ich zucke zusammen und knalle mit meinem Kopf an den Stein. Wo ist sie? Wie konnte sie mich sehen? Ich fühle ihre Nähe. Sie macht mir Angst. Ich renne nach Hause. Blut rinnt mir übers Gesicht.
Sobald mich meine Mutter sieht, beginnt sie ein Theater. "Hast du dich geprügelt? Warum blutest du? Was ist passiert?", will sie wissen.
"Ich bin von der Schaukel gefallen." Mehr will ich nicht erzählen. Mein Vater meint, dass ich nur durch Schaden klug werde. Nur so würde ich lernen vorsichtiger zu sein.
Ich gehe früh zu Bett, doch schlafen kann ich nicht. Die ganze Nacht träume ich vom roten Ball, wie ich mit ihm spiele.
Am nächsten Morgen klebt meine Mutter ein grosses Pflaster über die verkrustete Beule. "Die Wunde muss steril bleiben", erklärt sie.
Auf dem Weg zur Schule schleiche ich wieder zu Frau Maags Garten. Vorsichtig schaue ich, ob sie da ist. Sie ist nirgends zu sehen. Ich muss den roten Ball unbedingt sehen.
"Geh keinen Schritt näher zum Ball! Sonst passiert es!"
Ihre Stimme trifft mich wie ein Schlag. In meinem Bauch steigt eine Hitze auf. Ohne auch nur einmal zurückzuschauen renne ich zur Schule. Von wo konnte sie mich sehen? Vor Anstrengung muss ich mich auf dem Pausenhof übergeben. Mein Kopf pocht, mein Herz hämmert.
Während dem Unterricht kann ich mich nicht konzentrieren. Die Schulstunden ziehen sich endlos in die Länge. Überall sehe ich den roten Ball. Endlich dröhnt die Pausenglocke. Als erster stürme ich aus dem Klassenzimmer. Ich sollte direkt nach Hause. Doch der rote Ball, er zieht mich an wie ein Magnet. Ich kann nicht anders. Auf Händen und Knien krieche ich ganz vorsichtig etwas näher. Ich will ihn sehen.
"Verschwinde von hier! Der Ball frisst Kinder! Du bist der Nächste!"
Plötzlich, aus dem Nichts, taucht Frau Maag auf. Mit gespreizten Beinen, die Arme in ihre Hüfte gestützt, steht sie vor mir. Ihr Blick will mich töten, ihre muskulösen Arme wollen mich erwürgen, ihr Geifer tropft auf mich hinunter. Voller Angst aale ich mich auf allen Vieren ein paar Meter vorwärts, weg aus ihren Klauen. Zitternd stehe ich auf und flüchte, so schnell ich kann, nach Hause.
Mutter hat Spaghetti gekocht. Doch ich habe keinen Hunger. Trotzdem würge ich ein paar Nudeln hinunter in der Hoffnung, sie sagt nichts.
"Was ist mit dir los?", fragt mein Vater.
"Ach nichts, mein Kopf schmerzt noch etwas."
"Was ist gestern wirklich passiert? Die Art der Wunde passt nicht zu deiner Geschichte", stellt meine Mutter scharfsinnig fest.
Ich denke kurz nach und entscheide mich für die Wahrheit. "Auf dem Schulweg, hinter der Mauer im Garten von Frau Maag, liegt ein roter Ball."
"Welche Frau Maag? Welcher Garten?"
"Die Frau Maag mit den muskulösen Armen und dem tötenden Blick. Sie mit dem roten Ball im Garten!"
"In dieser Strasse sind links und rechts nur Felder. Da wohnt keine Frau Maag mit einem roten Ball im Garten", antwortet sie.
Ich stehe vom Mittagstisch auf und gehe zum Fenster. Vorsichtig hebe ich den Vorhang etwas an und schaue in Richtung Schulhaus. Ich sehe nur gelb blühende Rapsfelder, die Dorfkirche und daneben das alte Schulhaus. In der Scheibe spiegelt sich die Küche, schemenhaft sehe ich meine Eltern. Mein Vater kommt auf mich zu, er hält etwas, etwas Rotes, …