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Der Rosenprinz

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08.02.2003
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Der Rosenprinz

Der Rosenprinz“

Lisettes Hände zitterten vor Aufregung, denn in ihrer Magengrube schienen tausend Schmetterlinge ein Fest zu feiern. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, seit sie zu Hause angekommen, die Türe ihrer kleinen gemütlichen Dachgeschosswohnung hinter sich zugezogen hatte. Eben entledigte sie sich noch respektlos ihrer schwarzen Designerschuhe um sich endlich vor ihrem PC sitzend, einloggen zu können. Den ganzen langen Arbeitstag konnte sie an nichts anderes denken und es kaum erwarten bis sie wieder an den Platz durfte, an dem ihr die letzten drei Wochen ein Gefühl vermittelt wurde, auf das sie ohne sich darüber im klaren zu sein, so lange gewartet hatte.
Zweiundvierzig Jahre musste sie alt werden, bevor sie dieses Gefühl erleben durfte. Kribbeln im Bauch, weiche Knie und feuchte Hände, nur bei dem Gedanken an ihn. An jemanden, den sie bis dato noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Alles entwickelte sich quasi online. Und obwohl sie derzeit nicht viele Gedanken an das Wie verschwendete, so hatte die Situation doch und gerade aus ihrer Sicht etwas pikantes. Noch vor drei Wochen, als sie den Entschluss fasste, ihr Singledasein bei einer passablen männlichen Gelegenheit einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, hatte sie ihre Freundinnen geradezu belächelt, wenn diese von ihren neuen Errungenschaften berichteten, und sich über die damit verbundenen emotionalen Begleiterscheinungen ausließen.
So etwas dachte Lisette damals würde ihr nicht passieren. Sie empfand sich immer als „Kopfgesteuert“. Und wenn sie schon mal entschieden hatte, an ihrem bisherigen Leben einige unwesentliche Änderungen vorzunehmen, so wollte sie es sein, die den Umfang und die Geschwindigkeit der Veränderungen bestimmte.

Sicher, sie war keine Frau von der Sorte, die es verstand mit Leichtigkeit auf andere zuzugehen. Vielleicht war gerade das ein Grund, warum sich ihr bisher einziges Zusammenleben in trauter Zweisamkeit auf ihre Schildkröte Ginger beschränkte. Dennoch war sie der Überzeugung, ein gesundes Selbstbewusstsein ihr eigen nennen zu können. Plötzlich musste sie jedoch eingestehen, dass sie nicht nur keinen der beiden Punkte bestimmte. Vielmehr noch, es war ihr egal. Eigentlich war ihr derzeit alles egal. Nur eines nicht. Der Kontakt zu ihm. Der bloße Austausch von Gedanken, fließend, über eine nicht vorstellbare Menge an Kabelkilometern. Vorurteilsfrei. Keine Beeinflussung durch äußerliche Nebensächlichkeiten, Statussymbole oder die Meinung Dritter. Lisette glaubte gefunden zu haben wonach sie sich so lange sehnte. Ein Gegenüber mit dem sie sich über alles austauschen konnte.
Allein seine Sprache war so mächtig an Gefühl und Detail, dass ihr regelmäßig heiß und kalt zugleich wurde, sobald sie seine E-Mails öffnete und diese verschlang. Er traf mit seiner Art zu kommunizieren jedes Mal genau den richtigen Ton und zielsicher auch Lisettes Meinung zu den verschiedenen Themen. Und derer hatten sie die letzten Wochen viele erörtert. Nur ein Punkt blieb bisher offen. Keiner von beiden wusste wie der andere aussah. Sicher, Lisette kannte seine Vorlieben wenn’s ums Essen ging, seinen täglichen Rhythmus und welche Lektüre er bevorzugte. Er konnte exakt die Einrichtung ihrer Wohnung wiedergeben und wusste wo ihre bevorzugten Urlaubsgebiete lagen. Doch dieser eine Sachverhalt, blieb bislang ungeklärt. Anfangs noch ohne Hintergedanken. Doch mit jedem weiteren Tag wurde klar, dass dieses auf beiden Seiten entstandene Interesse für ein gesichtsloses Gegenüber, sich mit der Zeit in eine erotische Emotionalität wandelnd, auf der bloßen Kraft des geschriebenen Wortes aufbaute. Gerade Lisette empfand dies in besonders starker Weise. Sie genoss geradezu, sich diesem Zustand hinzugeben.
Dennoch ertappte sich Lisette immer häufiger dabei, wie sie ihrem Rosenprinzen gedanklich eine leibliche Hülle verlieh. Zuletzt, bei einer außergewöhnlich frivolen Mitteilung die er sandte, konnte sie nicht umhin, ihren erotischen Phantasien nachzugeben, und sich auf ein derzeit nur in ihrer Phantasie stattfindendes Erlebnis, einen Vorschuss zu nehmen. Die Zeit schien also gekommen, um das große Fragezeichen zu entzaubern. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, genau dieses in der zwischen ihnen mittlerweile üblichen Offenheit zu klären. Mutig entschlossen den nächsten Schritt in Angriff zu nehmen, ging Lisette daran ihren elektronischen Briefkasten, Lisette nannte ihn mittlerweile „ihren Liebesboten“, zu öffnen.

Wie immer dauerte es. Scheinbar war die Datenautobahn wieder restlos überlastet. Sie nutzte die Zeit um kurzerhand frischen Kaffee zuzubereiten. Das Wasser röchelte durch die alt gediente Kaffeemaschine und erfüllte bald darauf die ganze Wohnung mit dem aromatischen Duft frisch gebrühten Kaffees. Sie betrat gerade rechtzeitig das Zimmer, als die frohe Botschaft aus ihrem Computer tönte: „Sie haben E-Mail erhalten“. Sofort im Anschluss öffnete sich das übliche Dialogfenster mit der Frage: „Wollen Sie diese öffnen?“ Lisettes Mundwinkel formten sich zu einem freudigen Lächeln. Und ob sie wollte. Ein kurzer Klick auf „JA“ und keine Sekunde später erschien der Name des Absenders. Es war ihr „Rosenprinz“. Lisettes Herz schlug augenblicklich schneller. Sofort öffnete sie die Nachricht und begann zu lesen. Das eben noch so erwartungsfrohe Lächeln, wandelte sich in ungläubiges Staunen. Als sie fertig gelesen hatte, nahm sie einen kurzen Schluck von dem noch viel zu heißen Kaffee, stellte die Tasse wieder an ihren Platz und las die Nachricht ein zweites mal. Lisette konnte nicht glauben was da geschrieben stand. Sie lehnte sich einen Moment zurück und dachte nach. Darüber, wie es sein konnte, dass zwei Menschen, die sich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatten, die seit erst drei Wochen mittels eines Mediums namens Internet kommunizierten doch scheinbar so seelenverwandt waren, dass sie just zum gleichen Zeitpunkt das gleiche dachten, fühlten und auch aussprachen.

Er schrieb, er sei nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gelangt, dass es das Wagnis wert sei, die gegenwärtig so wundervolle und prickelnde Situation in eine neue Phase zu führen und schlug ein Treffen vor. Lisette wusste nur zu gut was er meinte wenn er von einem Wagnis schrieb. Auch sie empfand es als solches. Denn egal wie sich das Treffen gestalten würde, ob es eine Fortsetzung erfahren würde oder auch keine. Nichts würde mehr sein wie es war. Dennoch, sie hatten sich entschieden. Allein das Ende seiner Nachricht entfachte bei Lisette wieder dieses Prickeln, ein ganz bestimmtes Gefühl, das sie jedes Mal heimsuchte, wenn sie seine Zeilen las. Er schrieb: „ Hoffentlich teilst du meine Überlegung was diesen so wichtigen Punkt betrifft. Denn nichts liegt mir ferner, als diesen bisher wunderbaren Austausch von Gedanken und Gefühlen, über den von mir eingebrachten Vorschlag, auch nur annähernd negativ zu beeinflussen. In diesem Sinne wäre ich sicherlich der glücklichste aller Erdenbewohner, könnte ich mir deiner Zustimmung sicher sein. Vielleicht gibt es ja wirklich noch Märchen und ein neuzeitlicher Rosenprinz findet seine Prinzessin.“ Lisette konnte nicht genug davon kriegen und las die Mail zum dritten mal. Natürlich nur, um keine wesentlichen Angaben zum anstehenden Treffen zu vergessen. Anschließend machte sie sich sofort daran, ihm ihre Antwort zukommen zu lassen. Auch seine Reaktion ließ wiederum nicht lange auf sich warten. So ging es eine ganze Stunde. Als schließlich alle wichtigen Fragen bezüglich der anstehenden Verabredung geklärt waren und der Hauptschalter des Terminals auf „Off“ stand, ließ sich Lisette in ihr schwarzes Ledersofa fallen und genehmigte sich ein gutes Glas italienischen Chianti.
In aller Ruhe ließ sie noch einmal die letzten Wochen gedanklich Revue passieren. Wochen, in denen sich alles so aufregend schnell entwickelt hatte und die nun am kommenden Freitag, ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen sollten. Abwesend starrte sie auf ihr Weinglas. Einen Augenblick schmunzelte sie. Und wäre außer Lisette noch jemand im Raum gewesen, er hätte wohl unter Kenntnis all des Vorangegangen ein Leichtes gehabt, ihre Gedanken zu bestimmen. Sie würde im Restaurant des städtischen Kongresszentrums einen Mann treffen, von dem sie scheinbar alles wusste – und doch wieder nichts. Einen Jemand, der nur mit der Macht seiner Worte vermochte sie in Wallung zu bringen, den sie aber noch nicht einmal kannte. „Irgendwie schon verrückt“, dachte Lisette. Hierzu passte auch, dass sie in Anbetracht der bisherigen Entwicklung, gegenseitige Erkennungsmerkmale vereinbarten. Eine rote Rose. Und, nur um auf Nummer Sicher zu gehen, sollte der jeweils andere ein Glas Prosecco „Hausmarke“ bestellen. Da sie bis zum Freitag keine weiteren Nachrichten mehr austauschen wollten und Lisette wenig Lust verspürte, ihre Freundinnen von dem skurrilen Ereignis in Kenntnis zu setzen, blieb sie mit ihren Gedanken allein. Nur eine leichte Nervosität ob des Kommenden, blieb ihr ständiger Begleiter.
Die folgenden Tage wollten nicht vergehen. Aus Lisettes Sicht krochen sie nur so dahin. Dann endlich war es soweit. Freitag ! Lisette hatte sich richtig in Schale geworfen. Sie konnte, wenn sie mochte. Doch meistens mochte sie nicht. Das war heute anders. Immerhin war es ein besonderer Tag. Zumindest sollte es einer werden.
Deshalb fand sie sich bereits zwanzig Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt am unteren Ende der Treppe ein, die zum Restauranttrakt des Kongresszentrums hinaufführte. Kurz darauf später hatte sie die letzten Stufen erklommen und stand, etwas außer Atem, nun unmittelbar vor dem Eingang des Lokals. „Ob er schon da war? Wahrscheinlich nicht, denn es war eigentlich noch zu früh.“ Lisette holte noch einmal tief Luft, stieß die schweren Flügeltüren kraftvoll auf und betrat das Innere des Restaurants. Im ersten Augenblick fühlte sie sich ein wenig verloren, stand sie doch etwas orientierungslos im Raum. Keinen Wimpernschlag später musterte sie ihre Umgebung und hielt Ausschau nach ihrem „Rosenprinzen“. Da sie niemanden ausmachen konnte, der die vereinbarten Kriterien erfüllte, steuerte sie einen noch freien Tisch am Ende des Raumes, direkt gegenüber des Einganges an. Von hier aus hatte sie einen guten Blick über das gesamte Restaurant.
Nachdem sie beim Kellner, einem lustigen blonden Burschen Mitte zwanzig, mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht, ein Glas Prosecco und eine kleine Flasche Evian geordert hatte, zupfte sie ihre Rose zurecht, so dass diese gut sichtbar an ihrer schwarzen Bluse die ihr zugedachte Aufgabe erfüllen konnte. Lisette nippte an ihrem Glas Prosecco und lehnte sich zurück in ihren Stuhl. Erst jetzt begann sie, das Umfeld genauer zu inspizieren. Es war ein gemütliches Lokal. Genau richtig für diesen Zweck wie sie fand. Dunkles Holz wohin man schaute, pastellfarbene Seidentapeten und exakt darauf abgestimmte Tischarrangements. Ihre Anspannung begann sich etwas zu lösen.

Noch immer waren knapp zehn Minuten Zeit. Ihr Blick fiel auf die Eingangstür. Doch es tat sich nichts. Wie sie ihn einschätzte, war er auf die Minute pünktlich. Lisettes Blicke schweiften weiter umher und blieben schließlich bei einem älteren, nett anmutenden Pärchen hängen, das unmittelbar am Nachbartisch links neben ihr saß. Die beiden waren ihr aufgefallen, da sie – seit Lisette am Nebentisch Platz genommen hatte, noch kein Wort miteinander gewechselt hatten. Sie saßen sich stumm gegenüber und hielten ihre Weingläser fest umklammert. Oberflächlich betrachtet konnte man zu der Schlussfolgerung gelangen, das Paar hätte sich nichts mehr zu sagen. Bei genauerem Hinsehen jedoch, glaubte Lisette am Ausdruck ihrer Augen, ja der gesamten Mimik zu erkennen, dass die beiden auf eine ihnen vertraute Form sehr wohl miteinander kommunizierten. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, dass es noch immer fünf Minuten zu überbrücken galt. Ein kaum zu vernehmender Seufzer entfuhr ihr. Heute schien die Zeit keine Eile zu haben. Wieder und wieder streiften Lisettes Augen den Eingangsbereich. Dann machte sie sich auf die Suche nach dem Gesicht des freundlichen jungen Kellners, um ihr mittlerweile leergetrunkenes Glas Prosecco wieder füllen zu lassen. Doch so sehr sie auch Ausschau nach ihm hielt, er war nirgends zu entdecken. Mit einem leeren Glas und nun wieder langsam steigender Anspannung lehnte sie in ihrem Stuhl und harrte der Dinge die da noch kommen mochten.

Just in diesem Moment öffneten sich die schweren Flügeltüren des Lokales. Ohne eine äußerlich erkennbare Regung, schnellte ihr Blick Richtung Eingang. Im gleichen Augenblick, schoss der Kellner, mit einem riesigen Tablett über seinem Kopf jonglierend, aus der Küche in Richtung Eingang. Doch an eine Bestellung war jetzt nicht mehr zu denken. Denn was sich augenblicklich im Eingangsbereich abzuspielen begann, war einfach zu unglaublich, als das man noch an irgend etwas anderes einen Gedanken hätte verschwenden können. Mit einem mal drängten fünfzig, vielleicht hundert Frauen und Männer in das Innere des Restaurants. Dieser Umstand wäre für sich genommen etwas unangenehm, doch nicht weiter schlimm gewesen. Hätte nicht jede der ankommenden Personen eine rote Rose mit sich geführt. Lisette starrte auf jeden Einzelnen der durch die Tür kam. Sie wähnte sich in einem schlechten Traum. Und als wäre das nicht genug, stand der Kellner, den sie eben noch vermisst hatte, jetzt stocksteif aber mit erprobtem Lächeln neben dem Eingang und begrüßte die ankommenden Gäste mit einem Gläschen Prosecco. Lisette ersparte sich, nach der Marke zu fragen. Keine zwei Minuten später war das eben noch für so gemütlich befundene Lokal gänzlich überfüllt und von einer Hektik erfasst, die ein romantisches Gespräch zu zweit nur schwerlich zugelassen hätte. Lisette war sich nicht sicher ob jetzt lachen oder weinen angebracht war. Eine Vielzahl an potentiellen Rosenprinzen, Lärm, Hektik und ein leeres Glas Prosecco, dem gegenüber unzählige gefüllte Gläser signalisierten – ich bin es, aber wo bist du? Keine gute Bilanz bisher wie sie fand.
Aber zumindest war noch ein Stuhl an ihrem Tisch unbesetzt geblieben. Es handelte sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um den letzten freien Platz im ganzen Raum. Eigentlich ungewöhnlich, wie Lisette bemerkte. Aber vielleicht war es ja ein gutes Zeichen?! Plötzlich huschte der junge Kellner an ihr vorbei, als sie ihn gerade noch am Ende seiner schwarzen Bistroschürze zu fassen bekam. Auf Lisettes Nachfrage klärte er sie dahingehend auf, das es sich hier um die jährlich stattfindende Tagung des Verbandes der Deutschen Rosenzüchter handelte. Im übrigen gab er sich erstaunt über diese Frage, war er doch die ganze Zeit der Meinung Lisette würde ebenfalls zu den Tagungsteilnehmern zählen.
Sein direkter Blick auf ihre rote Rose und das Glas Prosecco lies keine Zweifel offen. Jetzt gab es kein Halten mehr. Lisette fing so heftig an zu lachen, das ihr die Tränen in die Augen schossen. Obwohl nach dem bisherigen Verlauf des Abends eigentlich kein rechter Grund für diesen Anfall von Heiterkeit bestand, konnte sie nicht anders. Blieb die Frage zu klären, Zufall oder Absicht? Aber konnte es einen solchen Zufall geben? Und wer hätte die Niedertracht sie so vorzuführen? Doch Lisette kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen.
Aus den Augenwinkeln hatte sie registriert, dass der letzte freie Stuhl des Lokales gerade einen männlichen Besetzer gefunden hatte. Ohne sich ihm direkt zuzuwenden, musterte sie ihn von der Seite. Nach wenigen Sekunden war Lisette klar, dass der Abend gerade dabei war, sich so fortzusetzen wie er bisher verlaufen war. Der Mann der neben ihr Platz genommen hatte, Lisette schätze ihn auf annähernd fünfzig Jahre, schien sich keine weiteren Gedanken über seine Tischnachbarin zu machen. Zumindest vermittelte er nicht den Anschein. In Sekundenbruchteilen hatte sie realisiert, das er sowohl über das eine, wie auch über das andere Erkennungszeichen verfügte. Ein flüchtiger Gedanke Lisettes beschäftigte sich mit der Möglichkeit das „er“ es war, der dort Platz genommen hatte. Aber eben nur ein flüchtiger. Denn „er“ konnte, ja durfte es einfach nicht sein. Sollte es wider erwarten dennoch so sein, war sie fest entschlossen, sich auf keinen Fall zu erkennen zu geben. Denn wäre dem so, schloss Lisette daraus, könne es sich ausschließlich um eine gottgewollte Bestrafung von „da oben“ handeln. Doch Lisette war sich keiner Schuld bewusst. Neben ihr hatte ein „männliches Etwas“ Platz genommen, das die Beine weit von sich gestreckt und bereits das dritte Glas Prosecco in weniger als zwei Minuten geordert hatte. Der Blick ihres Gegenüber starrte in die Tiefe des Raumes, versehen mit einem Ausdruck, als würde einige Meter vor ihm ein Fernsehapparat ein Fußballspiel übertragen, bei dessen Beobachtung er nicht gestört werden wollte. Dünne braune, fett glänzende Haare, ein sich stark wölbender Mittelbau und Kleidung wie vor Tausend und Einer Nacht rundeten das Bild ab. Lisette konnte über diesen Anblick nur noch staunen und hatte sich, ohne es bemerkt zu haben, ihrem Gegenüber zugewandt. Jedenfalls führte es dazu, dass dieser sich in unveränderter Pose dazu berufen fühlte mit ihr ein Gespräch zu beginnen. Doch Lisette hörte gar nicht mehr was er von sich gab, denn bereits nach den ersten Worten, schlug ihr ein stark faulender Geruch entgegen, der sie reflexartig veranlasste sich soweit es eben ging nach hinten zu lehnen. Hätte in diesem Augenblick jemand eine Kamera zur Hand gehabt und abgedrückt, das Bild wäre wohl in Pitt Weyrichs Sendung „Kaum zu glauben“ auf den ersten Platz gewählt worden. Jetzt reichte es. Lisette hatte sich gerade entschlossen diesem Desaster ein Ende zu bereiten, als ein markerschütternder Schrei die Szenerie durchfuhr.

Erschrocken fuhr sie hoch. Doch der Schrei wollte nicht enden. Wieder und wieder vernahm sie ihn. Sie drehte sich nach allen Seiten. Doch erst als sie ihre kleine Tochter Sarah keine zwei Meter von sich entfernt im Kinderbett aufrecht sitzen sah, realisierte sie die Situation. Ein Traum. Gott sei Dank. Doch die Freude ob der schönen Erkenntnis musste sie später auskosten. Sie tastete sich entlang der Bettkante, schaltete ihre Nachttischlampe an und stand keine zehn Sekunden später am Bett ihrer Tochter, um diese sanft zu beruhigen. An der Brust ihrer Mutter schlief Sarah umgehend wieder ein. Was hatte das Kind nur so aufgeschreckt?!
Bei der Intensität der Schreie musste Sarah wohl einen ähnlich unschönen Traum gehabt haben wie sie. Lisette stieg wieder zurück in ihr warmes Bett, löschte das Licht und kuschelte sich an die Seite ihres Mannes Daniel. Der schlief tief und schien von alledem nichts bemerkt zu haben. Typisch dachte Lisette, Sarah kann das ganze Haus zusammenschreien, aber Dani schläft den Schlaf des Gerechten. Doch in diesem Moment war ihr das egal. Sie fühlte sich wohl. Doch so intensiv hatte sie es seit langem nicht mehr empfunden. Zweiundvierzig Jahre musste sie alt werden um zu erfahren, wie schön es sein konnte, nach nunmehr zwölf Jahren Ehe, mit diesem Gefühl der Zufriedenheit und Geborgenheit an seiner Seite einzuschlafen. Kurz bevor Lisette die Augen schloss, fiel ihr Blick auf den getrockneten Rosenstrauß, auf der Kommode. Es war ihr Hochzeitsstrauß. Lächelnd schlief sie ein.

 

Hallo Helium,

willkommen auf kurzgeschichten.de und hoffentlich werden wir noch mehr von dir zu lesen bekommen, denn dein sog. Einstand ist schon mal fabelhaft.

Ok, ich fang mal mit der negativen Seite an:
Ich bin wohl heute tiefromantisch veranlagt und obendrein langjährig verheiratet, daher hatte ich so sehr gehofft, es geht der Protagonistin besser als mir :D. Aber nix da, du stattest sie mit einem dumpfen Ehemann, schreiendem Kind und vertrocknetem Rosenstrauß aus. Und am Ende lächelt sie sogar noch, für mich ist es nur eine sog. tapferes Lächeln.

Pah...*enttäuschtguck* Was für ein grandioses verkitschtes Ende hättest du schreiben können, aber nungut, auch dir sei deine künstlerische Freiheit gegönnt und selbstverständlich mußt du nicht eine Geschichte so schreiben, wie ich sie gerne hätte. ;)

Aber um mal ehrlich zu sein, das Ende deiner Geschichte wirkt im Vergleich zum spannenden Anfang und weiter spannenden Mittelteil wie eine kalte Dusche am Ende und einen tüchtigen Klaps auf den Po dazu.

Ansonsten hab ich mit voller Spannung deine Geschichte durchgelesen und mitgefiebert mit deiner Protagonistin und war genauso entsetzt wie sie als da ein Haufen "Rosenkavaliere" hereinströmte und habe bis zu dem Ende der Geschichte fest daran geglaubt, dass Mr. Right noch auftaucht, um sie auf seinem weißen Schimmel mitzunehmen.
Hast einen angenehm lesbaren Schreibstil, was sich darin zeigt, dass nichts kraus wirkte oder unverständlich und nichts zu weitschweifig oder langatmig. Bis auf diesen Satz, den fand ich ein wenig hölzern:

"Doch mit jedem weiteren Tag wurde klar, dass dieses auf beiden Seiten entstandene Interesse für ein gesichtsloses Gegenüber, sich mit der Zeit in eine erotische Emotionalität wandelnd, auf der bloßen Kraft des geschriebenen Wortes aufbaute."
Ich denke, dass kannst du in schlichtere Worte kleiden, z.B.: Mit jeden Tag, mit jedem erotischen Impuls zwischen ihnen wurde der Wunsch in ihr drängender ihn endlich einmal sehen zu können.(naja so prall ist mein Beispiel jetzt auch nicht grad)


Ich bin also hochgespannt auf weitere Werke von dir, die hoffentlich *vordirknieundbettele* ein romantisches Happyend haben und nicht im Alltagsgrau versinken.;)

Lieben Gruß
lakita

 

Hallo Iakita,

vielen Dank für deinen Beitrag. Zum einen gebe ich dir Recht was den Ausgang der Geschichte betrifft. Auch ich war mir darüber im klaren, dass ein anderer Ausgang der Geschichte besser getan hätte. Andererseits mußte ich entscheiden, ob und inwieweit genau, ich eine, sich in vielen Familien alltäglich wiederholende Situation beschreiben wollte. Einmal die häufig unausgesprochene Sehnsucht nach einem Rosenprinzen oder einer Prinzessin, andererseits der reale Alltag. Dennoch bleibt es dabei, ein anderes Finale hätte sicherlich mehr Charme.

Mit freundlichem Gruß

Helium

 

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