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Der Rocker
von Vernon Berridge
Der Rocker saß auf dem kleinen Hügel und stimmte die Gitarre. Er spielte ein paar Akkorde unplugged, und die Kühe auf der Wiese stimmten lustig muhend ein.
Guter Sound, dachte der Rocker und seine Ganglien, unterstützt von elektrischen Entladungen in den Synapsen seines von synthetischen Drogen überfluteten Gehirns, begannen in seinem Innern einen neuen Song zu komponieren. Flugs hatte der Rocker einen prima Chorus zusammengezimmert, und der ging so:
All my cattle, baby, I schenk you. All my cattle, baby, moohs for you. All my cattle, ALL MY CATTLE!!!
YEAH!
Dem Rocker rollten vor Ergriffenheit helle Rocktränen aus den Augen. Er mußte sich in seine abgegriffenen, zerfurchten, knautschigen Lederklamotten schneuzen. Er war sicher, soeben einen echten Hit geschrieben zu haben, und das ohne Papier allein mit seiner benebelten Cannabisbirne.
"Boah", sagte der Rocker voll ehrlich empfundener Hochachtung zu all dem, das an ihm in dieser Welt gerade anwesend war, "boah, ich bin ich echt gut, ich bin stark, unverbraucht, kreativ, künstlerisch flexibel und ein echtes Genie. Fuck, man, fuck! Echt verfickt noch mal fucking super gut bin ich! Ich bin kein abgefuckter Schwanzlutscher, ich bin ein abgefickter, superknallharter Superrockschreiberling! All my cattle, das wird der Monsterhit auf meiner neuen Scheibe!"
Plötzlich fing der Rocker an zu weinen, aber diesmal nicht aus Ehrfurcht vor dem eigenen, ihm innewohnenden Genius, sondern aus ehrlich empfundener Trauer. Er weinte bitterliche Tränen, die in Strömem auf seine Knautschlederjacke hinabperlten.
"Verdammt, fucking verdammt!" schluchzte er. "In Wahrheit bin ich gar kein guter Songwriter, ich bin eigentlich echt Scheiße! Und 'All My Cattle' ist ein totaler kuhfladenbeschissener Scheiß-Kuhsong. Außerdem hört sich die Melodie an, wie aus einem alten Beatles-Song, und dabei hasse ich die Beatles, alle sechs: Lennon, McCartney, Harrison, Starr, Martin und Lynne. Diese abgefuckten genialen Melodieschreiber kotzen mich an! Und dann noch dieser Lynne mit seinem eigenen Projekten, ELO, vor allem ELO! Boah, Scheiße, Mann, der Kerl hat sogar 'ne echte Rock-Synfonie geschrieben, ganz alleine, mit allem Zipp und Zapp, mit Waldhörnern, Uhus und Eulen, Geigen, Cellos und Gitarren, Ukulelen und Verkäufern von türkischem Honig. Boah, dieses Scheiß Musikgenies, wie ich sie hasse! Fuckfuckfuckfuck!"
Der Rocker griff die neben ihm stehende halbgeleerte Bourbon-Whiskey-Flasche und leerte sie ein weiteres Mal halb. Dann wischte er sich mit einem dröhnenden Rülpser den Mund ab, drehte sich um und kotzte den kleinen Wiesenhügel hinunter, auf dem er saß.
"Mooh-moooooh!", muhte eine Kuh auf englisch, die unten hinter dem elektrischen Zaun gestanden hatte und sich jetzt anschickte, einen riesigen Kuhfladen in unmittelbarer Nähe zu platzieren.
"Scheiße, ja, das gefällt dir, was!" gröhlte der Rocker. "Ja, scheiß drauf, alte Kuh! Du hast was bei mir gut, Ich schmeiß dir nachher 'ne Dose echte Kidney-Bohnen über'n Zaun. Was sagste dazu?"
"Mooooh", muhte die Kuh, nachdem sie ihre anstrengende Verrichtung hinter sich gebracht hatte und wedelte sowohl mit dem Schwanz wie auch mit den Ohren.
"Klasse Wedeln!" rief der Rocker über den Zaun auf die stark besudelte Wiese. "Du hast echt Rhythmus im Blut, baby, yeah!"
Der Rocker drehte sich wieder um, griff seine Gitarre am Hals, so wie Jack the Ripper im London des 19. Jahrhunderts eine Prostituierte geliebkost haben mochte und schlug mit aller Rockgewalt unpluggte, aber scheppernde Akkorde aus ihr heraus.
"ALL MY CATTLE, BABYYYY, I SCHENK YOUUUU!" heulte er wie von Sinnen, nahm die leere Whiskeyflasche und haute sie auf einen Stein. "Scheiß leere Pulle! Verdammte fuck leere Scheißpulle!" fluchte er und dann fluchte und heulte er noch lauter, denn bei dem Kaputthauen der Flasche war ein großes Scherbenstück hochgeflogen und hatte mit seiner scharfkantigen Seite sein Gesicht unter dem rechten Augenlid zerschnitten. Aus der klaffenden Wunde pulste warmes, hellrotes, alkoholgeschwängertes Blut und klatschte in großen, schweren Tropfen wie ein tropischer Regen auf seine Lederjacke.
"VERFICKTESCHEIßARSCHFICKPISSFLASCHE!" heulte der Rocker los. Er zitterte am ganzen Körper. Das frische Blut bedeckte inzwischen seine Jacke, seine Hose, seine Schuhe und sogar das Gras unter ihm. Er war jetzt nicht mehr der schwarze Rocker im coolen schwarzen Lederoutfit, er war jetzt 'ne Pussy im roten Lederkleidchen. Er mußte was unternehmen, wenn er hier nicht noch wie ein abgestochenes Schwein ausbluten wollte. Er heute auf zu heulen und zu jammern und überlegte einen Moment. Dann entkorkte er die noch volle Bourbonflasche neben ihm im Gras und leerte sie halb. Er seufzte, rülpste, stellte die halbgeleerte Flasche neben sich, faßte sich an die Backe, die sofort voll Blut war und wischte das Blut im Gras ab. Dann fingerte er in der Innentasche seiner Jacke herum und holte ein großes, gepunktetes Baumwolltaschentuch und eine Rolle Isolierband daraus hervor. Er faltete das Taschentuch zu einem dicken Bündel und preßte es sich auf die Backe. Er rollte das Isolierband ab und klebte es auf das Taschentuch und sich selbst rund um den Kopf, bis es aufgebraucht war. Er achtete darauf, daß Mund, Nase und Augen dabei einigermaßen offen blieben. Als er fertig war, faßte er sich wieder an die Backe und bemerkte, daß er den Blutstrom gestillt hatte. Ein erleichtertes Zittern lief durch seinen ganzen Körper und er seufzte schwer und tief. Er entkorkte die Bourbonflasche ein weiteres Mal und leerte sie wieder halb. Die leere Flasche haute er auf den Stein, wo sie in tausend Stücke zerbarst.
"Du beschissene, verfickte Dreckshurenschweinepulle!" johlte er wie im Delirium und klatsche in die Hände. Er drehte sich um und kotzte ein weiteres Mal den Hügel runter. Die Kuh wedelte diesmal weder mit dem Schwanz noch mit den Ohren. Sie glotzte nur kuhäugig auf die menschliche Hinterlassenschaft hinunter.
"Scheißschweinekuh!", johlte der Rocker glücklich, "was is' mit deim Rhythmusgefühl!"
Er stand mühsam auf, wischte sich über den Mund, packte seine Gitarre und schwankte zu dem alten VW-Bulli hinüber, den er in ein paar Metern Entfernung geparkt hatte. Er öffnete die Fahrertür, warf die Gitarre nach hinten, klemmte sich hinters Lenkrad und wollte gerade den Motor starten. Da schlangen sich plötzlich zwei schlanke Arme um seinen Hals. Ein wunderschönes, nacktes blondes Mädchen hatte hinten auf einem Bärenfell gelegen und sich lasziv hin- und hergerekelt.
"Warum willst Du denn schon wieder losfahren?" flötete das Groupie. "Es ist doch so schön hier. Alles Natur und so. Kühe und so."
"Kotze und so", sagte der Rocker.
"Ja, genau", lispelte die Blonde. Ihre Brüste waren wunderschön, fest und rund, nicht zu groß und nicht zu klein. Die Knospen wirkten frisch, wie von Frühlingstau benetzt und schimmerten rosig. Der Rocker drehte sich um, um an den Brustwarzen des schönen Mädchens zu spielen, aber die nackte Venus war fort.
"Vadammesubaschweinscheise!" fluchte der Rocker. "Schon wieda diese abgefuckten Hallunzination!"
Er drehte entschlossen den Zündschlüssel im Schloß, legte den Gang ein, drückte auf's Gas und fuhr mit Tempo 80 und verständnislosem glasigem Blick in die Stadt zurück. Zwischendurch fingerte er immer wieder auf den Beifahrersitz rüber und pulte sich aus einem großen Glas einen Rollmops raus, weil er der Auffassung war, daß acht Rollmöpse den Alkohol von zwei 0,7 Liter Flaschen Kentucky Bourbon Whiskey absorbierten.
"Subbarollmöbbse!" gackerte der Rocker und drehte wild am Lenkrad, als er gerade eine scharfe Serpentine Richtung Tal hinunterdonnerte. Er hatte einen Lachanfall.
"Subbamöbbs, Möbbse sinn überhaub subba!" johlte er fröhlich. "ALL YOUR MÖBBSE, BABYYYYY, I SCHLECK THEM FOR YOOOUUUUU!" gröhlte er und fühlte sich eins mit dem gesamten bekannten Universum.
In der Stadt angekommen, sauste er an dem tastend ausgestreckten Gehstock einer uralten Frau auf einem Zebrastreifen vorbei. Die Flanke des Bullis touchierte ihn soeben an der Spitze, und der Gehstock wurde hoch in die Luft geschleudert und blieb auf einem Fenstersims im dritten Stock des gegenüberstehenden Wohnhauses liegen.
"Sie RÜÜÜÜ-PELL!" schrie die alte Dame voll Zorn, reckte wutschnaubend ihr Kinn gen Himmel und spuckte weiße Speichelfäden in die schwüle Mittagshitze.
Der Rocker lenkte den Bulli um die Ecke und bog in voller Fahrt in einen düsteren Hinterhof ein, dessen im Rechteck hoch aufragende Gebäudefassaden das Tageslicht verschluckten. Der Rocker trat hart auf das Bremspedal, so daß er in seinem Sitz nach vorn geworfen wurde, als das Auto mit einem Ruck zum Stehen kam. In dem Moment, als sich seine Stirn für den Bruchteil eines Augenblicks bis auf wenige Millimeter der Windschutzscheibe annäherte, löste sich ein letzter Schwall halbverdauten Speisebreis in seinen Eingeweiden und wurde durch die Mundöffnung nach oben katapultiert, wo er saftig-gurgelnd gegen das Sicherheitsglas spritzte.
Der Rocker zog den Zündschlüssel ab, stieg aus, wankte nach hinten, öffnete die Heckklappe und holte seine Gitarre heraus. Dann torkelte er schweratmend, mit isolierbandverklebtem, blutverkrustetem Gesicht eine breite, behindertengerechte eiserne Rampe hoch und verschaffte sich durch eine stahlblaue Kunststofftür Einlaß in das Gebäude.
Drinnen saß eine Anzahl meist männlicher Individuen an Bildschirmarbeitsplätzen, während andere mit Mappen und Papieren in der Hand in den angrenzenden Flur hinauseilten, aus dem die grünen Lichtreflexe eines Kopiergerätes herüberblitzten, das ein kleiner kahlköpfiger Zwerg mit Blutschwamm bediente.
Am hinteren Ende des Raumes gluckerten, schäumten und zischten neben diversen ausladenden Fici Benjamini drei große Kaffemaschinen und ein Espressoautomat. Daneben waren die Wand entlang etliche lange Tische aufgestellt, die berstend mit ungeordneten, hohen Stapeln von CD-Jewelcases überhäuft waren. Dichter Zigarettenrauch waberte blauschimmernd durch den großen Raum, kräuselte sich in den Blättern der Gummibäume und anderen Zierpflanzen und beeinträchtigte zu zirka fünfunddreißig Prozent die Sicht auf das große Raucherverbotsschild mit dem knallroten Querbalken, das über den CD-Tischen auf die Wand getackert worden war.
Als der Rocker leicht gegen den vor ihm stehenden Computertisch bumste, blickte der junge Mann im kamelfarbenen Sweatshirt, der eben noch emsig in die Tastatur gehämmert hatte, belustigt hoch.
"Hey, Freddy", sagte der junge Mann, "schmeiß mir nicht den Bildschirm vom Tisch! Mittagspause zu Ende? Wo biste denn diesmal gewesen?"
Der Rocker schwankte leicht, hielt sich mit der Rechten am Tisch fest und glotzte blöd. Dann aber klärte sich sein Blick auf wunderbare Weise, und seine Augen wirkten wie frischpolierte blaugrüne Glasmurmeln.
"War auffa Wiese", sagte der Rocker. "Habbnneun Songgeschriem!"
"Echt, Mann? Sing mal den Chorus! - Cooles Outfit übrigens, mit dem Isolierband und der getrockneten Kotze auf der Jacke!"
"Dange, isabanochnichdroggn, nur das Bludisdroggn!"
Inzwischen waren alle Anwesenden aufmerksam geworden, sofern sie gesessen hatten aufgestanden und blickten den Rocker erwartungsvoll an.
Der Rocker legte los. Er zog die Akkorde gewaltsam zerrend aus den Saiten und sang:
"ALL MY CATTLE, BABYYYY, I SCHENK YOU! ALL MY CATTLE, BABYYYY, MOOOOOHS FOR YOU!"
"Hey, Mann, das klingt mir aber stark nach den Beatles", rief einer aus den Ästen einer Yucca-Palme ganz hinten. "All my lovin' und so. Außerdem weiß ich nicht, ob das deutsch-englisch-Gemisch in der Zeile "I schenk you" wirklich der Bringer ist. Aber gut geklampft, immerhin!"
"Ja, Mann, scharfer Gitarrensound", sagte der Mann vorn am PC-Tisch und schob dem Rocker eine CD-Hülle rüber.
"Aber jetzt hau' dich wieder in deinen Chefredakteurssessel und schreib 'nen ordentlichen Verriss über diese Artpoprock-Scheiße hier. Da hat sich wieder einer ausgelassen und mehr poshige Klänge aufgenommen als unser unbestechliches Kritikerhirn verarbeiten kann! Totale Sülze, ehrlich!"