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Der Riss
Das schrille Klingeln des Weckers zerriss die Spannung im Schlafzimmer, sofort brachte ihn eine knöcherne Hand mit einer wachen, präzisen Bewegung zum Schweigen. Stephen hatte es an diesem Morgen nicht nötig geweckt zu werden, er hatte sich schon vor einer guten Stunde aus dem ruhelosen Labyrinth des Halbschlafes befreit und starrte seitdem auf die digital angezeigte Uhrzeit des Weckers. Reglos daliegend hatte er beobachtet, wie Minute um Minute verstrich, nur darauf richteten sich seine Konzentration und sein sich allmählich schärfender Verstand.
Daran klammerte er sich fest und hatte es tatsächlich geschafft, die sauren Gedanken fernzuhalten.
Bis jetzt.
Die Erinnerung stieg unangenehm aus seiner Magengegend empor, schob sich in seinen Kopf, ein aufgeregtes Kribbeln pulsierte in den Rest seines Körpers. Denn heute war der Tag.
Mit einem leisen, aber gequälten Stöhnen setzte sich Stephen auf seiner Seite des überdimensionierten Doppelbetts auf und sah sich um. Sein Blick wanderte von der dezenten, leergeräumten Kommode zum Kalender an der gegenüberliegenden Wand und schließlich zum bodentiefen Fenster links neben ihm. Einige dutzend Stockwerke unter seinem Appartement sah man einen kleinen Ausschnitt der Straße, auf der sich schon dichter Verkehr durch die Schluchten des Großstadtdschungels wälzte.
Also eigentlich alles wie immer.
An einem Ort wie diesem hatte der Morgen nichts Friedliches an sich, so etwas wie Ruhe suchte man als einer von acht Millionen anderen Suchenden ohnehin vergeblich, gefangen zwischen dem nie verstummenden Hupen aufgebrachter Taxifahrer und den hektischen Telefonaten gestresster Geschäftsleute, die im Stechschritt zu ihren Büros eilten. Als Produkt und stiller Teil dieser Maschinerie wagte Stephen es jedoch nicht, all das bewusst zu reflektieren oder gar zu verurteilen. Das wäre bigott.
In solche Denkspiralen wagte er sich ohnehin frühestens nach Absolvierung seiner allmorgendlichen Routine hinein: Aufstehen, Duschen, Zähneputzen, Rasieren, Fingernägel schneiden, Hemd und Hose anziehen, Krawatte binden und schließlich die Bettdecke ordentlich zurechtlegen und zupfen, bis sie sich wieder in das stimmige Gesamtbild des stilvoll eingerichteten Schlafzimmers eingefügt hatte. Zu guter Letzt schnappte er seine Ledertasche, streifte sich das Sakko seines Anzuges über, vergaß nicht die Schlüssel mitzunehmen und trat aus der Tür hinaus. Lässig zog er sie hinter sich zu und ging schnellen Schrittes den Gang hinunter in Richtung des Aufzugs, die Zeit war knapp, er würde unterwegs einen Happen essen.
Auf dem Weg nach unten versuchte er, nicht an das Bevorstehende zu denken, stattdessen lauschte er seinem Herzschlag. Langsam, aber umso brachialer wurde das Blut durch seine Adern gepresst, dass ihm jeder Schlag in seinem Kopf dröhnte und nachhallte. Das war nicht die Art von hektischer, aufgedrehter Nervosität, die das Herz zum Rasen brachte und die Glieder zum Zittern, nicht die Art von Angst die einen rastlos umherlaufen ließ wie einen eingesperrten Tiger, auf der Suche nach einem Weg RAUS.
Es war viel mehr als das.
Die endgültige, niederschmetternde Sorte von Angst, die, bei der man weiß, dass es schon zu spät ist nach einem Ausweg zu suchen. Stattdessen schwebt das Fallbeil über dem eigenen Kopf und starr vor Angst bleibt nur noch übrig, still auf den Fall zu warten, der einen doch schließlich von der Angst erlösen würde. Was war nur mit ihm passiert, dass er sich so verrückt machen lassen konnte?
Stephen war nicht der Typ für derart naive Fragen, natürlich wusste er die auf der Hand liegende Antwort selbst am besten. Er hatte sich in die Ecke drängen lassen, er hatte die Vorschriften missachtet, einen kleinen Fehler gemacht.
Er hatte Scheiße gebaut.
Wenigstens hier, zu sich selbst, konnte er doch ehrlich sein, wenn schon nicht seinen Vorgesetzten gegenüber. Das Kleinreden hatte trotzdem nichts genutzt, noch am selben Abend störte ein zerfledderter Pappkarton mit zwei Blumentöpfen (die Blumen darin gehörten der Firma, also ließ er sie natürlich dort), einem Urlaubsfoto und drei Kaffeetassen das empfindliche Tandem aus Ordnung und Sauberkeit in seinem Appartement.
Sich selbst hatte er nichts vormachen können. Mit einer unerwarteten Wucht hatte ihn die Erkenntnis getroffen, dass seine bisher so makellose Karriere einen gewaltigen Riss bekommen hatte. Zerschmettert lag er jetzt dort, am Boden dieses Risses, hoch über ihm - am Rand - standen die anderen und verzerrten ihre Gesichter zu schrecklich lachenden Fratzen. Und überall in die Wände eingraviert das Wort VERSAGEN, immer wieder blitzte es auf, bis er nicht mehr hinsehen konnte.
Die ersten Tage waren hart für Stephen.
Er wurde verstoßen (hatte sich selbst verstoßen, was ihm unterbewusst eigentlich klar war).
Keine Morgenroutine mehr, keine Anzüge, keine Ordnung (in seinem Appartement wie auch in seinem Leben). Aber etwas in ihm hinderte ihn vehement daran, in all dem zu versinken. Er hatte sich noch nicht aufgegeben, er war nur nicht mehr er selbst gewesen. Also stand er wieder auf und suchte. Nach einem Ausweg.
Jetzt stand er im Aufzug. Auf dem Weg zu seiner zweiten Chance. Man hatte eine schmale Strickleiter in seinen Riss hinabgelassen,
(die er sich selbst geknüpft hatte?)
und ihn eingeladen, zurückzukommen. Zurück zu ihnen. Stephen hatte allen Grund stolz zu sein. Er hatte sich in das Loch stürzen lassen (selbst gestürzt), aber er war stark genug, wieder hinaus zu klettern. Er ließ sich nicht seinen Platz nehmen, seinen Rang und Status. Mit einem Ping signalisierte der Aufzug das Erreichen des Erdgeschosses, die Türen schoben sich beiseite, Stephen trat hinaus in die Lobby. Zielstrebig durchquerte er sie, grüßte mit einem bestimmten, ja würdevollen Nicken den Pförtner und schloss sich auf der Straße dem Strom aus Menschen an, die sich wie er durch die Fluten der Stadt navigierten, die Bürohochhäuser ihre Leuchttürme, die Uhren ihr Antreiber, das Geld ihr Motor. Wie ein altes Puzzleteil, lange verschwunden, letztendlich aber doch gefunden (weil es gefunden werden wollte), fügte sich Stephen mühelos in das Gesamtbild ein.
Eine halbe Stunde später spuckte ihn die Masse an seinem Ziel aus, 520 Madison Avenue, New York City. Wieder stieg er in einen Aufzug, der ihn diesmal nach oben brachte – 67. Etage, die Panorama-Plattform. Dort stieg er aus, atmete tief durch und lief seiner Chance entgegen. Ein Schritt nach dem anderen. Einatmen, Ausatmen. Die Krawatte richten, den Schweiß von der Stirn wischen. Schritt für Schritt.
Schritt für Schritt.
Schritt für…
Riss. Leere. Fall.
VERSAGEN.