- Beitritt
- 04.03.2018
- Beiträge
- 1.350
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Der Riss
Eigentlich war ich unterwegs zur Mülltonne hinter der Gartenmauer, als ich ihn sah. Möglicherweise hatte er sich den ganzen trüben Winter lang vor mir versteckt, doch der erste sonnige Frühlingstag brachte ihn ans Licht. Leicht gezackt fraß er sich durch die Giebelwand meines Hauses. Wie ein in Stein gebrannter Blitz mit feinen Verästelungen Richtung Boden. Staunend stand ich davor und versuchte zu verstehen, was ich sah. Erfolglos. Ich ahnte, ab jetzt würde ich ihn jedes Mal sehen, wenn ich durch den Garten ging. Es würde mir kaum gelingen, ihn zu ignorieren.
Ein regelmäßiges Tropfen in der Nähe ließ mich aufhorchen. Ich versuchte, das Geräusch zu orten und schaute an mir herunter. Aus der undichten Tüte nässte es auf meine Schuhe. Meine guten Budapester. Ausgerechnet. Gerade erst hatte ich sie poliert.
"Verdammt!" Ich verzog das Gesicht. Es war mal wieder einer dieser verdammten Montage, an denen alles zusammenkommt. Fluchend warf ich den Müll in die Tonne und wischte mir mit einem Tempo die Schuhe ab. Eine Verwünschung später ging ich zurück zur Wand. Keine Einbildung, der Riss war noch da. Und ich hatte die unheilvolle Ahnung, dass er bleiben würde.
Meine Frau stand hinter dem Wohnzimmerfenster und beobachtete mich stirnrunzelnd.
"Ist was?" Sie hatte die Tür einen Spalt geöffnet und hielt nur die Nase in die kalte Morgenluft.
"Nee, alles ok." Was sollte ich auch sagen? Ich wusste ja selbst nicht mehr. Schnell sagte ich Bis heute Abend und schlich, ohne eine Antwort abzuwarten, durchs Gartentor. Irritiert stieg ich in mein Auto und fuhr zur Arbeit.
Als ich ankam, konnte ich mich schon nicht mehr an den zurückgelegten Weg erinnern, so sehr beschäftigte mich meine Entdeckung. Dank erlernter Routine erledigte ich meinen Job, doch immer wieder schweiften meine Gedanken ab, zurück zur Hauswand.
Fragen drängten sich auf. Bohrende, hässliche Fragen. War der Riss das unheilvolle Fanal einer nahenden Katastrophe? Wie Nager, die aus ihren Höhlen fliehen, Meer, das sich zurückzieht oder ein greller Lichtschweif am Horizont? Bilder von eingestürzten Häusern in Folge von Erdbeben kamen mir in den Sinn. Ging meine Phantasie mit mir durch und machte ich aus einem Fliegenschiss ein Verhängnis? Möglich, doch die vage Möglichkeit, dass es etwas Ernstes sein könnte, nagte ab jetzt an mir.
Um den Riss zu dokumentieren, schoss ich nach der Arbeit eine Fotoserie. Ich gab mir Mühe, es möglichst unauffällig zu tun, bevor ich das Haus betrat.
"Wie war dein Tag?" Eigentlich eine unverfängliche Frage, doch ich war auf der Hut. Sie tunkte den Keks in den Tee, wie sie es immer tat um diese Uhrzeit.
"Ach, nichts Besonders, alles wie immer", log ich und setzte eine gelangweilte Miene auf. Meine Frau hasste es, wenn ich sie mit Problemen behelligte. Ein Großteil der Statik meines geruhsamen Lebens beruhte auf der größtmöglichen Negierung von Konflikten. Bislang war ich damit ganz gut gefahren.
Es folgte die erste Nacht, in der ich nicht mehr durchschlief. Ich träumte von einer Strafkolonie, in der aneinander gekettete Sträflinge auf Steine eindroschen, bis die Erde bebte. Wieder und wieder. Im Rhythmus ihres Gesangs und meines Herzschlages. Sie trugen gestreifte Anzüge, die dunkel gefleckt waren, wo der Schweiß Brust und Rücken hinabrann. Mit einem Mal verebbte der Gesang und hunderte Gesichter wandten sich mir zu. Schweigend. Stierend. Ein alter, krummer Greis bückte sich, hob einen Stein auf und warf ihn in meine Richtung. Als hätten sie jemanden gebraucht, der ihnen zeigte, was zu tun ist, folgten die anderen seinem Beispiel. Nach wenigen harten Treffern erwachte ich wild um mich schlagend. Mein Herz raste und die Stellen, wo ich getroffen worden war, pochten schmerzhaft.
"Sag mal, geht´s noch?" Elisa schaute entgeistert von der anderen Betthälfte zu mir herüber. "Du hast mich geschlagen." Die Bettdecke hielt sie fest an sich geklammert und rutschte Richtung Bettkante. Ich ahnte, dass ihr Entsetzen zu großen Teilen nicht gespielt war.
"`Tschuldigung, hab schlecht geträumt", war alles, was ich herausbrachte. Was konnte ich auch sagen, ohne unsere stillschweigende Vereinbarung zu brechen?
Sie schwieg. Mich ließ das Gefühl nicht los, dass sie erleichtert sein würde, wenn ich in wenigen Stunden das Haus verließ.
Am Nachmittag war der Riss unverändert, wie ich nach der Arbeit feststellte, als ich wie zufällig durch den Garten zur Hintertür schlenderte. Er tat mir nicht den Gefallen, von selbst zu verschwinden. Eigentlich hätte mich das auch gewundert. Denn warum sollte es mit ihm anders sein als mit den meisten anderen Problemen, die hartnäckig überdauern, solange man sich ihrer nicht annimmt?
Zu meiner Beruhigung redete ich mir ein, dass er wenigstens nicht größer geworden war. Das hoffte ich zumindest, doch wie konnte ich sicher sein, ohne verlässliche Daten? Also begann ich damit, den Riss penibel zu vermessen und die Ergebnisse zu dokumentieren.
An diesem Tag, nennen wir ihn Tag zwei, war er 0,9 mm breit. Gemessen mit einem digitalen Messschieber, unter Zuhilfenahme eines Vergrößerungsglases, um die Ränder exakt zu erfassen. Ich versuchte zu verfolgen, wie weit der Riss sich ins Mauerwerk fraß, doch in etwa drei Meter Höhe verschwand er unter der Verkleidung, die unseren Giebel verschönerte.
So sahen es zumindest die Vorbesitzer, die diese sündhaft teure Schieferorgie bezahlt hatten. Jedenfalls war der verplättete Giebel nicht hässlich genug, um ihn einfach abzureißen und den Riss Richtung Dachstuhl zu verfolgen. Weiter unternahm ich nichts, doch der Zweifel keimte in mir und gedieh so prächtig wie mein zunehmend frühlingshafter Garten.
In der Nacht besuchte ich wieder die Strafkolonie. Diesmal zertrümmerten sie keine Steine, sondern schlugen Spitzhacken in den Boden. Und ich war dabei. In der Luft über meinem Kopf knallte eine Peitsche. Meine Nachbarn stießen mir ihre Stiele unwirsch in die Seite.
"Los, weiter!", zischte mein Hintermann. Als ich nach vorne gehen wollte, schlug ich der Länge nach hin. Ungläubig starrte ich auf meine Füße. Sie steckten in feisten Eisenringen, mit einer dicken Kette verbunden mit Vorder- und Hintermann. Wieder schnalzte die Peitsche knapp über meinem Ohr. Mühsam rappelte ich mich hoch und griff meine Spitzhacke. Ich grub mich in den Boden, als ginge es um mein Leben.
Noch vor dem eingestellten Alarm wurde ich wach und knipste den Wecker aus. Mein Pyjama war an Brust und Rücken durchgeschwitzt und es klingelte in meinem linken Ohr. Doch das war noch nicht alles. Als ich die Beine hinabschaute, sah ich rote Striemen auf meinen blutig gescheuerten Fesseln. Mein einziger Trost war, dass ich wenigstens Elisa nicht geschlagen hatte.
Noch bevor sie wach wurde, stahl ich mich aus dem Haus. Tag drei der Aufzeichnungen begann mit Regen und schlechter Laune. Meine Knöchel schmerzten höllisch und lenkten mich ab. Die Arbeit war ungenießbar wie ein zäher Braten und genauso kaute ich auf den Anträgen herum, die ich zu bearbeiten hatte. Aufgrund meiner Laune wurden die meisten abgelehnt. Berechtigt oder nicht. Quälend langsam verstrichen die Minuten, bis ich um Punkt vier meine Tasche packte und zum Auto hastete.
Zuhause angekommen, pfefferte ich missmutig die Tasche in die Ecke. Elisa war zum Glück nicht da. Einkaufen vermutlich. Ich riss Messschieber und Lupe aus der Schublade und nur Sekunden später stand ich im Garten vor der Hauswand. Mit zittrigen Fingern maß ich glatte 1,0 mm. Was in drei Teufels Namen …
Ich maß noch einmal mit demselben Ergebnis. Lag es an mir, oder besser gesagt an meiner Messmethode? War das durch Maßtoleranz zu erklären oder hatte der Riss sich wahrhaftig verbreitert?
In der folgenden Nacht erstreckten sich die Chain Gangs bis zum Horizont. Im Rhythmus ihres Gesangs schlugen die Spitzhacken in die Erde und brachen trockene Schollen auf. Ich selbst stand etwas erhöht auf einem seitlichen Wall und hatte ein Gewehr im Arm. Der kalte Stahl fühlte sich gut an. Meine Hände schauten aus einer beigefarbenen Uniform. Ein anderer Uniformierter schob einen halben Steinwurf entfernt Wache. Er hielt eine Winchester locker im Armwinkel. Unter seinem breitkrempigen Hut paffte er einen kümmerlichen Zigarettenstummel. An seinem Gürtel hing eine aufgerollte Peitsche.
Meine Hand fuhr nach unten. Ich löste die Peitsche von meinem Gürtel. Eine gute und lange Peitsche aus eng geflochtenem Leder. Nichts hielt mich davon ab, sie auszuprobieren. Wieder und wieder ließ ich sie schnalzen, bis ich den Bogen raushatte. Es machte wirklich Spaß, kurz über die Köpfe zu zielen. Die Spitzhacken prügelten wie wild auf den Boden ein. Aus dem entstehenden Riss brach eine zähflüssige, schwarze Masse hervor.
"Bastard", zischte einer der Sträflinge zwischen zusammengebissenen Zähnen, ohne hochzuschauen. Die Knöchel, die seine Spitzhacke hielten, waren weiß vor Anstrengung. Zur Strafe ließ ich die Peitsche noch ein paar Zentimeter tiefer knallen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören.
Elisa rüttelte mich wach. "He, Schlafmütze, raus aus den Federn." Ich hatte den Wecker nicht gehört. Das war mir seit Jahren nicht passiert. Doch das war nicht der Grund für das Grauen, das mich packte, je klarer ich wurde. Insgeheim wuchs in mir die Angst vor dem, was in mir schlummerte.
Meine Frau nutzte meine Verwirrung zu einem geübten Blick aus der Kategorie "Muss ich auf dich aufpassen?" Ich sah zu, dass ich schnell aus dem Haus kam.
Doch bevor ich gerädert zur Arbeit fuhr, maß ich den Riss. Auch an Tag vier 1,0 mm. Elisa wunderte sich, warum ich neuerdings durch den Garten das Haus verließ. Ich spürte ihren stechenden Blick im Rücken, als ich am Fenster vorbeiging. Aus dem Augenwinkel sah ich ihr Kopfschütteln. Messschieber und Lupe legte ich in die Mittelkonsole. Griffbereit.
Den ganzen Tag war ich abgelenkt, konnte an kaum etwas anderes denken als daran, ob es am Nachmittag wieder ein Zehntel mehr sein würde.
In der Mittagspause klingelte ich den Statiker an, der die Umbauten vor einigen Jahren berechnet hatte und nötigte ihn, vorbeizukommen. Trotz allen Drängelns hatte er erst am nächsten Tag Zeit. Bis dahin musste ich meine Ungeduld irgendwie im Zaum halten, ohne durchzudrehen.
Meine Arbeitsleistung litt natürlich. Wie konnte es auch anders sein? Schlafmangel und Sorgen reduzierten die Zahl der bearbeiteten Anträge auf Anfängerniveau. Schmale Prämie diesen Monat.
Die Nachmittagsmessung ergab 1,1 mm. Schockiert starrte ich auf die Anzeige. Ein Zehntel pro Tag, das machte hochgerechnet sieben Zehntel die Woche, oder circa 3 mm im Monat. In einem Jahr wären das 36 mm. Groß genug, um die flache Hand hineinzustecken, dachte ich. Meine Knie wurden weich. Vor meinem geistigen Auge fielen die Wände in einer gigantischen Staubwolke zusammen. Der Dachstuhl rutschte wie zerbrochener Schlitten über den Rasen. Und das Beste war, dass ich diese Ruine noch achtzehn Jahre abbezahlen sollte!
Ich musste Elisa behelligen. Es war unvermeidlich geworden. Wortlos stand sie vor der Hauswand. Nie werde ich diesen Blick vergessen, mit dem sie mich vorwurfsvoll musterte, als hätte ich den Riss verbockt und mich umgehend anschrie: „Sieh zu, dass das verschwindet.“ Erwartungsgemäß.
Ha, nichts leichter als das. Morgen kommt der Hauswandexperte, hält ein Tuch davor, sagt ein Statiker-Abrakadabra auf und schon ist der Riss verschwunden. Kinderspiel, wollte ich sagen, dachte es aber bloß. In Wahrheit hätte ich für eine derart simple Lösung einiges geopfert. Vor allem, wenn damit diese schrecklichen Träume beendet wären.
Tatsächlich gab der Statiker an Tag fünf erstmal Entwarnung und faselte etwas von Setzrissen nach Umbau und gestörtem Eigenleben eines alten Hauses. Er zog an seiner aromaverseuchten E-Zigarette und stieß eine amtliche Nebelwand aus, die vor ihm in der Luft stand. Mit belegter Stimme riet er mir dann allen Ernstes, ein Stück vom Riss zuzuspachteln und weiter zu beobachten, was sich tat. Der Statiker fuhr, das Unbehagen blieb. Ich glaubte ihm nicht und maß 1,2 mm. Abwechselnd heiß und kalt lief es mir den Rücken hinab. Dennoch folgte ich seinem Rat und schmierte etwas Spachtelmasse quer darüber.
Unsinnige Kosmetik, wie ich bald feststellen musste. Bis Ende der Woche vergrößerte sich der Riss auf satte 1,7 mm. Laut telefonischer Ansage vom Statiker immer noch kein Anlass zur Sorge. Der hatte gut reden! Krampfhaft versuchte ich, ihm zu glauben. Zwecklos.
In der Nacht auf Sonntag nahm ich wieder meinen Platz in der Reihe ein. Wir hatten die Spitzhacken geschultert und marschierten durch eine Straßenschlucht zwischen Hochhäusern. Ein schriller Pfiff ertönte und die Kolonne stoppte. Sofort begannen wir, auf den Boden einzudreschen, schlugen uns durch den Asphalt, hebelten die darunter liegenden Wackersteine frei, gruben uns tiefer und tiefer. Buddelten so lange, bis der Riss sich zu einem lebendigen, wabernden Schlund weitete, aus dem gierige Mäuler nach uns schnappten. Knirschend und klappernd wie ein Gebiss schlugen spitze Haifischzähne ineinander. Entsetzt schrie ich auf, als mich eines der Mäuler erwischte und mir mit einem entsetzlichen Schnapp ein Bein samt halber Hüfte und Gemächt abtrennte. Armrudernd stürzte ich vornüber in die gallertartige Schwärze.
Schweißgebadet und zitternd wie Espenlaub wachte ich auf und wünschte mir, ich hätte nicht geschlafen. Auf dem Weg ins Bad knickte ich mehrfach ein, weil mein rechter Unterschenkel völlig taub war. Noch vor dem Duschen spuckte ich eine schwarze Masse ins Becken. Was soll ich sagen, es ging bergab.
Der Schlafmangel ließ dunkle Ränder unter meinen Augen entstehen. Manches Mal vergaß ich, mich morgens zu kämmen und zog tagelang denselben Anzug an – ein Frevel in meiner Branche. Bald wurde ich gemieden wie ein Paria.
Wenn eine Tür aufging, fuhr ich schreckhaft zusammen und starrte den Eindringling aus geröteten Augen an. Muss ich erwähnen, dass irgendwann mein Vorgesetzter vor meinem Schreibtisch stand? Gemocht hatte ich ihn noch nie, aber der besorgte Blick, mit dem er mich bedachte, ließ mich würgen. Anscheinend war das ebenso unausweichlich wie die Vorschläge, die er mir unterbreitete: Check durch einen Neurologen, unbezahlter Urlaub, Wellnesskur, Kunsttherapie, etc..
Ich wusste natürlich, nichts von alledem würde mir helfen. Nicht ich war das Problem, sondern der Riss in der Hauswand, der mir den letzten Nerv raubte. An Tag siebzehn war er 2,5 mm breit. Ich war bereit, das Haus zu verkaufen. Wie sehnte ich mich nach meiner geregelten Langeweile.
Meine Frau ging zunehmend auf Distanz. Wenn unser Verhältnis zueinander vorher fragil gewesen war, wurde es jetzt kompliziert.
In einem klaren Moment gestand ich mir ein: Die Beunruhigung hatte sich zu einem Problem manifestiert, das ich angehen musste und zwar bald. Die Waage zeigte 59 Kilogramm.
Ich zog die Notbremse, verkaufte meine Anteile an einem Aktienfond und beauftragte einen Bauunternehmer, Marke „Kann alles, mach alles“. Der überzeugte mich davon, das Problem an der Wurzel zu packen. Hörte sich für den Moment gut an und er bekam den Zuschlag. Wenige Tage später kam er mit schwerem Gerät vorgefahren und begann, den Boden entlang der kompletten Giebelwand abzutragen. Erst auf Höhe der Grundplatte schien er genug zu haben. Da hatte er jedoch schon das Telefonkabel versehentlich durchtrennt, was dazu führte, dass das Verhältnis zu meiner Frau keineswegs einfacher wurde – doch darum musste ich mich später kümmern.
Der Alleskönner schalte die Wand ein, murmelte etwas von „Unterfangung“ und „stabilisieren“ und ließ einen Fahrmischer anrücken. Es folgten Ausschalung, Verfüllen der Baugrube, Freiklopfen des Risses im Mauerwerks, Verfugen und wieder Verputzen. Auch hier war er sehr gründlich und auch die Schieferverkleidung musste daran glauben.
All das gehörte zum Rundumsorglos-Paket, das ich gebucht hatte und ihm teuer entlohnen würde. Dennoch, Seelenheil ist unbezahlbar, dachte ich mir und was sind schon Aktien im Vergleich? Für den Moment hatte ich ein gutes Gefühl und auch einige relativ ruhige Nächte.
Selbst das Telefonkabel war repariert und das Verhältnis zu meiner Frau veränderte sich wieder von unterirdisch zu passabel. Die Ringe unter unseren Augen verschwanden langsam. Misstrauisch stellte ich meine Lauscher auf und schnupperte: Nichts.
Zu schön um wahr zu sein, dachte sich auch mein Unterbewusstsein und es war unvermeidlich, dass irgendwann die alten Zweifel wieder zaghaft an mir nagten. Aus allen Perspektiven und mit unterschiedlichem Lichteinfall beschaute ich die Stelle. Tag für Tag. Immer wieder vergeblich, der Riss blieb verschwunden – bis ich eines Morgens über den nun nicht mehr so schönen, weil nicht mehr ganz so ebenen Plattenweg entlang der Giebelwand stolperte und ihn entdeckte, den wiedergeborenen Riss.
Hatte ich es nicht gewusst? Erst spürte ich Genugtuung, dann packte mich die Wut. Heftig ins Telefon keifend stellte ich den Alleskönner zur Rede.
„Unmöglich“, sagte der und kam sofort vorbei. „Doch möglich“, gestand er kleinlaut ein, als er ihn vor Ort begutachtete. Meine Drohungen und Beschimpfungen ignorierend, zuckte er mit den Schultern, ließ mich stehen und murmelte noch im Weggehen: „Groß passieren kann da eigentlich nix.“ Na prima, welch ein Trost! Ein Hoch auf die Alleskönner dieser Welt. Cheerio!
Ich sollte lachen, so absurd war das alles und doch kämpfte ich mit Tränen der Verzweiflung, die sich ihren Weg bahnen wollten.
Was soll ich sagen, alles fing wieder von vorne an: das Nachmessen, die grausigen Albträume, die drückenden Sorgen, meine Arbeitsleistung fernab vom Soll …
Es war furchtbar und führte mich stehenden Fußes ins Verderben.
Meine Frau war inzwischen ins Gästezimmer umgezogen und verkündete jedes Mal, wenn ich sie sah, lautstark, dass sich etwas ändern müsse, schnell und grundlegend.
Was sich änderte, war, dass zum nahen Monatsende ein Brief der Personalabteilung im Kasten lag. Mein Vorgesetzter drückte sein Mitgefühl aus, indem er mich gehen ließ. Vielen Dank hierfür, dachte ich voller Bitterkeit. Ich hatte es satt. So satt wie man es nur haben kann.
In der folgenden Nacht stand ich auf dem mondbeschienenen Dach eines Wolkenkratzers. Eisige Windböen fegten über das Plateau. Seltsame Geräusche aus den Häuserschluchten wehten gedämpft über die kniehohe Dacheinfassung. Kein Hupen oder Fahrgeräusche endloser Autokolonnen, wie ich erwartet hätte, sondern ein merkwürdiges Knirschen und Klappern. Vorsichtig schlich ich zur Brüstung, kniete mich auf die Teerpappe davor und schaute mit klopfendem Herzen in den gähnenden Abgrund hinunter. Was ich sah, ließ mir das Blut gefrieren. Eine formlose schwarze Masse waberte durch die Straßen. Unzählige riesige Mäuler ragten daraus hervor. Sie holten kurz aus, stießen zu und fraßen sich in den Beton, rissen Brocken aus den Häusersockeln und zermalmten sie zwischen ihren Gebissen in kleine Stücke. Eine Art staubiges, scharfes Schmatzen war bis oben zu hören.
Viele der Hochhäuser glichen bereits überlangen, grauen Zähnen mit freigelegten Zahnhälsen. Während ich die Szenerie noch fassungslos beobachtete, machte sich ein anderes Gefühl in meinem Magen breit. Etwas Altbekanntes aus meiner Kindheit, eine Art leichte Seekrankheit wie beim Schaukeln.
Mit böser Vorahnung peilte ich eine Straßenflucht entlang und sah es. Die Hochhäuser schwankten. Manche mehr, manche weniger. Mein Wolkenkratzer begann ebenfalls leicht zu pendeln. Mit jeder Gegenbewegung schlug er ein kleines Stückchen weiter aus und das war die Ursache des flauen Gefühls in meinem Magen. Schon musste ich mich anstrengen, um nicht von den Beinen geholt zu werden. Schnell klammerte ich mich an eine rostige, aber stabile Antenne.
Der Rundumblick über die anderen Dächer bestätigte meinen Horror. Die ganze Stadt war jetzt in Bewegung wie die wild umherschweifenden Tentakel einer Seeanemone.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das erste laute Knacken ertönte und der erste angenagte Wolkenkratzer fiel. Auf seinem Weg zur Erdoberfläche nahm er seinen ebenfalls angefressenen Nachbarn mit, der wiederum das Momentum auf die nächsten übertrug. Die Kettenreaktion war angestoßen, das folgende Getöse unbeschreiblich. Wie langgezogene Dominosteine klappten reihenweise Wolkenkratzer um. Als mein Hochhaus an der Reihe war, hatte ich schon sämtliche Stoßgebete, die mir spontan einfielen, gen Himmel geschickt. Wirkungslos. Das letzte, was ich sah, war das Haus, auf das mein Wolkenkratzer fiel. Ein normales Haus mit Satteldach wie meins, mit einer nach Westen zeigenden Giebelwand wie meins, darin ein klaffender Riss in Blitzform, aus dem sich mir Massen flach ausgestreckter Hände entgegenreckten. Hände, die in gestreiften Ärmeln steckten. Sie nahmen mich in Empfang, rissen sie mir das Fleisch von den Rippen und zerquetschten ohne Mühe die mageren Reste, die von mir noch übrig waren.
Als ich schreiend aufwachte, spürte ich Sehnsucht, eine so zehrende Sehnsucht, dass es körperlich schmerzte. Und ich wusste, mit welchem Gerät ich sie stillen konnte.