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Der Ring
Der Ring 1
„Ich fahre schnell in die Stadt, noch ein paar Besorgungen machen.“ Die Tür knallt krachend ins Schloss. Der halbverdorrte Kranz aus Tannenzweigen schwingt hektisch von einer Seite zur anderen. Zwei kleine Weihnachtskugeln aus Glas rutschen samt Metallanhänger von einem der Zweige. Im Abstand einer Millisekunde zerspringen sie auf den hellen Terracottafliesen in tausend Stücke. Das ist die letzte Gelegenheit. Schnell huscht er nach oben ins Schlafzimmer. Julies Koffer liegen schon gepackt auf dem Bett. Sie sind noch offen. Ganz oben liegt Julies Unterwäsche. Vorsichtig hebt er ein tiefrotes Spitzenhöschen und einen BH hoch. Julie soll seine geheime „Schnüffelei“ nicht bemerken. Sie sind neu. Vermutlich hat Julie sie sich bei ihrer Shopping-Tour vergangene Woche gekauft, gleich gewaschen, aber noch nicht getragen. ‚Wahrscheinlich wird sie sie morgen Abend anziehen.‘ So wirklich jugendfrei sind seine Gedanken dabei nicht. Julie spart sich gerne Dinge für besondere Momente auf. Tief zieht er Luft durch seine Nase ein. Das Höschen fest ins Gesicht gepresst. ‚Hmmmm…schade…‘ Es riecht nach dem neuen Waschpulver aus der Werbung. Vielleicht etwas zu stark parfümiert - aber Julie liebt den Duft seit neustem. Vier Koffer liegen auf dem Bett. Daneben stehen zwei Taschen und im Bad ein großes Beauty-Case für Schminksachen, Haarspray, Cremes, Duschgels, elektrische Zahnbürste, Handtücher und was eine Frau sonst noch alles benötigt. ‚Das ist ja der halbe Hausstand. Nun, wenn es sie glücklich macht, soll sie das alles mitnehmen. Und ich weiß, dass es sie glücklich macht.‘ Als er das Höschen zurücklegt, stößt er mit dem kleinen Finger an einen harten Gegenstand. Zwischen den anderen Höschen steckt eine kleine Schachtel. Eine kleine, schwarze Holzschachtel. Fünf auf fünf Zentimeter. Der Lack ist auf Hochglanz poliert. Mit einer aufwendig drapierten Schleife auf der Oberseite, umschliesst ein dunkelrotes Band die Schatulle. ‚Wenn ich mir genau merke, wie es gebunden ist, kann ich hineinschauen, ohne, dass Julie etwas davon erfährt.‘ Viel Zeit bleibt nicht. Julie wird bald zurück sein.Vorsichtig löst er das Band. Zugegeben, er ist aufgeregt.
„Daddy, kannst Du mir kurz helfen? Ich bekomme meine Koffer nicht zu.“
‚Mist! Gerade jetzt!‘ „Aber gerne Sam, gib’ Daddy noch fünf Minuten.“
„OK, ich warte in meinem Zimmer.“
Seine Finger zittern.
„Daddy!“
‚Was ist denn jetzt noch?‘ „Ja, mein Schatz, was ist? Ich habe gerade zu tun!“
„Beeilst Du Dich?“
„Aber natürlich!“
Mit einem Ruck öffnet sich das Band und gleitet durch seine Finger. ‚Wow, Seide, wie schön.‘ Nun meldet sich sein Gewissen. Das schlechte Gewissen. ‚Soll ich wirklich hineinschauen?! Hmmm, eigentlich macht man das nicht…Egal, sie wird es ja nicht merken.‘ Die Schachtel lässt sich jedoch nicht öffnen. ‚Verdammt!‘ Die Hochglanzholzschatulle ist an einer Seite mit einem silberfarbenen Klebestreifen verschlossen. Vorsichtig kratzt er mit dem Fingernagel daran. Ganz vorsichtig, ohne die Folie zu beschädigen. Der schrille Ton der Haustürklingel lässt ihn zusammenzucken. ‚Diesen elenden Mistton wollte ich auch schon lange mal ändern.‘ „Sam, gehst Du bitte zur Tür?!“ Sam rennt die Treppe hinunter und öffnet die Tür. „Daddy, es ist Mrs. Wooly. Sie fragt, ob wir ihr ein Pfund Mehl leihen können.“ „In der Küche steht welches.“ Endlich kann er eine kleine Ecke des Klebestreifens ablösen. Mit seinen dicken Fingern kann er sie jedoch nicht richtig fassen. „Daddy!!! Ich kann es nicht finden.“ ‚Verdammt nochmal!! Kann ich denn nicht einmal in Ruhe etwas machen!!!‘ Er atmet tief ein und aus. „Sam, mein Schatz, das Mehl steht im Vorratsraum, links im Regal.“ Endlich bekommt er die kleine Ecke zu greifen. Langsam zieht er den Streifen ab. „Wir haben es gefunden, Mr. Jones. Richten Sie Julie schöne Grüße aus und ich bringe ihr nächste Woche eine neue Packung vorbei.“
„Mach’ ich Mrs. Wooly. Frohes neues Jahr - fangen Sie es gut an.“
Die Ungeduld breitet sich schneller aus, als erwartet.
„Aber Daddy, nächste Woche sind wir nicht mehr da.“
„Oh, Mr. Jones, fahren Sie in die Ferien?“
‚Ohhhhh, wie ich ihre schrille Stimme hasse!!!!‘ „Ja, Mrs. Wooly. Deshalb bin ich etwas unter Zeitdruck und kann leider nicht runterkommen.“ Behutsam klebt er den silbernen Streifen an die Kante von Julies Nachttisch.
„Aber Daddy, Du gehst doch gar nicht…“
„Sam, Du musst Deine Koffer noch fertig packen und hast keine Zeit zum Plaudern. Nichts für ungut, Mrs. Wooly.“
„Kein Problem, Mr. Jones. Gute Zeit und alles Gute im neuen Jahr.“
Als die Haustür krachend ins Schloss knallt, verabschiedet sich eine weitere Glaskugel und fällt zu Boden. Ihre Scherben gesellen sich zu denen der beiden anderen. Der Deckel der Holzschachtel ist über den unteren Teil gestülpt.
‚Verdammt! Ist das Teil etwa zusammengeklebt? Warum bekomme ich das blöde Ding nicht auf?‘
„Daddy?! Die fünf Minuten sind jetzt um.“
„Gleich Sam, spiel’ doch noch was.“
„Aber meine Spielsachen sind schon im Koffer.“
„Dann male etwas oder schaue fern.“
„OK!“
Er dreht und wendet die Schachtel. Die Nervosität hat die Ungeduld verdrängt. Julie wird gleich zurück sein.
„Daddy!! Ich habe Dich wirklich sehr, sehr lieb.“
Er hält inne - ‚Was mache ich denn hier eigentlich gerade? Sam ist ein kleiner Junge. Wir sollten die Zeit miteinander nutzen. Es ist nicht in Ordnung, dass ich Sam so behandle - nur wegen einer kleinen Holzschachtel.‘
„Sam, ich Dich auch. Ich beeile mich - versprochen.“
Schnell läuft er ins Badezimmer, um seine Hände zu waschen. Immer wenn er nervös wird, bekommt er feuchte Hände. Auf keinen Fall will er Abdrücke auf der Schachtel hinterlassen. Ein Blick auf die Armbanduhr sagt ihm, dass Julie gleich zurück sein wird. Die Finger seiner linken Hand halten den unteren Teil der Schachtel fest. Mit dem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand rüttelt er behutsam den Deckel hin und her. Endlich löst er sich. Er legt den Deckel auf Julies neue Höschen. Der Inhalt der Schachtel ist mit einem dünnen Seidenstoff verdeckt. Ein kleiner, goldener Knopf hält die beiden Stoffstücke in der Mitte zusammen. ‚Was für eine Fizzelei!‘ Er klemmt die Schachtel zwischen seine Oberschenkel. Mit den Fingerspitzen versucht er den Knopf durch das enge Knopfloch zu schieben. ‚Endlich!!‘ Er klappt die beiden Seiten des schwarzen Seidenstoffs auseinander. Was er nun sieht, verschlägt ihm die Sprache. Sein Atem stockt. Das Herz klopft ihm bis zum Hals. Tränen laufen ihm die Wangen hinunter. ‚So etwas schönes hat Julie noch nie für mich gekauft. Ob er wohl passt?‘ Ehrfürchtig nimmt der den silberfarbenen Ring aus seinem weichen Samtbett. ‚Platin! Der kostet ein kleines Vermögen!‘ Um es genau zu sagen, hat der Ring rund 1.000 Dollar gekostet. Doch diesen Preis wird er natürlich niemals erfahren. Sicherlich auch nicht erfahren wollen. Er legt ihn auf seine Handfläche und betrachtet ihn von allen Seiten. Nicht zu filigran, etwas wuchtig, aber das richtige Maß für eine starke Männerhand. Julie steht auf große Kerle, die sie beschützen. In der Mitte des Rings ist eine Vertiefung geschliffen. Sie ist geschwärzt. Beim Hin- und Herbewegen schimmern die schwarzen Farbpigmente silbern. An der Vorderseite ist das schwarze Band durch eine Raute erweitert. Darin funkelt ein kleiner Brillant. ‚Soll ich ihn anprobieren?‘ Seinen Ehering hat er 2004 beim Tauchen verloren. Seitdem hat er keinen Ring mehr getragen. ‚Was soll’s?!‘ Vorsichtig greift er ihn mit zwei Fingern. Die Seite mit dem Brillanten dreht er natürlich nach oben - so viel Zeit muss sein. Als er ihn an seinen Ringfinger stecken will, hält er inne. Eine verschnörkelte Gravur auf der Innenseite sticht ihm ins Auge. „Michael - 01.01.18 - Forever in Love.“ Wieder wischt er sich die Tränen von seiner Wange. Das neue Jahr soll Gutes bringen. Krisen und Sorgen hinter sich lassen. Nach vorne schauen. Mit etwas Mühe steckt er sich den Ring an seinen Finger. Ein bisschen eng - aber er passt. Im Deckel der Schachtel klemmt ein kleiner Zettel. Er ist zusammengefaltet. Zitternd holt er ihn heraus und öffnet ihn. „Eine Krise, die auf einem Gipfel endet, lässt uns in die Weite einer wundervollen Zukunft blicken. Für meinen Michael, den ich für immer lieben werde, Deine Julie!“ Als er die Zeilen liest, kann er sein Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Seine Gefühle fahren Achterbahn.
„Daddy, Mom’ fährt gerade die Einfahrt hoch. Ich frage sie, ob ich ihr beim Tragen helfen kann.“
„Danke Sam, das ist eine tolle Idee.“
‚Du bist ein guter Junge!‘
Hektisch versucht er den Ring vom Finger zu ziehen - doch er lässt sich nicht bewegen. Mit der Zunge feuchtet er ihn rundherum an und zieht erneut daran. Endlich!!! Nach schier endlosen Sekunden rutscht er vom Finger. Hastig, aber mit Bedacht, packt er ihn in das Samtbett zurück, schließt zuerst den Seidenstoff mit dem goldenen Knopf und dann die Schachtel. Behutsam schnürt er das Band um die Schatulle. Das kleine, silberne Etikett lässt er in der ganzen Anspannung an Julies Nachttisch kleben. Er hört, wie Julie den Schlüssel in die Haustür steckt. Schnell legt er die Schachtel zurück in den Koffer und deckt sie mit Julies neuen, frisch duftenden Höschen zu. Er läuft zum Fenster und schaut auf die Straße. „Peter, ich bin zurück!“ Es vergehen Sekunden der Stille. Peter antwortet nicht. „Peter!!! Peter, wo bist Du? Hilfst Du uns mit den Kisten? Der Umzugswagen kommt gleich.“ In diesem Moment fährt der Umzugswagen in die Einfahrt. Ein großer, gut aussehender Kerl steigt aus. Das weiße T-Shirt liegt eng an seinem muskulösen Körper an. ‚Michael, Du elender Mistkerl. Du nimmst mir das Liebste, das ich habe. Der Ring wird Dir hervorragend passen.‘ Sein Blick klebt an Michael. Lässig lehnt er an dem kleinen Lieferwagen und zündet sich eine Zigarette an. Eigentlich hasst Julie Raucher. Als er mit Julie zusammen kam, hat er extra für sie aufgehört. Extra…, wie so viele Extras, die er für sie gemacht hat. Sie gehören ab morgen der Vergangenheit an. Beiseite gelegt. Wut kocht in ihm hoch. Sie pulsiert bis in die Fingerspitzen. Krachend knallt die Tür ins Schloss. Die letzte kleine Glaskugel zerspringt auf dem Boden.
To be continued…