Der Ring
Der Ring
Als sie sich das erstemal begegneten hielten seine ironischen Augen dem Spott ihres Mundes stand.
Es war die pochende Energie dieser Stadt, die aus seinem Blick strömte und die sich treffsicher an ihre nackten Schulterblätter saugte, ohne Vorwarnung Besitz ergriff von ihrer zur Schau gestellten Unnahbarkeit, um sie als Hängebrücke zu den Festungen ihres Körpers zu benützen, und dahinter klangvoll die Polyphonie dieses Ortes zum Ausdruck zu bringen.
Es war ihr letzter Abend in seiner Stadt, und sie konnte sich ohne viel Nachdenkens seinen Ermutigungen hingeben.
Schnelle Verabschiedungen waren Bestandteils ihres Lebens, und so war sie überrascht, als er am nächsten Tag darauf bestand, sie zum Flughafen zu begleiten um bis zum letzten Augenblick ihre Hand nicht loszulassen. Überrascht, dass sie es zuließ.
Obwohl es sie schauerte bei dem Gedanken an schwitzende Warteschlangen, neonbeleuchtete Ankunftshallen und die mit tausenden anderen Hoffnungsträgern geteilte stickige Luft, zog es sie immer wieder an Flughäfen, wo sie, meist den Neuanfang vor Augen, und in Gedanken schon ferne von versäumten Möglichkeiten, das Gefühl erlangte, Kontrolle über ihre Wege zu haben und die Richtung zu bestimmen. In der selben Schnelligkeit wie der Anflug auf neue Destinationen erfolgte, fand sie sich aber auch oft nach der Landung in der Verstrickung eines neuen Lebens wieder, das zum Abklatsch der früheren wurde. Alles was sie dann in ihrem Gepäck wiederfand, waren die alten Verzweiflungen an der Beiläufigkeit eines Lebens, die Unmöglichkeit das Richtige zu tun.
Der zunehmende Druck an ihrer Schläfe und die Unruhe ihrer Sitznachbarin riss sie aus ihren Gedanken um den Anfang dieser Geschichte, auf deren Höhepunkt sie jetzt zuflog. Sie bemerkte erst, dass sie die Augen geöffnet hatte, als ein Lichtermeer von tanzenden Sterne ihr näher kam. Der Anflug auf die Stadt, auf ihr neues Leben, hatte begonnen. Sie bewegte in vorsichtig kreisenden Bewegungen ihren Kopf, und versuchte so die Starrheit ihrer Gedanken in neue Schwingungen zu bringen.
Spontane Entscheidungen, manche nannten es Fluchten, verführten sie zu dem Glauben an eine Wiedergeburt durch andere Farben, Landschaften, Menschen.
In neuen Kostümen und austauschbarer Maske tanzte sie den Reigen stets aufs Neue, bis sie erkennen musste, das auch an anderen Orten die Musik nur von einem abgeleierten Band wiedergegeben wurde, und die Schritte die gleichen waren. Der eitle Tanz mit den ebenso resignierten wie trägen Teilhabern dieses blutleeren Spieles, drehte sie immer weiter weg von der Bühne ihrer Sehnsüchte.
Die Ferne, die ein Näherkommen immer wieder erschuf, erlaubte ihr erstmals eine Sehnsucht, und das Fallenlassen in die Elastizität einer Beziehung, die sie immer wieder in seine Richtung katapultierte, höher schwingen ließ. Den Abschied immer vor Augen konnte sie seine Nähe ohne weiteres ertragen, ohne sich gefesselt zu fühlen, und eingewickelt in eine neue Vertrautheit begann sie sich zögernd in seinem Spiegelbild zu erkennen.
Irgendwann begannen dann die Zukunftsideen, die gemeinsamen Träume, die Definition eines Wir, auch das ließ sie gerne zu.
Er hatte einst die Regeln durchschaut, durchbrochen und neuerfunden, und war nahe daran, im Kampf um einen Raum, der keine Schattenspiele erlaubt, sein maskenloses Gesicht nicht mehr zu finden. Das war ihr Schnittpunkt.
Geduldig stand sie in der endlos langen Warteschlange, die durch die verstärkten Sicherheitsvorkehrungen nur langsam voranschritt. Minutiös wurde jedes Gepäcksstück begutachtet.
Sie beneidete die Sicherheitsbeamten, die ungeniert in den Intimitäten fremder Menschen wühlen konnten.
Die abgestandene Luft und die berieselnde Lautsprechermusik, die nur von Maßregelungen der Aufsicht unterbrochen wurden, lähmten die ihr eigentlich zustehende Ankunftseuphorie. Dabei wollte sie ganz klar erleben, wenn sie den Schritt in die neue Zweisamkeit setzen würde.
Die alte Frau, die vor ihr stand, und deren Gesichtszüge trotz aller Güte von verlorenen Söhnen und armutsgestärkter Durchsetzungskraft zeugten, begann ein Gespräch mit ihr. Sie sprach nur Spanisch, und sie wollte zu ihrer Tochter, um an ihrer Seite zu bleiben. Auch sie mit der Aussicht auf ein neues Leben. Als sie an der Reihe war, wurde sie trotz der Wärme in ihren Augen und ihrer offensichtlichen Hilflosigkeit beiseite geführt. Sie widerstand dem Drang, sich an ihre Seite zu stellen und das Wort zu ergreifen, schlug die Augen nieder, als ein flehender Blick der Alten sie traf.
Wie leicht war es doch für sie, ihr Leben auf den Kopf zu stellen, und neu zu beginnen, wenn die Aussichtslosigkeit ihr den Atem nahm. Seine Sicherheit und die Sehnsucht nach der Geborgenheit eines geteilten Lebens hatten ihr den Zeitpunkt vermittelt, an dem sie sich entschieden hatte, ihre früheren Leben abzubrechen. Sollten die Anderen weiterhin dem Goldenen Kalb opfern. Sie wollte ihre Existenz beweisen, ohne lächerliche Abhängigkeiten und Eitelkeiten, und endlich auf der Bühne bleiben, auch wenn das Publikum ausblieb. Mit ihm schien alles möglich zu sein.
Neben ihr stand ein schwarzgelockter hünenhafter Mann, dessen stolze Haltung keinen Zweifel hinterließ, dass er tat was zu tun war, keinen Zweifel, dass er es geschafft hatte und seine vielköpfige Familie gut versorgt war. Der Zollbeamte hieß ihn an, ein in braunes Backpapier gewickeltes Packet zu öffnen. Zum Vorschein kamen zwei weiße spitzenbesetzte Zierpolster, auf die in leuchtendem Rot ein Herz gehäkelt war.
Valentinstag lässt auf dieser Hemisphäre selbst die hartgesottensten Kerle in honigverschmierte Plüschbären verwandeln. Sie versuchte so gut es ging ihr Schmunzeln zu verbergen.
Als Passinhaberin einer privilegierten Nation traf sie nur das verständnisvolle Grinsen des Beamten, als auch sie ihm erklärte, dass die Liebe sie in diese Stadt führte. Er wünschte ihr viel Erfolg.
Erfolg. Wie definiert sich Erfolg in der Liebe ? In Roten Herzen auf Spitzenpolster, in der Anzahl der Nachkommen, oder in beurkundeten Zuneigungsbekenntnissen, deren Höhepunkt ein Ring darstellt. War es das, was er wollte? Das öffentliche Erreichen des Zieles, um endlich frei zu sein für neue Geschäfte.
Von Liebe war ja die Rede, von Sehnsucht und gemeinsamen Reisen, Stunden, Abenteuern. Aber auch Möbeln, Garten, Parties, Abendessen, Kindern. Würde sie nicht wieder gefangen sein in Konventionen, in einem von anderen gestalteten Leben. Ein Anfang, der das Ende bedeutete? Die Trennung dirigierte meisterlich ihre individuellen und vielfältigen Töne, und spornte sie an zu noch unbekannten Kompositionen ihrer Seins. Könnten auch sie von einem Besitzdrang ergriffen werden, der sie die Schaffenskraft ihre wellenartigen Begegnungen vergessen ließ?
Sie musste ihr von der Reise ermüdetes Gesicht wieder erfrischen, bevor sie in seine Arme wankte. Die Reinigungsfrauen im Waschraum witzelten gerade über die Gewichtszunahme ihrer jeweiligen Ehemänner, nicht ohne erkennbaren Stolz in ihrer Stimme. Auch auf sie werden morgen Spitzenpölsterchen warten.
Ein prüfender Blick im Spiegel bestätigte ihr die Mittdreissigerin, deren energische Augen und weiche Lippen im Widerspruch standen. Noch hatte sie das Kind in ihr nicht begraben, und erlaubte ihm den Wettkampf mit der reifen Frau. Er mochte ihre Wildheit, die manchmal die Sanftheit überfuhr, und er war im Taumel zwischen Beschützerdrang und der Lust ihr die Kleider vom Leibe zu reißen.
Auch sie mochte das Spiel zwischen Zuckerwatte und dem Zerren der Zügel. War sie nicht am lebendigsten aber, wenn sie alleine das Spiel bestimmte. Der Erfolg ihrer war. Wieder dieses illusionäre Zauberwort.
Sie wünschte ihrem Spiegelbild und den schnatternden Ehefrauen Glück und eilte weg von fremden Schicksalen und Hoffnungen. Die Skyline der Stadt winkte ihr entgegen, wie um sie abzulenken von widerspenstigen Gedanken und Zaudern. Sie versprach ihr ein abwechslungsreiches Leben in festgesetzten Zonen.
Das gewohnheitsbedingte Streifen über die Finger ihrer rechten Hand ließ sie erstarren. Ihr Ring, sie hatte ihren Ring verloren. Mit einem Aufschrei zwang sie den Taxifahrer zum Umkehren. Sie musste ihn in der Flughafentoilette vergessen haben. Wie konnte sie nur den Ring, der ihr so viel bedeutete, so achtlos liegen lassen. Seit Jahren, Tag für Tag, seit jenem rauen Herbsttag in Paris, bekräftigte er ihre wiedergewonnene Unabhängigkeit. Damals, noch gefangen in einer Ehe, der sie alles untergeordnet hatte, um ihr Selbst zu verdrängen, und in der sie versucht hatte, die nie gekannte Mutterrolle zu spielen, war der Kauf dieses sündhaft teuren Ringes ihr erster Schritt zu einem Egoismus, der sie wieder an sich denken ließ. Nie wieder sollte jemand, sollte sie sich, ihre Freiheit nehmen.
Während sie in das Flughafengebäude eilte, überlegte sie sich, wie viel sie den Schnatterfrauen bieten sollte, damit sie ihren Ring rausrückten. Als sie mit verzweifelter Miene, begleitet von erstaunten Blicken, in den Waschraum stürzte, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Da lag er, der silberne Ring mit dem blutroten Stein, und wartete auf sie.
Fast zeremoniell streifte sie ihn über, blickte triumphierend in die fragenden Gesichter der Reinigungsfrauen, und ging mit festen Schritten in Richtung Abflugshalle.