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Der Ring

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20.05.2003
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Der Ring

Etwas Merkwürdiges war mir begegnet, als ich einmal geschäftlich unterwegs war und am Flughafen viel zu früh eintraf. In der Wartehalle kam ich mit einem Fremden ins Gespräch. Er war ein Mann um die Fünfzig, eine grosse und stattliche Erscheinung, mit weissem Haar schon und einem tiefen, seelenvollen Blick. Sein Anzug, der ohne Zweifel von bester Qualität und massgeschneidert war, wirkte getragen und abgewetzt an den Ärmeln, und an seinem Mittelfinger war ein tiefer Einschnitt, wie wenn er jahrelang einen zu kleinen Ring getragen hätte. Trotz seiner Grösse und seiner aufrechten Haltung wirkte er gebeugt, wie wenn er eine unendliche Last auf seinen Schultern trüge, die abzuschütteln nicht möglich ist. Neugierig sprach ich ihn an auf die Narbe an seinem Finger, und er erzählte mir folgende Geschichte:

„Mein Leben wäre wohl ganz anders verlaufen, wenn ich den Ring nicht gefunden hätte. Ich hätte den Reichtum nicht gekannt, die Macht nicht, die Feste, die bacchantischen Fahrten in meiner Yacht, die Gunst von Staatsmännern und Künstlern, die Befriedigung, auf einen beliebigen Punkt der Erde zu schauen und zu sagen: du bist mein. Doch vielleicht wären mir auch die Verzweiflung und die Einsamkeit erspart geblieben, die ich nun erleide.

Ich fand den Ring, als ich, junger Taugenichts, der ich einmal war, im naturhistorischen Museum meiner Stadt den Keller ausrümpeln half. Es war ein riesiges, dunkles Gewölbe, und im Lauf der Jahrzehnte hatten sich Kisten, Kartons, präparierte Tiere, Bücher, Prospekte, Plakate, Rüstungen, und auch sonst allerhand Gerümpel in beträchtlicher Menge und ohne jedes System angesammelt. Vieles war mit einer dicken Schicht Staub überzogen und offensichtlich schon längst vergessen und in keinem Katalog mehr aufgeführt. Es war meine Aufgabe, ein Stück nach dem anderen bis an die Treppe zum Ausgang zu schaffen, wo ein Anderer sie in Empfang nahm und die Treppe hoch trug. Es war eine langwierige, öde Arbeit, und ich kann nicht einmal mehr sagen, warum ich diesen Ort nicht schon nach einem halben Tag verliess, wie ich es schon oft an weniger bedrückenden Orten getan hatte, sondern blieb und wochenlang einen Gegenstand nach dem anderen bis zur Tür trug, wieder zurückkehrte in das düstere Gewölbe, und nicht aufgab. Wahrscheinlich war ich fasziniert vom skurrilen Charakter des Ortes, von den Überraschungen, die sich jeden Tag boten, von den fremdartigen und alten Dingen, die eine besondere Atmosphäre verbreiteten.

Eines Tages, ich war gerade in der hintersten Ecke des Gewölbes, fiel ein kleiner Gegenstand durch den Spalt einer schlecht genagelten Kiste zu Boden, und ohne etwas zu überlegen, steckte ich ihn in meine Tasche und vergass ihn dort. Erst am Abend in meinem Zimmer, das ich gerade bewohnte – ich wusste nicht mehr, wie lange ich dort bleiben konnte, die Miete war seit sechs Monaten überfällig – nahm ich ihn hervor und studierte ihn mit Interesse. Es war ein silberner Ring mit einem grossen, seltsamen Stein, der im Licht der Lampe in allen Farben des Regenbogens leuchtete und seine vielfarbigen Reflexe an die Wände meines kümmerlichen Zimmers warf. Ich probierte ihn an, und er passte sich meinem Finger an, wie wenn er schon immer dort gesessen hätte. Ich war fasziniert und stellte mir vor, welcher Prinz diesen Ring mal besessen hatte, welcher Maharadja ihn schon trug, und wie er auf seinem Elefanten in herrlicher Rüstung gegen seine Feinde zog, während im Dämmer des Harems seine Suleika schmachtend auf ihn wartete. Und ich, seufzte ich, ich hocke hier in meinem Loch und verpasse das Leben... Wenn ich doch nur genug hätte, um mir wenigstens mein Zimmer bezahlen zu können, und nicht immer dem elenden Geld ausgeliefert wäre...

Ich öffnete mein Portemonnaie, um die letzten traurigen Reste meines Besitzes zu zählen, und fand zu meinem Erstaunen einige grosse Noten darin, die vorher bestimmt nicht da waren. Woher auch? Ich glaubte dem Wunder nicht, ich schloss die Augen, machte sie wieder auf, sie waren immer noch da. Unzweifelhaft hielt ich genau den Betrag in den Händen, den ich benötigte, meine Miete zu zahlen, und ich konnte nicht sagen, woher das Geld kam. Lag es vielleicht am Ring? Ich schloss das Portemonnaie wieder, und wünschte mir nochmals den gleichen Betrag. Ich schaute nach, und mein Vermögen hatte sich von einer Sekunde auf die andere verdoppelt. Ich geriet in eine unheimliche Erregung, in ein Fieber, ich wünschte mir mehr und mehr Geld, bis der ganze Boden davon übersät war, ich liess es auf mich herunter regnen, ich wünschte mir Geld in allen Währungen, in Goldstücken, ich wünschte mir Juwelen, neue Kleider, neue Möbel, und in dem Moment, als ich den Wunsch aussprach, war alles da und stand vor mir, schöner noch, als ich es mir vorstellen könnte, bereit zum Gebrauch.

Das war der Tag, der mein Leben veränderte, der Beginn meines unaufhaltsamen Aufstieges, und während zwanzig Jahren lebte ich in Saus und Braus. Ich zog ins Ausland, wo mich niemand kannte, ich stellte mich vor als der Graf von Saint-Augur, ich veranstaltete rauschende Feste, lud die bekanntesten Künstler, die mächtigsten Krösusse, die schönsten Frauen ein, ich baute mir Häuser an den sandigen Küsten der tropischen Meere, ich suchte die Abenteuer, das Risiko, die Gefahr, ich befriedigte jede Neugier, ich überschritt alle Grenzen. Meine besondere Neigung galt allen sexuellen Abenteuern, und ich kostete sie aus bis zum Schluss. Ich hatte bestimmt mehr als fünfhundert Frauen verführt und jede zu meiner Sklavin gemacht, sie unterlagen der Kraft des Ringes und waren mir bedingungslos zu Diensten, sie alle schworen, noch nie einen Mann so geliebt zu haben wie mich, auf den Wink meines kleinen Fingers tanzten sie vor mir und zogen sich aus, sie gingen vor mir auf die Knie und schenkten mir ihren Körper, sie leckten über ihre Lippen und spreizten ihre Beine in Ekstase, sie liessen sich von mir fesseln, schlagen, würgen, anpissen, vergewaltigen bis sie aus allen Löchern bluteten, und wenn ich sie frei liess, schworen sie mir ihre ewige Treue. Ich organisierte Feste mit Hunderten von Gästen in meinen Schlössern, und ich erregte deren Fantasie mit erotischen Tänzen und seltsamer Musik, bis sie ihre Nerven verloren und sich die Kleider vom Leib rissen und sich Männer, Frauen, Kinder, Tiere in einem nackten Knäuel vermischten, jeder mit jedem, und es unmöglich zu sagen war, wem die Hand gehörte, die mich gerade berührte, wem die Brust, an der ich gerade saugte, wer mir meinen Anus leckte, und in welchem Loch gerade mein Geschlecht sich befand und bald seine bittere, süsse Ladung explodieren würde. Ich holte mir junge Männer als Leibdiener, die mich täglich massierten in meinem nach römischem Geschmack eingerichteten Bad, mich rasierten und mit duftenden Ölen einrieben, und ihre Körper meinem Vergnügen zur Verfügung stellten. Ich liess sie vor mir tanzen, sich umarmen, sich küssen an allen Stellen des Körpers, sich in kunstvollen Stellungen vereinigen, während ein junges Mädchen unterwürfig mich bediente und für mein äusserstes Wohl besorgt war. Ich unternahm Reisen in alle Städte der Welt und besuchte Cabarets, Kneipen, Keller, Bordelle, Geishas, Kokotten, Partys, Konzerte, OpenAirs, und an jedem Ort entdeckte ich neues Vergnügen, neue Sensationen, eine neue Spielart der körperlichen Liebe.

Ich muss zugeben, dass sich nach einigen Jahren doch eine Art Langeweile, ein Überdruss einzustellen begann, den ich nicht zu bekämpfen wusste. Ich hatte schon alles gesehen, alles getan, und die Szenen, so schön und kostbar sie auch waren, wiederholten sich in endloser Reihenfolge, es gab nichts Neues mehr auf dieser Erde. Ich griff immer zu extremeren Mitteln, versuchte verschiedene pflanzliche und chemische Substanzen, ich wurde immer grausamer mit meinen Dienern, ich holte sie, weil sie neue Genüsse versprachen, und warf sie in immer schnellerer Folge angewidert weg. Meine Feste wurden grösser, strahlender, perverser, ruhmsüchtiger, und doch, wenn ich am nächsten Morgen allein erwachte, umgeben von meinen sanften, glutäugigen Dienerinnen, die mir jeden Wunsch von den Augen ablasen, wünschte ich mir doch nur, allein zu sein. Ich wurde immer trübsinniger, ich wurde launisch und despotisch, und ich sah keinen Weg, dem Übel zu entrinnen. Alles, was ich unternahm, führte mich nur noch tiefer in meine Trübsal.

Dies änderte sich, als folgendes geschah: An einem Morgen landete ein kleines Boot an meinem privaten Strand, und die einzige Insassin, eine junge Frau, wurde zu mir geführt. Sie trug ein weisses Kleid, das alt und zerrissen war, und ihre Magerkeit, ihre verfilzten Haare und die brennenden Augen zeugten von einer langen, verzweifelten Reise. Sie interessierte mich, also befahl ich, dass sie ein Zimmer in meinem Schloss und alle erdenkliche Pflege erhalte, bis sie wieder zu Kräften gekommen sei. In der Folge besuchte ich sie oft und wir unterhielten uns über Religion, Philosophie, Politik, Kunst, Musik, und vor allem, über die Liebe. Sie war ein kluge, geistreiche Gesprächspartnerin und bescherte mir so viele angenehme Stunden. Sie machte einige Andeutungen, dass sie von weit her komme, doch erzählte sie nie Näheres zu den Umständen, die sie an meinen Strand geworfen haben, und obwohl ich sie lange und geschickt auszufragen versuchte, erhielt ich nicht die geringste Auskunft.

Nach einiger Zeit kam sie auch wieder zu Kräften, und ich sah, dass sie aussergewöhnlich schön war, schlank, mit einer weissen Haut, aufrecht, elegant, und mit diesen braunen Augen, aus denen ein ganz besonderes Licht strahlte, wie mir schien. Ich versuchte sie zu verführen, sie zu zwingen, die Meine zu sein, ich war immer noch ein schöner und auch charismatischer Mann, ich hatte die Gewohnheit, dass die ganze Welt mir zu Füssen liegt, doch mit diesem Mädchen funktionierte es nicht. Sie lächelte, sie blieb nett und freundlich, auch charmant, sie flirtete gerne mit mir, doch sie verweigerte jede physische Annäherung. Meine Gedanken, meine Leidenschaft begannen sich, auf sie zu konzentrieren, ich dachte nur noch an sie, wie an eine unbezwingbare Festung, ich erdachte Tricks und Listen, ich machte ihr Geschenke, Edelsteine, Kleider, Bücher, ich schenkte ihr das, was ich noch nie jemandem gab, mein Vertrauen, ich erzählte ihr meine Geschichte, das Geheimnis des Ringes, alles. Sie wurde zu meiner Obsession, sie verwirrte mich, ihr Bild stand vor meinen Augen, wenn ich eine Blume betrachtete, wenn ich mit meinen Mädchen ins Bett ging, wenn ich an einem guten Wein roch, überall war sie, strahlend, unberührbar. Ich begann an den Kräften des Rings zu zweifeln, ich manifestierte einen Diamanten, gross wie ein Ei, den ich ihr schenkte, ich manifestierte Geld, ich testete alle Möglichkeiten des Ringes, sie waren immer noch vorhanden. Was war sie, dass sie dem widerstand, dem bisher noch niemand widerstanden hatte?

Eines Abends sassen wir zusammen im Garten, und wieder versuchte ich sie zu verführen, das Feuer hat noch nie so sehr in mir gebrannt wie an diesem Abend, ich war von Sinnen, ich roch ihren Duft, ich spürte ihre Nähe, ich sah ihr spöttisches Lächeln, mit dem sie mich erneut abwies, und ich geriet in eine unheimliche Wut. Ich packte sie an den Haaren, warf sie zu Boden, zerriss ihr Kleid, sie wehrte sich und schrie, doch das vermehrte meine Kräfte nur noch, ich hielt ihre beiden Arme mit einer Hand fest, mit der anderen Hand teilte ich ihre Beine, ich lag auf ihr, ich drang in sie ein und spürte ihr warmes Fleisch an meinem ganzen Körper, ich spürte ihre Wut, es gelang ihr, mich in meine Lippe zu beissen, doch ich war so erregt, dass mir der Schmerz lustvoll war, ich leckte mein Blut von meiner Lippe, es tropfte stark auf ihre Brüste, ich drehte mir meiner Hand ihren Kopf zur Seite, ich drückte ihren Kopf auf den Boden, und dann kam ich. Ich stand auf und zog mich in meine Suite zurück. Ich fühlte mich stark und mächtig in meinem Rausch, und ich schlief gut in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen war sie nicht mehr da. Sie war nicht mit ihrem Boot gegangen, sie hatte nichts gestohlen, sie hatte alles, was ich ihr je geschenkt hatte, zurückgelassen. Sie war weg, und ich habe sie seither nicht mehr gesehen. Ich versuchte wieder, mein altes Leben aufzunehmen, die Feste, die Orgien, die Reisen, doch sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es wurde mir bewusst, dass ich sie liebe. Es wurde mir bewusst, dass ich einen schrecklichen Fehler gemacht habe, dass ich sie mir unterwerfen wollte, doch sie war anders, ich hätte sie nur lieben können, und hoffen, dass sie mich freiwillig wieder liebt. Sie ist die Frau, die mich glücklich gemacht hätte, wenn ich nur ein wenig anders gehandelt hätte, das fühle ich. Doch nun war alles verloren. Ich habe sie gedemütigt und verletzt, ich habe mich wie das Schwein benommen, das ich tatsächlich geworden war. Ich hatte mein Herz verloren.

Ich verfluchte den Ring, der mir dieses Unglück gebracht hatte, mit den Jahren war er regelrecht mit meiner Hand verwachsen, ich liess ihn von einem Silberschmied entfernen und warf ihn ins Meer. Er sollte nie wieder ein solches Unglück über einen Menschen bringen. Ich machte mich auf die Suche nach ihr, und seit mehr als zehn Jahren irre ich nun in der Welt umher und hoffe, sie irgendwo zu finden, damit ich sie um Verzeihung bitten kann. Und wenn ich das getan habe, werde ich mich in eine einsame Höhle zurückziehen, um dort zu sterben. Das ist das Einzige, das mir noch zu tun bleibt.“

Nachdenklich sass ich auf meinem Platz, nicht wissend, was ich sagen sollte. Die Geschichte erschien mir zu fantastisch, um wahr zu sein, und dennoch wollte ich nicht an seinen Worten zweifeln. Im Lautsprecher wurde ein Flug aufgerufen, und der Fremde erhob sich und verabschiedete sich von mir. Ich beobachtete ihn, wie er gemessen und ruhig in der Menge verschwand.

Ich sass da und hing meinen Gedanken nach. Ich hoffte für ihn, dass er seine Freundin fand. Ich hoffte, dass sie ihm verzeihen würde.

Ich realisierte, dass ich soeben meinen Flug verpasst hatte. Doch es war mir egal. Ich beschloss, dass es höchste Zeit sei, meine Stelle zu kündigen und ein neues Leben anzufangen.

 

Arme LaChatte,
da schreibst du so eine wundervolle Geschichte und keiner nimmt Notiz davon oder hinterläßt zumindest eine solche...
Vielleicht, weil sie zu makellos ist?
Und auch ich habe sie erst jetzt entdeckt.

Den letzten Satz halte ich übrigens für einen richtigen Geniestreich!

 

Oh, danke für das Kompliment!

Ich hab mich hier von dir inspirieren lassen, du machst dir schlussendlich selber Komplimente... tststs

Liebe Grüsse
Ta minette

 

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