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Der Riese
Acht Uhr zwanzig, ein junger Mann eilt durch die Strassen. Er ist zu einem äusserst wichtigen Termin verabredet und spät dran, doch ist dies heute nicht sein grösstes Ärgernis. Nämlich hatte besagter junger Mann diese Nacht einen Traum, welcher ihn nicht nur im Moment des Erwachens aufs Äusserste erschütterte, sondern ihn ferner nachhaltig in Missmut versetzte.
Der junge Mann hat diese Nacht von einem hässlichen, grauen Riesen geträumt, und dieser Riese sass mit baumelnden Beinen, auf den Knien aufgestützten Ellenbogen und sich wölbendem, verkrampftem Rücken am Ende der Welt.
Dass es das Ende der Welt war konnte der junge Mann nur vermuten, er stand schliesslich an Deck eines grossen Schiffes, das auf besagtes Ende zutrieb. An der Stelle, an der der junge Mann das Ende, beziehungsweise den Abgrund vermutete, hörte das Meer nämlich einfach auf. An Deck des Schiffes wimmelte es nur so von Matrosen und Schiffsjungen und allem möglichem Gesinde, und alle wuselten sie wie nervös durcheinander, schrien sich Befehle und Flüche zu und der junge Mann stand mittendrin. Er schien der einzige zu sein, der von dem grauen Riesen überhaupt Notiz nahm, die anderen schienen sich nicht für ihn zu interessieren. Der Riese selbst hatte, so schien es zumindest, das Schiff samt Insassen auch nicht bemerkt, er hatte noch nicht einmal den groben Kopf mit den filzig schwarzen Haarsträhnen gehoben, sondern starrte immerzu stoisch in den Abgrund. Der junge Mann kochte vor Ärger. Nicht über die wusligen Matrosen etwa, die gewiss jeden Ärger der Welt verdient hätten, sondern über den Riesen. Warum lag ihm nichts daran, das schreckliche Schicksal, das dem Schiff samt Matrosen und jungem Mann bevorstand, wenigstens eines Blickes zu würdigen? Was war der Grund dafür, dass er sie, falls er doch von ihnen Notitz genommen haben sollte, was der junge Mann mittlerweile fast schon glaubte, nicht umgehend zu retten versuchte? Die Kraft dafür hatte er ja gewiss, nur schien es ihm an Mut oder Empathie oder am Ende gar Verstand zu fehlen, um sie vor dem grauenhaften Abgrund zu retten. Was tust du keinen Wank?, fragte innerlich der junge Mann, und war sich dabei unsicher, ob er nun den Riesen oder sich selbst meinte.
Der Riese auf jeden Fall starrte noch immer in den Abgrund. Was sollte es dann da unten zu sehen geben? Ausser Dunkelheit und Nichts? Konnte es denn da unten etwas geben, das wichtiger, bedeutungsvoller war als die Rettung des jungen Mannes? Dabei wäre es dem Riesen doch bestimmt ein leichtes gewesen, alles was er zu tun brauchte war, die Hand auszustrecken... Was war denn bloss da unten, das den Riesen so dazu zwang, den Kopf immerzu gesenkt zu halten? Ich werde es wohl bald selber herausfinden, sagte der junge Mann sich in bitterem Spott. Das Schiff stand dem Abgrund nun schon bedeutend näher als zuvor, jeden Augenblick würde es sich aufbäumen um zu stürzen, denn der junge Mann konnte den Horizont näher und näher kommen sehen. Sie waren nun sogar so nah am Abrund, dass der junge Mann das Gesicht des Riesen, der ja am Abgrund sass, aus dem Profil sehen konnte, so gut er das Gesicht denn zwischen den filzigen Strähnen ausmachen konnte. Mit angehaltenem Atem sah der Mann also auf und das Grauen schnürte ihm die Kehle zu; der Riese starrte mit stumpfem Entsetzen in den Abgrund und -
weinte.
Der junge Mann konnte sich gerade noch fragen, was es denn dort unten gab, das den Riesen so abgrundtief erschüttern zu schien, das aber seinen Blick auch dermassen in den Bann zog, dass er, trotz aller offensichtlichen Qualen, seine Augen nicht abzuwenden vermochte, aber da kippte das Deck auch schon in Richtung Abgrund. Aus vollen Kehlen und in nackter Panik schrie die Crew durcheinander, hielt sich fest an Tauen und Masten und Hälsen, warum denn auch, fragte sich der junge Mann noch, denn das Schiff würde ja ohnehin mit ihnen allen in den Abgrund stürzen. In seinen letzten Augenblicken wandte der junge Mann nun seinen Blick vom weinenden Riesen hin zum horizontlosen Himmel, der nach untenhin dunkler wurde, denn er wollte doch noch sehen, was denn da unten auf ihn wartete -
Dann wachte er auf.
Dieser Traum, oder Albtraum, denn so konnte man ihn getrost nennen, wollte nun dem jungen Mann, der ohnehin schon zu spät für seinen Termin war, an diesem sonnigen Morgen nicht und wieder nicht aus dem Kopf gehen. Dabei waren seine Erinnerungen an den Traum nur verschwommen, nichts als schemenhafte Visionen, der junge Mann war sich nicht einmal sicher, wieviel von dem Traum er wirklich geträumt und wieviel er in den dem Schlaf folgenden Dämmerzuständen dazugedichtet hatte.
Dieser Umstand aber, der manche Menschen nicht weiter bekümmern mag, war unserem jungen Mann aber nun einmal ganz besonders zuwider. Schlimm genug, dass sein Unterbewusstsein ihm solche Visionen schickte, aber da konnte er ja nichts dafür, denn im Schlaf hatte man ja kaum die Kontrolle über sich, und das wiederum war nun ja wirklich nicht seine Schuld. Wenn solche Visionen jedoch in den Halbschlafzuständen, die dem Erwachen gewöhnlich folgten, nun aber auch noch unnötig ausgeschmückt wurde, war da auch sein Bewusstsein und damit er selbst beteiligt, es war also nicht der Fehler eines etwaigen seinem Geist, beziehungsweise seinem Verstand, untergeortneten Gefühls- oder Triebwuchses, sondern schuldig war, zumindest teilweise, er selbst, also sein eigentliches, wahres Ich. Dass er dann aber auch noch, als er wirklich wach und somit bei vollkommenem Bewusstsein, ständig über jene Traumbilder nachgrübelte, und sie somit noch weiter stärkte und auf immer höhere Bedeutungsebenen erhob -
das war der Gipfel.
Solches und oder ähnliches ging dem jungen Mann durch den Kopf, als er in die Strassenbahn einstieg. Sein Terminpartner war übrigens über die Verspätung zwar keineswegs erfreut, mass ihr aber zur Erleichterung des jungen Mannes auch keine überflüssige Bedeutung bei. Als der junge Mann dann nach seinem Termin erschöpft und missmutig nach Hause kam, bemerkte er bald, dass er eine erhöhte Temperatur und somit also Fieber hatte, der Traum und sein angeschlagener Nervenzustand waren also nicht einmal die Gespinste seines gesunden Geistes, sondern liessen sich zumindest zum Teil, wenn nicht sogar ganz auf seinen Infekt zurückführen. Erleichtert zog der junge Mann sich also den Anzug und die Anzugshosen aus, schlüpfte in seine warmen Hausschuhe, liess sich von der Haushälterin einen warmen Tee aufgiessen und zündete sich genüsslich eine Zigarre an. Seinem Arbeitsgeber gab der junge Mann nun guten Gewissens telephonisch zu verstehen, dass er morgen wohl aufgrund von Krankheit nicht zur Arbeit kommen könne. Der Arbeitsgeber bemerkte sofort die müde und erschöpfte Stimme des jungen Mannes, und da er ein rechter Patron war zeigte er viel Verständnis und wünschte seinem Angestellten eine gute Genesung. Dieser dankte und wartete, bis sein Vorgesetzter aufgelegt hatte. Dann atmete er ehrlich erleichtert auf und dankte Gott im Himmel, einen derart verständigen und umgänglichen Arbeitsgeber zu haben. Er lehnte sich in seinem weichen Satin-Sessel zurück, schloss die Augen und gähnte wohlig. Die Gefahr war gebannt, er fühlte förmlich, wie seine Gesundung voranschritt, bald wäre er wieder ganz der Alte. Bald wäre wieder alles beim Alten.